Vedana
oder: der Buddha als Computer-Experte


Heute möchte ich euch wieder eines der zwölf nidanas, eines der zwölf Kettenglieder des Bedingten Entstehens vorstellen, nämlich das siebte, vedana. Ihr merkt schon, wir gehen nicht ganz der Reihenfolge nach vor, sondern so, wie ich es für zweckmäßig halte.

Wir erinnern uns, dieser hier dargestellte Kreis der zwölf nidanas ist nur ein Ausschnitt aus dem bhava cakra, dem Lebensrad, jenem komplexen Bild, das ihr hier unten seht und das die buddhistische Sicht der Welt darstellt (vgl. Abb. 1).  Die Bedeutung dieses Bildes erschließt sich uns jedoch nur durch Erläuterung. Wenn ihr eine systematische Einführung in die buddhistische Weltsicht anhand dieses Bildes haben wollt, dann empfehle ich euch meinen Kurs „Das tibetische Lebensrad“.

Der äußere Kreis dieses Lebensrades ist also hier an der Wand in groß dargestellt (Abb. 2). Wir können daran erlernen, wie wir zu all den falschen Entscheidungen kommen, die uns im Hamsterrad des Lebens gefangen halten und uns Leid verursachen – und auch, wie wir dem entkommen können. Und um die Chance zu haben, diesem Entrinnen ein klein wenig näher zu kommen, gebe ich euch heute den Vortrag über die vedana und werde euch zum Abschluss auch eine kleine praktische Übung mit auf den Weg geben, die dabei hilft, einen ersten kleinen, aber entscheidenden Schritt aus dem Hamsterrad des Alltags heraus zu machen, den Schritt vom reaktiven zum kreativen Verhalten.

Zunächst sollte ich euch aber vielleicht sagen, was der Begriff vedana, der wie alle anderen Begriffe an den Wänden dieses Meditationsraums aus der altindischen Sprache Pali stammt, auf deutsch heißt. Der Grund, dass diese Begriffe hier in pali und nicht in deutsch stehen, liegt ganz einfach daran, dass diese Pali-Ausdrücke mitunter keine genaue Entsprechung im Deutschen haben, und dass eine Übersetzung daher nur allzu leicht in die Irre führt. Die übliche Übersetzung von vedana ist Gefühle. Aber – Vorsicht! – diese Übersetzung ist geeignet, uns auf eine völlig falsche Fährte zu bringen, denn wenn ich euch auffordere: „Nennt mir Gefühle!“, dann würdet ihr sicher solche Begriffe wie Liebe, Abneigung, Trauer oder Heimweh nennen. Das ist aber nicht gemeint.

Die richtigere Übersetzung wäre ganz sicher Empfindung. Wenn ich euch beispielsweise fragen würde, wie empfindet ihr denn das Bild, das ihr im Feld Nr. 7, vedana, abgebildet seht, dann wäre die vermutliche Antwort so etwas wie „unangenehm, schmerzhaft, leidvoll“. Es wäre also eine Bewertung auf einer Skala, die an einem Ende „überaus positiv“ und am anderen Ende „extrem negativ“ und irgendwo dazwischen „neutral“ hätte. Und genau das ist mit vedana gemeint, eine Bewertung auf einer Empfindungsskala. Und es ist sogar noch einfacher: wir müssen gar nicht den Grad der Positivität oder Negativität abschätzen, es langt ganz einfach, dass wir drei Merkmalsausprägungen von vedana erkennen: positiv oder angenehm, negativ oder unangenehm und neutral. Damit sind wir schon einen wichtigen Schritt weiter: wir wissen jetzt was die vedana sind.

Viel wichtiger ist natürlich, wozu wir eigentlich das Ganze wissen müssen, denn wir wollen schließlich keinen Studienkurs in Altindisch machen, sondern ihr könnt zu recht erwarten, dass das, was ich euch hier vortrage, das, was der Buddha gelehrt hat, nur ein einziges wichtiges Ziel hat: euch Lebenshilfe zu geben. Und um dahin zu kommen, müssen wir uns die Stellung von vedana im paticca samuppada, im Bedingten Entstehen, in dem, was uns dieser Kreis zeigen will, verstehen. Daher werden wir uns kurz die Nachbarglieder von vedana ansehen, nämlich die beiden vorhergehenden und die beiden nachfolgenden, also die Nummern 5 bis 9 unserer nidana.

Bild 5 zeigt salayatana, das heißt übersetzt die „sechs Grundlagen“, eine Übersetzung, die auch nur mäßig geeignet ist, uns weiter zu helfen. Wir sehen in dieser Abbildung ein Haus mit fünf Fenstern und einer Tür. Das steht für unsere Sinnesorgane. Wir können uns als Eselsbrücke merken, dass man bei einem Haus zum Fenster heraussehen kann, also ist „Sehen“ die eine Grundlage. Die anderen Fenster stehen dann eben für unsere anderen Sinne: Hören, Schmecken, Riechen und Tasten. Die sechste Grundlage ist etwas anders, deshalb ist eine etwas andere Öffnung als ein Fenster im Haus, nämlich eine Tür. Die sechste Grundlage ist Denken.

Wenn wir unseren Körper also mit einem Computer vergleichen, so will uns der Buddha hier sagen, dann haben wir fünf verschiedene Eingabeeinheiten, eben die fünf Sinne und schließlich – ganz entscheidend für jeden Computer – die CPU, die central processing unit, die Zentraleinheit, dort wo alle Daten verarbeitet werden. Der Buddha hat also unsere sinnliche Wahrnehmung genau so systematisch aufgegliedert, wie wir das aus dem EDV-Unterricht kennen. Eine solch analytische Herangehensweise ist typisch für den Buddha. Und wenn wir mal gedanklich vom Computer wieder weggehen und uns unseren bescheidenen Meditationserfahrungen zuwenden, so sehen wir das, was uns alle stören kann, Sinneneindrücke wie Hören von Geräuschen oder Fühlen von Schmerzen im Bein und - ganz wichtig, für die meisten Menschen ist in der Meditation das entscheidende Hindernis: das Denken. Dauernd kommt uns ein Gedanke, wo wir doch eigentlich den Atem betrachten wollten. Eben deshalb gehört Denken auch zu den sechs Grundlagen. Soweit zum Bild 5, salayatana, unserem Sinnenapparat.

Nun also zum Bild 6, phassa, hier dargestellt durch den physischen Kontakt von zwei Menschen, und tatsächlich heißt phassa „Kontakt“. (Hier habe ich abwechslungsweise an der Übersetzung einmal nichts auszusetzen.) Und ich denke das ist auch inhaltlich klar: wir haben unseren Sinnenapparat, folglich kommen unsere Sinnesorgane mit irgendetwas in Kontakt. Und wenn wir uns das Bild zu dem Kezzenglied phassa einmal genau ansehen und uns dabei daran erinnern, was ich zuvor über vedana gesagt habe, können wir davon ausgehen, dass das entsprechende vedanabei diese beiden sich küssenden Leuten die Merkmalsausprägung „angenehm“ haben würde.

Und damit können wir feststellen: in Abhängigkeit von phassa, von Kontakt, tritt sofort, unweigerlich ein vedana auf. Das geschieht, weil wir eben keine Computer sind, weil wir eine emotionale Seite haben, und das ist auch gut so, und daher folgt jedem Kontakt unweigerlich eine Empfindung, diese kann positiv, negativ oder neutral sein, womit wir wieder bei Bild 7, vedana, angelangt sind.

Sehen wir uns nun an, was in Abhängigkeit von vedana geschieht. In Abhängigkeit von vedana entsteht das, was in pali tanha und auf sanskrit trsna heißt, Verlangen, wörtlich Durst, und konsequenterweise erscheint auf dem nächsten Bild ein Biertrinker. Mit tanha, mit Durst, ist hier also eine bestimmte Art von Durst gemeint, nicht etwa die Art, die uns auf einer sommerlichen Wanderung in den Bergen dazu veranlasst unseren Rucksack zu öffnen und die Wasserflasche herauszuholen, sondern jene Art von Durst, die uns veranlasst, uns nach dem zweiten Bier noch ein drittes zu bestellen: Verlangen, Habenwollen, Gier, Unersättlichkeit.

In allen traditionellen Darstellungen sieht man an dieser Stelle immer eine Frau, die einem sitzenden Mann ein Getränk serviert, in der Regel ein Bier. Die schönste Darstellung dieses Bildes habe ich in unserem Retreatzentrum Padmaloka in Norfolk, U.K., gesehen. Da sitzt an einem heißen Tag ein feister alter Knacker, also ungefähr so ein Typ wie ich, in der Badehose im Strandbad unter einem Sonnenschirm und eine hübsche junge Frau im Bikini serviert ihm ein kühles Bier. Da kann man sich richtig vorstellen, wie da in mehrfacher Hinsicht Verlangen aufkommt.

Und schließlich noch zu Bild 9: in Abhängigkeit von tanha entsteht upadana und das wird mit „Anhaftung“ übersetzt. Unser Bild zeigt aber deutlicher als diese Übersetzung, was mit upadana gemeint ist, nämlich zweierlei, einerseits Ergreifen, symbolisiert durch die nach den Früchten ausgestreckte Hand, und andererseits auch durch das Besitzen-Wollen, das Nicht-Mehr-Loslassen-Wollen, das Festhalten, eben durch Anhaftung, symbolisiert durch den Korb, in den die Frau diese Früchte legt.

Nun stellt sich die interessante Frage, warum ist das eigentlich alles so. Und auch das hat der große Computertechniker Buddha herausgefunden. In uns läuft nämlich ein ganz bestimmtes Programm ab. Und er hat auch herausgefunden, dass wir falsch programmiert sind, und warum wir falsch programmiert sind.

Was hier abläuft ist offensichtlich ein ganz einfaches Reiz-Reaktions-Schema. Durch Kontakt entsteht eine Empfindung, im Falle positiver Empfindung entsteht Verlangen (im Fall negativer Empfindung übrigens Abneigung, Ablehnung oder sogar Hass) und in Abhängigkeit von Verlangen entsteht Ergreifen und Festhalten. Das ist ein typisches triebgesteuertes Verhalten, wie es für eine bestimmte evolutionäre Entwicklungsstufe angemessen ist, die Entwicklungsstufe des Tieres. Tiere funktionieren so, das weiß jeder, der schon einmal Tiere bewusst beobachtet hat. Und das ist auch gut so – auf der Entwicklungsstufe des Tieres, versteht sich, denn es sichert die Erhaltung der Art, das Überleben und damit die Chance, die evolutionäre Entwicklung voranzutreiben.

Da der Mensch seinem Wesen nach mit mindestens einem Bein im Tierreich steht, funktioniert das auch bei uns Zweibeinern so. Aber zu einem wahren Menschen wird man erst, wenn man sich von dieser Triebsteuerung emanzipiert hat, wenn man den Schritt vom homo erectus zum homo sapiens gemacht hat, den Schritt vom Zweibeiner zum weisen Menschen. Hierzu dient die Kultur. Auf der ersten Stufe der Kultur werden Tabus entwickelt. Auf dieser Stufe sind wir alle schon. Wenn uns die hübsche junge Frau im Bikini ein kühles Bier serviert, greifen wir nur zum Bier und tatschen nicht auch die Frau an, das ist tabu. Das ist ein erster kultureller Schritt, den unsere traditionelle Kultur uns gibt, den nächsten kulturellen Schritt zeigt der Buddha uns auf: bei jedem vedana, bei jeder Empfindung, halte inne, handle nicht triebgesteuert, nicht reaktiv, sondern handle mit Weisheit und Mitgefühl, handle bewusst, handle kreativ. Und wenn man konsequent so handelt, dann hat man begonnen, den Pfad der Höheren Evolution zu betreten, den Weg der uns eine Evolutionsstufe weiterbringt, den Pfad von der Evolutionsstufe des Menschen zu der des Buddha.

Und das ist der Grund, warum hier in unserem Bild an der Wand zwischen zwei Kettengliedern, zwischen den nidanas 7 und 8, eine Lücke ist: das Innehalten, das Nichtreagieren. Und genau hier, an dieser Lücke, beginnt der Pfad der Höheren Evolution, der hier in gelb dargestellt ist. Wir müssen uns nicht unablässig weiter im Hamsterrad von samsara, im Hamsterrad der instinktgesteuerten Wesen drehen, wir können aussteigen, wir können den Pfad der Höheren Evolution gehen! Der Buddha war ein Mensch, so wie wir Menschen sind. Was der Buddha überwunden hat, das können auch wir überwinden. Was der Buddha erreicht hat, das können auch wir erreichen: Vollkommenheit, Erleuchtung, Nirvana, Buddhaschaft.

Und genau das ist es, was ich hier anbiete: probier es aus, geh mal probeweise ein Stück des Weges. Du musst dich deshalb nicht gleich Buddhist oder Buddhistin nennen. Du kannst bleiben, was Du willst, Christ, Moslem, Jude, Atheist, Kommunist, völlig egal – aber, wenn Du Lust hast, probier ein Stückchen das Pfades aus. Der Weg führt übrigens von der hier angegebenen Nummer 13, dukkha, Leiden oder Unvollkommenheit, zu Nummer 24, und die liegt bereits im Bereich der Buddhaschaft, dann könntest du dort bei Punkt 24 zwischen den anderen Buddhas aller Hautfarben Platz nehmen.

Und nun komme ich zu der Übung, die ich euch versprochen habe. Die vielleicht bekannteste Lehrrede des Buddha aus dem Pali-Kanon, der Sammlung der klassischen buddhistischen Schriften, ist das Satipatthana-Sutta, zu deutsch die Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit. Es werden hierin insgesamt vier Grundlagen der Achtsamkeit, deren Übung zur Vollkommenheit, zur Buddhaschaft, führt, erläutert. Es sind – nach der traditionellen Übersetzung - die Achtsamkeit auf den Körper, auf die Gefühle, auf den Geist und auf die Geistobjekte.

Eine Übung aus der ersten Gruppe der kayanupassana, der Betrachtung des Körpers, kennen wir bereits alle, es sind die Vergegenwärtigungen des Atems, die wir hier alle zwei Wochen gemeinsam üben können. Ich möchte euch jetzt eine Übung aus der zweiten Gruppe der sog. „Betrachtung der Gefühle“, auf pali der Betrachtung der vedana, der vedana-nupassana, vorstellen, und euch anheim stellen, sie zu üben. Dazu müsst ihr euch auch nicht die Beine verknoten.

Macht einen Spaziergang, haltet dabei eure Sinnesorgane - die salayatana, dargestellt in Bild 5 - offen. Ihr kommt unweigerlich zu phassa, zu Sinneneindrücken. Das können Sinneneindrücke des Sehens, des Hörens, des Tastsinnes, des Riechens, des Schmeckens oder des Denkens sein. Und nun betrachtet die vedana, die dabei aufkommen. Also:

  • bellender Köter – unangenehm,
  • blühende Blume – angenehm,
  • junge Person – angenehm,
  • parkendes Auto – neutral.
  • Betrachtet nur die vedana, versucht nicht mit Abneigung oder Verlangen zu reagieren, betrachtet einfach analytisch die vedana. Wenn wir das sehr häufig auf Spaziergängen geübt haben, entwickelt sich ein gewohnheitsmäßiges Muster, der eigenen vedana Gewahr zu sein, und eben das ist die Grundvoraussetzung dafür, bewusst nicht reaktiv, sondern kreativ zu handeln, also die Weggabelung überhaupt wahrzunehmen, wo der Pfad zur Vollkommenheit, zur Buddhaschaft, von der Autobahn des samsara, des Hamsterrads, abzweigt, wo der Pfad der Höheren Evolution beginnt.

    Und das gibt euch die Freiheit zu entscheiden, welchen Weg ihr einschlagen wollt.

    Denn -  wie hat der Buddha so schön gesagt: "Wie der ganze weite Ozean nur einen einzigen Geschmack hat, den Geschmack des Salzes, so hat auch meine Lehre nur einen einzigen Geschmack, den Geschmack von Freiheit."


                    © Copyright 2011 by Horst Gunkel, Gelnhausen
    .
                    Zu Meditation am Obermarkt
    .
                    Zurück zu den Artikeln und Vorträgen
    .
                    Zu den Audio-Vorträgen