Der unsichtbare Lotus
Vortragsreihe „Inspirationsbaum“, Teil XXXII
von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt,
zuletzt geändert am 09. Oktober 2019


Seit nunmehr einem Jahr erzähle ich hier jeden Donnerstag etwas über die Personen auf dem Inspirationsbaum. Manche dieser Leute sind Menschen gewesen, also historische Personen, der Buddha zum Beispiel, über den ich bei meinem ersten Vortrag sprach, oder Vasubandhu, von dem ich letzte Woche berichtete. Daneben gab es Wesen, die keine historischen Personen sind, sondern bestimmte Kräfte oder Eigenschaften symbolisieren, Manjusri mit dem flammenden Schwert etwa, der für Weisheit steht, oder die Grüne Tara, die tätiges Mitgefühl symbolisiert.

 
Und dieser Inspirationsbaum, der ja eine große Lotuspflanze darstellt, ist so aufgebaut, das auf seinem mittleren Hauptstamm die wichtigste Person für unsere Inspiration steht, nämlich der Buddha. Um diesen zentralen Lotus auf dem Hauptstamm herum gruppieren sich symetrisch in Form eines dreidimensionalen Mandalas vier weitere Lotosblüten. Auf dem von uns aus gesehen rechten Lotus befinden sich fünf Arahats, historischen Personen, die Jünger oder Jüngerin des Buddha waren, sie stehen für die eine der beiden Hauptrichtungen des Buddhismus, für das Theravada. Auf dem von uns aus gesehen linken finden wir fünf Bodhisattvas, neben den schon genannten Manjusri und Tara sind das Avalokiteshvara, Vajrapani und Ksitigarbha. Auf dem vorderen Lotos sehen wir die sogenannten Lehrer der Gegenwart, neun buddhistische Lehrer, die im 20. Jahrhundert lehrten und von denen noch (Stand: 2013) zwei leben, nämlich Sangharakshita, der Gründer der buddhistischen Gemeinschaft Triratna, in dessen Tradition Meditation am Obermarkt steht, und der inzwischen 100jährige Chettul Sanghje Dorje.
 
Bleibt noch ein Lotus der vierte, und der befindet sich von uns aus betrachtet hinter dem Buddha, der ja das ganze Bild dominiert. Daher können wir das gar nicht so richtig erkennen. Das liegt jetzt aber keineswegs an der Unzulänglichkeit dessen, der sich diesen Inspirationsbaum ausgedacht hat oder des Künstlers, der dies in ein Bild umgesetzt hat, nein, es liegt vielmehr daran, dass wir alles, was darauf ist, implizit sehen können.
 
Der Buddha hat gesagt: „Seht ihr mich, so seht ihr die Lehre und seht ihr die Lehre, so seht ihr mich.“ Und tatsächlich ist das, was dort hinter dem Buddha halbwegs versteckt wird, die Lehre, dargestellt durch zahlreiche Bücher, die man hinter dem Buddha aufragen sieht. Sehen wir den Buddha, so sehen wir letztendlich nicht eine historische Person vor uns, jemanden, den wir als Person unabhängig von seiner Lehre und von seinem Handeln schätzen, sondern eben die Person, die das gelehrt hat, was der Buddha gelehrt hat. Und der Buddha hat seine Lehre schließlich auch selbst gelebt. 
 
Und wenn wir heute den Inspirationsbaum mit dem Buddha und all den anderen inspirierenden Wesen ansehen, dann tun wir das, um die Lehre besser verstehen und praktizieren zu können, denn diese Lehre führt mittelfristig zu Glück und Zufriedenheit und langfristig zu Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind, zu Unverblendung, zu höchster Weisheit, zu Nirwana, Vollkommenheit.
 
Stellvertretend für die ganze Lehre ist also gewissermaßen der Buddha auf diesem Bild zu sehen und bis zu einem gewissen Grade auch alle die anderen inspirierenden Personen. Wir können und wir sollen uns von diesen inspirieren lassen. Genau das ist der Zweck des Inspirationsbaumes. Aber Inspiration allein genügt natürlich nicht, es langt nicht, wenn wir den Pfad, den der Buddha entdeckt hat, den der Buddha gegangen ist, den Pfad, der zu Glück und Erleuchtung führt toll finden. Nein, wenn wir dieses Glückes, dieser Freude, dieser Unverblendung, dieser Vollkommenheit sukzessive immer näher kommen wollen, dann müssen wir den Pfad auch gehen. Und um den Pfad zu gehen, brauchen wir eine Landkarte, brauchen wir ein Navigationssystem. Und das ist das, was der Buddha und diese vielen Lehrer auf dem Inspirationsbaum gemacht haben: sie haben Landkarten entworfen, sie haben den Pfad beschrieben, damit er für andere gangbar ist, sie haben ein Navigationssystem geschaffen. Und dieses Navigationssystem, diese Übungsempfehlungen, die finden wir in den Büchern.
 
Vor einem Missverständnis muss ich euch allerdings warnen. Diese Bücher sind alle keine „heiligen Schriften“ wie die Schriften der prophetischen Religionen. Die Bibel, der Koran, der Talmud sind für strenggläubige Christen, Moslems bzw. Juden deswegen „heilig“, weil sie ihrer Meinung nach das authentische Wort Gottes enthalten. Diese Schriften sind nach der orthodoxen Auslegung dieser Religionen nicht von Menschen gemacht. Strenggläubige Moslems glauben, Gott habe dem Propheten den Koran Wort für Wort diktiert. Ähnliches gilt auch für strenggläubige Christen und Juden. Zum Glück gibt es inzwischen in allen diesen drei Religionen auch liberale Anhänger, die sehen, dass diese Schriften von Menschen gemacht und daher nicht unfehlbar sind. Sicher waren die Autoren der sog. hl. Schriften besonders inspirierte Menschen, aber sie waren eben nicht unfehlbar.
 
Wenn man diese Schriften aber für das Wort Gottes hält, dann führt das zwangsläufig zu Intoleranz. Ein bekanntes Beispiel ist die Tatsache, dass die katholische Kirche lange versucht hat, das heliozentrische Weltbild zu leugnen: nicht die Erde drehe sich um die Sonne, so behauptete sie, sondern die Sonne müsse sich um die Erde drehen. Denn, so die ultralogische Argumentation „es stehe ja geschrieben“, dass der Herr befahl: „Die Sonne stehe still über Jericho.“ Und so geschah es laut Bibel: die Sonne stand still, es wurde nicht dunkel und das Kriegsglück konnte sich so zugunsten des Volkes Israel, dessen Kriegsgott Jahwe war, wenden.
 
„Es steht geschrieben“ ist ein Totschlagargument. Wenn etwas „geschrieben steht“, nämlich in einer heiligen Schrift, dann muss es wahr sein, so glauben verblendete Anhänger einer Schriftreligion. Und ich muss euch sagen, dass ich solche verblendeten Anhänger von Schriftreligionen zur Genüge getroffen habe, besonders viele in linken Zirkeln vor etwa vierzig Jahren. „In den MEW (Marx-Engels-Werke) Band 23, sagt Karl Marx ganz eindeutig:...“ und dann kam irgendetwas, das nicht mehr hinterfragt werden durfte, weil es ja Gottvater Marx, der olle Rauschebart, so verkündet hatte.
 
Und um es auch ganz klar zu sagen: Wenn jemand auf diese Weise mit einer buddhistischen Schrift umgeht, dann ist es genau so großer Humbug. Das heißt nun im Umkehrschluss nicht etwa, dass wir diese Schriften lesen sollen und uns das heraussuchen sollen, was uns gerade in den Kram passt und dass wir den Rest verwerfen können. Das wäre das andere Extrem. Nein, auch hier gilt der mittlere Weg. Wenn etwas in anerkannten buddhistischen Schriften steht, wenn es Buddhisten lange Zeit hilfreich genutzt haben, dann kann man davon ausgehen, dass es hilfreich ist. Wichtig ist es, diese Handlunsgsempfehlungen sehr wohlwollend zu prüfen und dann anzunehmen. Wenn man Zweifel hat, auch dann soll man sie nicht verwerfen, denn die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass ich mich täusche und nicht der buddhistische Lehrer. Dann bin ich gut beraten, andere, Weise, zu befragen. Das ist übrigens die Vorgehensweise, die der Buddha im Kalamer Sutta empfiehlt:
»Geht, Kālāmer, nicht nach Hörensagen, nicht nach Überlieferungen, nicht nach Tagesmeinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen und logischen Schlüssen, nicht nach erdachten Theorien und bevorzugten Meinungen, nicht nach dem Eindruck persönlicher Vorzüge, nicht nach der Autorität eines Meisters! Wenn ihr aber, Kālāmer, selber erkennt: 'Diese Dinge sind heilsam, sind untadelig, werden von den Verständigen gepriesen, und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Segen und Wohl', dann, o Kālāmer, möget ihr sie euch zu eigen machen.“

Der Buddha empfiehlt also zur Prüfung von Lehren eine doppelte Methode: gründliche Reflexion, ob dies hilfreich ist und das Einholen des Rates Verständiger.

So also sollten wir mit den Schriften, den Büchern umgehen. Was aber sind das nun eigentlich für Schriften? Nun bei Triratna gehen wir im Prinzip von vier Gruppen von Schriften aus, denn wir sehen uns nicht allein in der Tradition einer der drei buddhistischen Hauptrichtungen, daher gehören zu diesen Büchern
• Die Bücher des Theravada
• Die Bücher des Mahayana
• Die Bücher des Vajrayana
• Unsere eigenen Schriften


Zu den Büchern des Theravada gehört als grundlegendstes Werk der Pali-Kanon, bestehend aus dem Dreikorb (Tipitaka), weil ursprünglich, also beim ersten buddhistischen Konzil kurz nach dem Tod des Buddha, die Titel der einzelnen Schriften auf Palmblätter geschrieben waren und in drei Körben gesammelt wurden.

Der erste Korb enthält den vinaya, das sind die Ordensregeln, die das Verhalten von Mönchen und Nonnen regeln sollten. Der enthält jedoch sehr viel über die Hintergründe, warum diese Regelnerlassen wurden und ist daher für uns von keineswegs ohne Bedeutung. Der zweite Korb enthält die Lehrreden des Buddha. Der Buddha ist 45 Jahre lehrend durch Indien gezogen und hat dabei sehr viele Anweisungen gegeben, entsprechend umfangreich ist diese Sammlung, die im Einzelnen besteht aus

• (DN) Digha-Nikaya − Längere Lehrreden 
• (MN) Majjhima-Nikaya − Mittlere Lehrreden 
• (SN) Samyutta-Nikaya − Gruppierte Lehrreden 
• (A) Anguttara-Nikaya − Angereihte Lehrreden 
• Khuddaka-Nikaya − Kurze Texte


Es ist absolut nicht sinnvoll, diese Texte zu lesen wie ein Roman, dafür sind sie zu gehaltvoll, teilweise auch von der
Sprache her zu fern für uns. Außerdem ist nicht alles, was der Buddha bei unterschiedlichen Gelegenheiten, z. B. zu einer trauernden Bauersfrau oder zu einem Anhänger eines bei uns völlig unbekannten Kultes gesagt hat, für uns gleich wichtig. Ich empfehle aber allen ernsthaft Praktizierenden, einige grundlegende Abschnitte aus dem Pali-Kanon zu lesen, sinnwollerweise um sie mit anderen, Verständigen, zu diskutieren. Viele avon finden sich auch in einer zeitgemäßeren spreachlichen Fassung auf unseren Inrenetseiten. Im Theravada gilt – wie ich finde mit Fug und Recht – das satipatthana sutta, die Lehrrede von den Vier Grundlagen der Achtsamkeit, als einer der wichtigsten Abschnitte des Pali-Kanon. Ich biete daher für alle ernsthaft Interessierten Kurs über diese Lehrrede an. Wer sich also an die wohl authentischen Worte des Buddha heranwagen möchte, ist gut beraten, diesen Kurs zu belegen. Der dritte Korb des Tipitaka ist dann der Abhidharma, das sind sog. „Höhere Lehren“, man kann es als philosophische Abhandlungen verstehen.

Soweit zu den Schriften des Theravada. Das Mahayana hat eigene Sutras, die meist ab etwa 500 Jahre nach Buddhas Lebzeiten entstanden und diesem in den Mund gelegt wurden, ein Verfahren das durchaus legitim ist. Denn der Buddha selbst hatte auf die Frage der Mahaprajapati Gotami, was denn seine Lehre sei, geantwortet: „Alles was zu Gier, Hass und Verblendung führt, das ist nicht meine Lehre, aber alles, was zu Großzügigkeit, Liebe und Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind, führt, das ist meine Lehre.“

Und selbstverständlich war es in anderen Ländern, bei anderen Völkern und in einer anderen Zeit notwendig, die Lehre der Zeit, den Menschen und den Ländern entsprechend zu verpacken, solange der Kern nicht angetastet wurde. Es gibt sehr viele sehr schillernd bunte und fantastisch wirkende Mahayana-Sutras. Auch hier gilt, dass das bloße Durchlesen eines solchen Sutras nicht besonders hilfreich ist. Daher habe ich vor bei Interesse daran im nächsten Jahr eines dieser Sutras zu lesen, nämlich einer Variante eines der beiden Sutras, von denen wir letzte Woche im Zusammenhang mit der Bekehrung Vasubandhus zum Mahayana hörten, nämlich dem Vimalakirti-Sutra.

Auch das Vajrayana, also jene buddhistische Richtung, die wir am ehesten mit Tibet verbinden, hat eigene Schriften, die sich jedoch noch deutlich schwieriger erschließen. Ich habe vor, für die Erfahreneren unter euch, also diejenigen, die schon drei Kurse absolviert haben, im nächsten Jahr das vom Titel her bekannteste dieser Werke zu studieren, das sog. tibetische Totenbuch.

Und was kann man wirklich alleine lesen? Was soll man denn an buddhistischen Werken studieren, wenn man sich selbst weiterbilden will? Nun ich denke, und damit stehe ich bei Triratna nicht allein, das für unsere Zeit die geeignetsten Werke diejenigen sind, die wir bei Triratna veröffentlichen. Natürlich gibt es auch in anderen buddhistischen Schulen sehr gute Bücher. Von den bekanntesten Lehrern außerhalb des Triratna-Ordens kann ich die Bücher des Dalai Lama ebenso empfehlen wie die von Ayya Khema, Thich Nhat Hanh und Yongey Mingyur Rinpoche.

Dennoch halt ich für das beste, geschlossene und übersichtlichste buddhistische System, das, was wir bei Triratna haben. Der Verlag do-evolution veröffentlicht in deutscher Sprache die wichtigsten Werke für erfolgreiches Praktizieren im Rahmen von Triratna. Wir haben alle verfügbaren Titel dieses Verlages  vorrätig aber auch Titel aus einigen anderen Verlagen, wenn ich davon überzeugt bin, dass diese nützlich sind. Außerdem können alle unsere regelmäßigen BesucherInnen bei uns auch Bücher ausleihen. Viele Schriften dieser Schriften findet man auch im Internet, z.B. über den Link Triratna Studienmaterial auf unserer Homepage.  Am effektivsten ist es jedoch, nach dem Lesen über die Inhalte zu reflektieren, und zwar am besten nicht nur allein, sondern auch mit anderen. Das entspricht übrigens genau der Anweisung des Buddha, wie man an Texte herangehen soll, nämlich in einem Dreischritt: Hören – Reflektieren – Meditieren. Und genau das ist der Titel unserer Reihe von Studienkursen hier bei Meditation am Obermarkt.

Hier hören bzw. lesen wir die Lehre, wir reflektieren allein darüber, wir reflektieren in einer Gruppe darüber und wir meditieren auch, damit das Reflektieren die nötige Verankerung in uns findet.

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