Samadhi

Samadhi wird in Ermangelung eines besseren Wortes im Deutschen meist mit „Meditation“ übersetzt. Das stimmte aber so nicht ganz, denn samadhi ist wesentlich besser, wesentlich vollkommener, wesentlich tiefgründiger als das, was wir hier donnerstags am Offenen Meditationsabend machen und auch wesentlich tiefgründiger als das, was irgendwo sonst in diesem Land gemeinhin als „Meditation“ angeboten wird. Und so könnte man mir zu Recht die Frage stellen: „Horst, warum unterrichtest Du hier Meditation und nicht samadhi? Kannst Du das nicht, willst Du das nicht? Oder was?“

Der Grund hierfür ist einfach: um samadhi zu erleben, muss man besser vorbereitet sein als 99,9 % aller Leute, die sich der Meditation zuwenden. Sehen wir uns das dharma cakra, das Rad der Lehre, an, es befindet sich hinter euch an der Wand. Das dharma cakra stellt den Edlen Achtfachen Pfad dar, die bekannteste Beschreibung des Pfades, den der Buddha gelehrt hat. Es beginnt mit samma ditthi, das ist eine Richtige Vision, einer erste Gewissheit, dass der Pfad, den der Buddha gelehrt hat, nicht nur hilfreich ist, sondern dass er zur Erleuchtung führt, dass er uns eine Evolutionsstufe weiter bringen kann, dass er uns von der Evolutionsstufe des Menschen weiterführt, hin zu Buddhaschaft, zu Vollkommenheit, zur Erlösung, ins nibbana. Und diese erste Vision setzt schon einmal eine ganze Menge voraus. Ich bin der festen Überzeugung, dass die weitaus meisten Menschen, die hierher kommen, diese Gewissheit nicht haben, diese Vision nicht teilen. Und das ist erst der erste Schritt, es folgen sechs weitere Pfadglieder, bevor schließlich als achtes, als letztes, samma samadhi, Rechte Meditation, auftritt, Meditation im eigentlichen Sinne.

Oder sehen wir uns den zwölfstufigen Pfad zur Erleuchtung an, eine andere Darstellung des Pfades, die hier an der Wand hinter mir angemalt und mit den Ziffern 13 bis 24 gekennzeichnet ist. Samadhi hat die Nummer 19 und steht damit direkt vor Punkt 20, dem Stromeintritt, den man auch als erste Stufe der Heiligkeit bezeichnen kann. Also ein sehr, sehr weit fortgeschrittenes Stadium. Über die Pfadglieder mit den Nummern 13 bis 18 habe ich hier in den vergangenen Wochen bereits gesprochen, daher nur ganz kurz zur Erinnerung.

  • Punkt 13 ist dukkha, Einsicht in die Unvollkommenheit. Hier sollte man zumindest intellektuell erkannt haben, das kein weltliches Streben zu vollkommenem Glück führen kann, weil alles Weltliche letztlich vergänglich ist und damit ohne festen Wesenskern.
  • Punkt 14, saddha, setzt tiefes Vertrauen in den Buddha und die Lehre voraus, erinnert also an die erste Speiche des dharma cakra, von der ich vorhin sprach, an Vollkommene Vision.
  • Punkt 15 und 16 sind die ersten beiden Stufen der Freude darüber, den Pfad zur Erleuchtung zu beschreiten, wobei pamojja wirklich Freude heißt und piti die Begeisterung, die überschäumende Freude, ja geradezu die Ekstase darob ist.
  • Bei Punkt 17, passadhi, hat sich diese überschäumende Begeisterung wird beruhigt; passadhi bedeutet: zur Ruhe kommen, Beruhigung, wieder auf den Teppich kommen. Das heißt nun keineswegs, dass alles wieder so ist wie vorher, vielmehr bleibt die zugrundeliegende Freude erhalten und wir gelangen somit zu
  • Punkt 18, sukha, dem zuckersüßen Leben der Buddhisten, über das ich bei letzten Mal sprach. Die überschäumende Begeisterung ist vorüber, aber das zugrundeliegende und nunmehr geläuterte Glücksgefühl ob der Vollkommenheit der Lehre und den Erfolgen auf dem Pfad ist jetzt voll entwickelt. Sukha wird daher mit Glückseligkeit übersetzt.
Und erst danach, also dann, wenn Glückseligkeit das bestimmende Empfindungsmuster unseres Lebens geworden ist, erst dann steigt samadhi auf. Und nun wird uns allmählich klar, warum ich zuvor gesagt habe, dass 99,9 % aller Menschen, die hierher kommen, noch nicht genug vorbereitet sind, um zu samadhi zu kommen. Es kann sich ja jeder und jede von euch einmal fragen, ob ihr die eben genannten Stufen 13 bis 17 bereits durchlaufen habt, und nunmehr Stufe 18, Glückseligkeit, euer bestimmendes Empfindungsmuster ist, eine Glückseligkeit, die jenseits ist von Besitzwünschen, von Trachten nach beruflichen Erfolgen, von Wünschen nach erfüllten Beziehungen, ob ihr also wirklich wie der heimat- und besitzlose Buddha trotz oder gerade wegen dieses Nichtanhaftens an allem Weltlichen dauerhaft in Glückseligkeit verweilt.

Und sobald Glückseligkeit zum bestimmenden Empfindungsmuster unseres Lebens geworden ist, wird samma samadhi, Vollkommene Meditation, von alleine aufsteigen, eben weil die voraussetzenden Bedingungen erfüllt sind.

Woraus sich nun allerdings zwei Fragen ergeben

(a) wie sieht dieses samadhi aus? und
(b) was muss ich konkret tun, um es zu erreichen?
Zunächst also zu einer Beschreibung der vier wichtigsten Vertiefungsstufen zu den vier grundlegenden dhyanas vollkommener Meditation. Wenn man in samadhi ist, sind alle fünf groben Meditationshindernisse überwunden
1. es gibt keinerlei Verlangen nach irgendetwas, insbesondere nicht nach Sinneneindrücken,
2. es gibt keinerlei Abneigung gegen irgend etwas mehr,
3. es gibt keinerlei innere Unruhe mehr und daher auch keine damit verbundenen Gedanken,
4. es gibt auch keine Mattigkeit, schon gar keine Müdigkeit mehr
5. und kein bisschen Zweifel an der Meditation, am Sinn dieser Übung oder ob man es richtig macht, keine Unentschlossenheit darüber, wie ich in der Meditation arbeiten muss
und auch die drei subtilen Meditationshindernisse sind überwunden
  • diese leichte Tendenz zum Sinken der Achtsamkeit in unserer Konzentration
  • und auch nicht diese ganz leichte Tendenz zum Wegtriften, diese Tendenz, dass irgendwelche Dinge, die wir bewusst nicht zulassen, doch noch unter der Oberfläche versuchen, durchzudringen und hochzukommen, und auch
  • diese plötzlichen Eindrücke oder Bilder, die unseren Geist zwar nicht einfangen können aber doch noch für den Bruchteil einer Sekunde in unseren Sinn kommen, erscheinen nicht mehr.
So gestillt von jedwedem Hindernis ist unsere Konzentration dauerhaft ablenkungsfrei, die Buddhisten nennen das citt´ ekagatta, einspitziges Verweilen beim Meditationsobjekt. Und wenn ich eben gesagt habe „dauerhaft ablenkungsfrei“, so bedeutet dauerhaft mindestens eine Viertel Stunde, es kann auch deutlich länger dauern, bis zu mehreren Tagen. Diese einspitzige Konzentration ist damit verbunden, das Meditationsobjekt ganz zu erfassen und dauerhaft im Fokus zu haben. Dabei können zunächst, also in der ersten Vertiefung, noch die beiden freudvollen Faktoren piti (Begeisterung) und sukha (Glückseligkeit) auftreten. Außerdem kommen noch die Ausrichtung des Geistes auf das Meditationsobjekt und die geistige Beschäftigung mit dem Meditationsobjekt hinzu.

Bei noch tieferem samadhi, in der zweiten Vertiefung fallen diese beiden geistigen Faktoren weg, während die einspitzige Konzentration, die Begeisterung und das Glücksgefühl anhalten. Wird unser samadhi noch tiefer, in der dritten Vertiefung, entfällt auch hier diese überschäumende Begeisterung (piti), während die Glückseligkeit erhalten bleibt. Und in der vierten Vertiefung schließlich überwinden wir auch sukha, statt dessen steigt etwas auf, was die Chinesen als Datong, als große Harmonie bezeichnen, ein Gefühl tiefen Verstehens und absoluter Unparteilichkeit, etwas, das wir als upekkha, als Gleichmut, bezeichnen, auf.

Gleichmut darf dabei um Himmels Willen nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden, was ein emotionsarmes Gefühl der Wurstigkeit ist. Im Gleichmut ist vielmehr das Gefühl von metta, das wir hier regelmäßig einzuüben bemüht sind, in vollkommener Weise vorhanden und gepaart mit neidloser Mitfreude mit dem Glück anderer und ebenso mit tiefem Mitgefühl mit allen leidenden Wesen. Es ist, so kann man sagen, ein Gefühl von metta mit allen Wesen, vereint mit tiefem Mitgefühl mit – sagen wir Menschen im KZ oder Hühnern in der Käfighaltung – ohne jedoch Groll gegen die SS-Männer, gegen Hitler oder die Käfighalter der Hühner und die Konsumenten von Käfigeiern zu empfinden, sondern vielmehr Mitgefühl auch mit diesen durch Verblendung leidenden, verirrten Wesen.

Gut – jetzt haben wir einen ungefähren Eindruck davon, was samadhi ist. Und wenn wir im Vergleich dazu unsere eigene Meditation betrachten, werden wir vermutlich eine ungeheure Diskrepanz feststellen. Bleibt also die ganz spannende Frage: Was muss ich tun, um dahin zu kommen?

Und die Antwort darauf ist erstaunlicherweise ungeheuer einfach: Man muss den Pfad der unregelmäßigen Schritte verlassen und den Pfad der regelmäßigen Schritte zu gehen beginnen.

Aber was ist das, der Pfad der unregelmäßigen Schritte? Nun, ich behaupte, es ist der Pfad, den ihr derzeit geht. Ihr kommt vermutlich hierher, weil ihr euch für Meditation interessiert. Das ist verständlich und legitim, das ist der Grund, warum ich diese Einrichtung hier nicht z. B. „Buddhismus in Gelnhausen“ nenne, sondern „Meditation am Obermarkt“. Meditation klingt irgendwie modern, trendy, Buddhismus hingegen klingt nach Religion, und die ist öd und langweilig.

Ihr kommt aber vielleicht auch her, weil ihr Buddhismus ganz interessant findet, weil ihr denkt, das ist eine von vielen Weisheitslehren. Und sehr viele Menschen wollen entweder weiser sein als sie sind oder weiser wirken als sie wirken. Und daher kommt man hierher, hört sich an, was der olle Horst zu sagen, und ob da die ein oder andere Anregung dabei ist, die man in sein Potpourri von Weisheitsversatzstücken aufnehmen kann. Und auch dieses euer Verlangen versuche ich irgendwie zu bedienen. Das ist der Grund, warum ich hier jede Woche einen Vortrag halte oder eine buddhistische Geschichte erzähle. Sie geben einen leichten Geschmack von Weisheit. Nun gut, jetzt untertreibe ich, diese Vorträge und diese Geschichten machen uns mit Sicherheit nicht unweiser, nicht tumber, sondern sie können uns auch wirklich graduell ein winzig kleines bisschen weiser machen.

Doch wirklich weise werdet ihr durch meine Vorträge und Geschichten leider genau so wenig, wie ihr durch den Meditationsunterricht zu samadhi kommt, nicht einmal dann, wenn ihr alle meine Meditationsworkshops an Wochenenden besuchen würdet. Nicht dass man dort nichts lernt, diese Veranstaltungen sind wirklich sehr hilfreich, genau so, wie meine Vorträge relativ hilfreich sind. Was euch wirklich ungemein weiterhelfen würde, wäre vom Pfad der unregelmäßigen Schritte zum Pfad der regelmäßigen Schritte zu kommen. Das Problem daran ist, das klingt überhaupt nicht spannend, das klingt nicht trendy, das klingt nicht sexy.

Dennoch hat der Buddha im Laufe seiner Lehrtätigkeit immer mehr Gewicht auf den Pfad der regelmäßigen Sachritte gelegt, eben weil er gesehen hat, dass die Menschen den Pfad der unregelmäßigen Schritte viel interessanter fanden, der Pfad der regelmäßigen Schritte jedoch der zielführende ist. Und eben deshalb hatten, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, elf der 15 größeren Lehrdarlegungen, die der Buddha in seinem letzten Lebensjahr gab, den Pfad der regelmäßigen Schritte zum Inhalt.

Dieser Pfad der regelmäßigen Schritte ist ganz leicht zu verstehen, intellektuell werdet ihr ihn alle heute Abend noch verstehen, in den nächsten fünf Minuten. Das Beschreiten des Pfades ist dann allerdings etwas schwieriger, aber der Pfad ist gangbar. Für jeden und jede. Er setzt weder besondere geistige noch besondere körperliche oder besondere spirituelle Fähigkeiten voraus. Allerdings benötigt man dazu einen festen Willen, man benötigt Entschlossenheit – halbherzig kann man diesen Pfad nicht beschreiten.

Es ist dies der Edle Dreifältige Pfad. (Toll was, nur drei Sachen, ganz einfach, was!) Und auf diesem Pfad wird all das gemacht, was ihr vermutlich auch schon macht, jedenfalls immer mal, oder zeitweise, nämlich meditieren, nämlich Weisheitslehren studieren (na ja –vielleicht konsumiert ihr sie hier auch bloß) und ethisch richtig handeln. Aber der Dreifache Pfad hat eine entscheidende Reihefolge, die Reihenfolge ist sila – samadhi – prajna. Ethik – Meditation –Weisheit, in genau dieser Reihenfolge. Nur wenn wir unsere Ethik vervollkommnet haben, werden wir wahren samadhi erleben. Und nur, wenn wir in genügendem Maße samadhi-Einwirkungen hatten, entfaltet sich uns die vollkommene Weisheit, steigt Erleuchtung auf.

Das heißt nun nicht, dass ihr nie wieder meditieren sollt, bevor ihr nicht vollkommene Tugendbolde geworden seid. Und es heißt auch nicht, dass ihr euch bei meinen Vorträgen die Ohren zuhalten sollt und buddhistische Schriften meiden sollt wie der Teufel das Weihwasser. Aber es heißt, dass unsere – eure wie auch meine – Hauptbaustelle sila – Ethik – ist, und je gefestigter diese ist, desto besser wird unsere Meditation, und erst dann sind wir auch in der Lage samma samadhi zu erlangen. Und samadhi ist schließlich Punkt 19 auf unserem Pfad, und der ist die unmittelbare Grundlage für Punkt 20, den Einstieg in die Heiligkeit, den Übertritt vom Gravitationsfeld von samsara, dem Weltlichen, ins Gravitationsfeld von nibbana. Das ist das Ende des mühsamen Praktizierens, und der Beginn des heiligen, auf Glückseligkeit und samadhi beruhenden Lebens, das uns zur Vollkommenheit, zur Erleuchtung, zur Buddhaschaft führt.


Und damit das nicht so fern und unverbindlich bleibt, kündige ich jetzt einmal für nach der Sommerpause einen Kurs mit dem Titel: „Stufe 1 – Verhaltensoptimierung“ an. Außerdem werde ich im Laufe der nächsten Zeit auch donnerstags immer einmal über einzelne Elemente der Verhaltensoptimierung sprechen. Dieser Begriff, Verhaltensoptimierung, scheint mir unserem heutigen Sprachgebrauch angemessener als Ethik oder gar als Tugend, Moral oder Sittlichkeit.

Und das obwohl es letztendlich um das Gleiche geht: wie optimiere ich mein Verhalten, um zu besserer Meditation, zu mehr Weisheit, zu dauerhaftem Glück zu kommen. Vielleicht sollte ich das Kursangebot auch „zielgeleitete Verhaltensoptimierung“ nennen, oder besser „zielinduzierte Verhaltensoptimierung“. Das klingt viel zeitgemäßer als Tugend oder Sittlichkeit. Und steht damit dennoch durchaus in der Buddhistischen Tradition, denn der Buddha hat nicht die Begriffe „gut“ und „böse“ verwendet, sondern „geschickt“ und „ungeschickt“. „Geschickt“ ist dabei jede zielinduzierte Verhaltensoptimierung. Wobei das Ziel natürlich Vollkommenheit ist, Buddhaschaft, nibbana.


         © Copyright 2011 by Horst Gunkel, Gelnhausen.
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