Wiedergeburt (jati) im Lebensrad
Vortragsreihe „Evolution“, Teil IV
von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt, Gelnhausen, (2011)
zuletzt geändert am 14. Oktober 2019
Dieser Vortrag wurde im Januar 2011 gehalten.
An diesem Tag machten wir eine Zeremonie für unseren verstorbenen Dharmabruder Rico.
Daher waren Tod und Wiedergeburt zwangsläufig unser Thema,
gegen Ende des Vortrages wird auf Rico Bezug genommen.
Im Lebensrad kommt in der Darstellung des Bedingten Entstehens (paticca samuppada),
also im äußeren der vier konzentrischen Ringe, in dem Ring, der
an der Wand unseres Meditationsraumes dargestellt ist, Geburt, jati, an
elfter Stelle vor.
Es
gibt insgesamt drei verschiedene Ansätze, wie man Wiedergeburt im
Lebensrad interpretieren kann. Nach der traditionellen Lehrweise werden
wir in sechs verschiedenen Bereichen (oder Welten) wiedergeboren, das
sind die Menschenwelt die Tierwelt, die Götterwelt, der Bereich der
Titanen, die Höllenwelt und der Bereich der hungrigen Geister. Das ist
die traditionell in Asien häufigste Interpretation.
Mitunter
werden diese sechs Bereiche allerdings auch als Geisteszustände
aufgefasst, in die wir in Abhängigkeit von unserem Verhalten geraten.
Eine interessante Variante hat Jonathan Watts von der Think Sangha,
einem buddhistischen Think-Trust, aufgezeigt, der die Kette der zwölf
nidanas auf unser Konsumverhalten anwendet. In einem bemerkenswerten
Essay hat er zunächst die traditionelle Interpretation dieser zwölf
Kettenglieder (nidanas)
dargelegt, sie danach auf das Konsumverhalten im allgemeinen angewendet
und schließlich ein Fallbeispiel durchgespielt, die Kaufentscheidung
eines Ghettojugendlichen für einen Nike-Schuh. Ich werde darauf heute
hier nicht eingehen, das mache im Kurs tibetisches Lebensrad ab
kommenden Montag.
Häufig wird auch gesagt, diese zwölf nidanas
würden einen Ablauf über eine Abfolge von drei Leben beschreiben, dem
vorigen, dem derzeitigen und dem nächsten. Viele dieser Darstellungen
sind für moderne Menschen schwer zugänglich, ich selbst habe diesen
früher distanziert gegenübergestanden. Jedoch durch die Lektüre der
Werke Helmuth von Glasenapps und zahlreiche eigene Reflexionen und
Meditationen zu den nidanas ist dies für mich inzwischen sehr viel klarer geworden, und ich möchte es nicht verabsäumen, diese Erkenntnisse hier weiterzugeben, so gut oder so suboptimal, wie ich es eben vermag.
In dieser Beschreibung werden die ersten beiden nidanas dem vergangenen, die nidanas 4-9 dem derzeitigen Leben und die letzten beiden dem künftigen Leben zugerechnet. Die nidanas
3 und 10 stellen Übergänge zwischen den einzelnen Leben dar. Mit
anderen Worten, diese Sichtweise soll erklären, wie es zu unserer
Geburt im Geburtenkreislauf kam, alsdann unser derzeitiges Leben
betrachten und schließlich erläutern, wieso wir wiedergeboren werden
müssen. Sehen wir uns diesen Prozess im Einzelnen an. Als erstes
Kettenglied haben wir avijja, Verblendung oder spirituelle
Unwissenheit. Darüber habe ich an einem der vergangenen Abende bereits
gesprochen. Ich will hier deshalb nur ganz knapp in einem Satz sagen,
was unter spiritueller Unwissenheit zu verstehen ist. Es
bedeutet,
- dass wir in unserer Verblendung nicht erkennen, dass Gier zu Unzufriedenheit führt,
- dass uns nicht wirklich bewusst ist, dass letztendlich alles veränderlich, prozesshaft, ist und schließlich,
- dass wir uns als getrennt und im Konflikt mit unserer Umwelt sehen.
Aufgrund dieser Verblendung kommt es dann zu den sankharas,
den Willensäußerungen oder Karmaformationen, bildlich dargestellt als
ein Töpfer, der willentlich etwas produziert. Der Buddha vergleicht den
verblendeten Menschen mit einem Betrunkenen und seine
Willensäußerungen, seine Wünsche und Pläne, mit den Handlungen eines
Betrunkenen. Weil wir also in diesem Zustand spiritueller Verblendung
so töricht handeln, schaffen wir uns ein bestimmtes Karma,
das zur Wiedergeburt drängt. Man kann auch sagen, dass das gestörte
karmische Gleichgewicht zu einem Ausgleich drängt, der nur durch eine
Wiedergeburt in einem neuen Leben erfolgen kann, dass es sich also um
das Wirken eines karmischen Naturgesetzes handelt. Für
die einzelne Person bedeutet das, dass „ein karmischer Werdeprozess in
Gang gebracht worden ist, der sich in einer Wiedergeburt äußern muss“
(v. Glasenapp).
Man
kann man es auch so sehen, dass der noch vorhandene Gestaltungswillen
zu einem Kernbewusstsein führt, das zur Wiedergeburt drängt und
karmisch belastet ist. Dieses Kernbewusstsein, vinnana, wird im dritten nidana
als Affe dargestellt. Der Affe steht hierbei für das noch unreife
menschliche Kernbewusstsein, das triebhaft und kindisch ist. Und
aufgrund dieses triebhaften Werdewunsches kommt es dann zur
Herausbildung von namarupa, von Körper und Geist im vierten nidana. Dies wird bildlich als ein Boot dargestellt, in dem normalerweise vier Personen sitzen. Das Boot steht dabei für die Form (rupa),
die vier Personen für vier geistige Faktoren, von denen eine Person,
das Bewusstsein, das Steuer des Bootes in der Hand hält.
Da wir nunmehr ein psycho-physisches Wesen sind (namarupa), haben wir Sinnenorgane und sind in der Lage, Sinneseindrücke gedanklich zu verarbeiten, sodass wir im fünften nidana diese sechs Grundlagen, ayatana,
– die fünf Sinne und das Denken – dargestellt sehen, und zwar als ein
Haus mit fünf Fenstern und einer Tür. Da wir über diese sechs
Grundlagen verfügen, kommt es zu phassa
zu Sinnenkontakt mit den Objekten unserer Umwelt. Kontakt ist in Bild
sechs dargestellt als Kontakt von zwei Personen verschiedenen
Geschlechtes. Sofort nach diesem Sinnenkontakt entsteht bei uns eine
Empfindung, ein vedana, auf Bild sieben als ein Mann mit einem Pfeil im Auge dargestellt.
Diese
Empfindung, die in uns infolge des Sinnenkontaktes entsteht, ist
entweder angenehm, also positiv, oder unangenehm, also negativ, oder
auch neutral, dann also weder angenehm noch unangenehm. Ist diese
Empfindung unangenehm, dann wollen wir das Objekt weghaben, vernichten.
Ist diese Empfindung jedoch angenehm, dann entsteht in uns Verlangen,
dargestellt durch einen durstigen Mann, der eine Frau sieht, die ihm
ein Bier bringt. Der Begriff für dieses Verlangen ist auf pali tanha (sanskrit trsna), was Durst heißt. In Abhängigkeit von dieser Gier, diesem Verlangen, diesem Durst, entsteht upadana, Zugreifen und Festhalten, dargestellt durch eine Person, die Früchte pflückt und in einem Korb sammelt.
Und
da sind wir bei etwas, was wir aus dem vorigen Leben in diesem
Lebensrad noch kennen, das Habenwollen. Das war damals dargestellt
durch den Töpfer, der Krüge zum Aufbewahren herstellt, was zu einem
Kernbewusstsein, dem Affen führte. Und ebenso ist es auch in
diesem Leben. Dieses Habenwollen, dieses Nichtloslassenwollen, dieses
Anhaften, führt zu neuem Werden (bhava) dargestellt durch eine Schwangere und in Folge dann zu jati, zu Geburt. Und damit beginnt das nachfolgende Leben und es endet natürlich zwangsläufig durch Altern und Wiedertod jara-marana.
Dieser
Gedanke des Anhaftens, dass noch Wille da ist, dass man noch etwas
erreichen will, dass man nicht Loslassen kann, ist also die
entscheidende Voraussetzung, dass es zu Wiedergeburt kommt. Wir sind
nicht bereit unser Leben und alles andere auch loszulassen, da ist
außerdem noch unser Karma und
also werden wir wiedergeboren. Man könnte nun der Auffassung
sein, dass es demnach sehr hilfreich sein müsse, nicht mehr
wiedergeboren werden zu wollen. Aber Vorsicht: der Wille zur
Nichtwiedergeburt ist auch ein Wille, etwas, das man nicht loslassen
will, und der Nicht-Mehr-Werde-Wille ist genauso ein Trieb, ein asava, und damit ist der Nichtseinstrieb genauso hinderlich am Erreichen von Nirwana wie der Daseinstrieb (bhavasava).
Die richtige Einstellung zur Vermeidung von Wiedergeburt wäre also der
mittlere Weg zwischen Daseins- und Nichtseinstrieb, also eine in Bezug
auf Wiedergeburt gleichmütige Haltung – und natürlich ein
„ausgeglichenes Karmakonto“.
Betrachten
wir noch einmal genauer das, was da zur Geburt drängt, was da geboren
wird, also die beiden Kettenglieder, die durch die Schwangere und die
Geburt dargestellt werden, und wenden das auf unsere eigene Erfahrung
an.
Drei Ebenen bestimmen unsere gegenwärtige Persönlichkeit, also das, was wir für unser „Ich“ halten, das sind
• das genetische Entstehen in Abhängigkeit von genetischen Bedingungen
• das soziale Entstehen in Abhängigkeit von sozialen Bedingungen und
• das karmische Entstehen in Abhängigkeit von karmischen Bedingungen
Diese
drei Bedingungskomplexe sind es, die meine jetzige Persönlichkeit
bestimmen. Der stabilste der drei Bedingungskomplexe ist der
genetische. Mein individuelles Genmaterial ist erbtechnisch bedingt.
Dass ich, der Horst, z. B. zu Fettleibigkeit neige, ist erblich bedingt
und kommt aus der Richtung meiner Großmutter väterlicherseits, zwei
meiner drei Kinder haben dieses Problem leider auch. Dass ich zu
Allergien neige, ist ebenso genetisch bestimmt und kommt von meiner
Großmutter mütterlicherseits. Allerdings ist dieser genetische
Bedingungskomplex zwar relativ starr, aber nicht unveränderlich. Ich
habe Allergien, z. B. die gegen Acetyl-Salicylsäure (ein
Kopfschmerzmittel, das unter dem Namen Aspirin bekannt ist), unter
denen auch meine Großmutter litt. Aber diese Allergie entwickelte sich
im Laufe meines Lebens, so reagiere ich inzwischen auch allergisch
gegen Ibuprofen (ein anderes Kopfschmerzmittel), und das war vor
zwanzig Jahren noch nicht so. Also: auch der genetisch bedingte Komplex
entwickelt sich aufgrund von Bedingungen, die mir teilweise unbekannt
sind, innerhalb eines Lebens und er entwickelt sich stark beim Übergang
von einem Leben zu einem anderen, weil bei der Verschmelzung von Ei und
Samenzelle zwei verschiedene Erbmaterialien zusammen kommen.
Dann
gibt es da das soziale Entstehen in Abhängigkeit von sozialen
Bedingungen. Wie ich mich verhalte, wie ich die Welt erlebe und wie ich
handle, ist nicht nur genetisch bedingt, sondern eben auch sozial
erlernt. Sozialisationsinstanzen sind dabei das kulturelle Umfeld,
geprägt durch so unterschiedliche Dinge wie Kulturraum, geschichtliche
Epoche, religiöse oder pseudoreligiöse Werte und Vorstellungen und
natürlich durch Personen, wie z. B. unsere Eltern und die anderen
Menschen, mit denen wir Umgang pflegen. Auf dieser sozialen Ebene
gibt es
zwar Grundüberzeugungen oder Grundeinstellungen, diese sind jedoch
rascher wandelbar als die genetischen Bedingungen. Hier findet ein
Wandel, eine Entwicklung innerhalb eines Lebens statt, aber auch hier
ist der Übergang in ein neues Leben ein starker Einschnitt, denn wir
geraten gegebenenfalls in ein deutlich verändertes Umfeld.
Und die dritte Ebene ist das karmische Entstehen in Abhängigkeit von karmischen Bedingungen. Karma
bedeutet Handeln, und zwar ethisch bewertbares Handeln. So wie Handeln
auf der physikalischen Ebene physische Konsequenzen hat (also
beispielsweise, wenn ich etwas loslasse, fällt es nach unten), sowie
Handeln auf der chemischen Ebene chemische Folgen hat (z. B. wenn ich
molekularen Sauerstoff und molekularen Wasserstoff zusammenbringe,
entsteht eine Verpuffung) und so wie Handlungen auf der unteren
animalischen Ebene animalische Folgen haben (sieht ein Hund einen
anderen, so kommt es zu einer Reaktion), so haben auch karmische
Handlungen karmische Folgen. Wenn ich beispielsweise aggressiv gegen
jemanden bin, hat dies Folgen, die u.a. auf den Urheber, auf mich
selbst, zurückfallen. Dies kann im gleichen Leben geschehen, der
libyische Staatschef Gaddafi ist gerade dabei, das zu erfahren, es
geschieht möglicherweise auch erst in einem späteren Leben.
Nun
gibt es, wie wir alle wissen, unterschiedliche Einstellungen zu
Wiedergeburt. Ich möchte die beiden extremen Ansichten nennen, da gibt
einerseits