Erleuchtung
erzählt von Saddhaloka, deutsch von Horst Gunkel
(c) Copyright by Saddhaloka and Horst Gunkel - letzte Änderungen 2014-02-11

Dies ist die Fortsetzung der Geschichten "Gang in die Hauslosigkeit" und "Der Wanderer", die man zuerst gelesen haben sollte.

Die strengen Entbehrungen der letzten Jahre wurden von Gotama nicht mehr praktiziert. Indem er einfache, gesunde Nahrung erbettelte, erreichte er rasch wieder seine alte Stärke und stellte seine Gesundheit wieder her. Während seiner Wanderschaft gelangte er zu einem kühlen und lieblichen Hain nahe Neranjara. Diese Stelle lag weit genug von den Äckern und den Dörfern entfernt, so dass er sicher war, nicht gestört zu werden, aber auch nahe genug an Siedlungen, dass er sich sein tägliches Mahl erbetteln konnte.

Er entschloss sich, hier zu verweilen und die neuen Perspektiven zu erforschen, die sich aus seiner Jugenderinnerung hinsichtlich des Rosenapfelbaumes ergaben. Als die sommerliche Hitze sich aufbaute, gab er sich ganz der Meditation hin. Neue Tiefen seines Geistes und seines Wesens eröffneten sich ihm. Schließlich, in einer schönen Vollmondnacht, merkte er, dass seine Zeit gekommen war, und er setzte sich unter einen großen Ficus-Baum auf ein Kissen aus Kusagras, das ihm ein Kuhhirte gegeben hatte. Er schwor, dass er nicht von diesem Platz aufstehen würde, möge auch sein Fleisch zerfallen und sein Blut austrocknen, bis er Erleuchtung erlangt hätte. Er kam in eine zunehmend tiefere, klarere und friedvollere Meditation, doch er ließ sich nicht von den angenehmen Gefühlen gefangen nehmen, die ihn durchfluteten, und die womöglich Macht über seinen Geist hätten gewinnen können.

Er sah unzählige vergangene Leben sich vor ihm entfalten, ein Leben nach dem anderen. Er sah wie Universen entstanden und wieder vergingen. Er sah, wie Wesen geboren wurden und wie sie verblieben in Abhängigkeit von ihren Taten: gute und nützliche Handlungen führten zu einer glücklichen Wiedergeburt, schlechte und ungeschickte Handlungen bedingten eine Wiedergeburt in peinvolle Umstände. Er sah den Kern der Existenz und verstand, wie die Probleme der Wesen infolge von Gier und Unwissenheit entstanden. Und wie – mit ihrem Geist verfangen in Verlangen, Ablehnung und Verblendung - die Wesen sich selbst immer wieder zum Antrieb eines dauernden Kreislaufes von Geburt, Krankheit, Alter und Tod veranlassten. Dies alles wahrnehmend und durchschauend, wurde sein Herz schließlich befreit. Eine gänzliche Umgestaltung fand in seinem tiefsten Wesen statt. Er war ein Buddha geworden, ein Erleuchteter, einer, der die Dinge versteht.

In den nächsten Wochen verließ der frisch erwachte Buddha kaum den Hain. Er saß da und absorbierte allmählich das tiefe Verstehen und das Wunder seiner neuen Weltsicht. Dann begann er allmählich wieder seinen Geist auf die Welt hin auszurichten und überlegte, wie er denn sein tiefes Verstehen, den Frieden und die Weisheit mit anderen teilen könnte. Er dachte bei sich: „Die Weisheit, die ich gefunden habe, ist so subtil und gleichzeitig so tiefgründig. Es ist viel weitergehend als alles, was in Worte gefasst werden kann. Wenn ich versuche, dies anderen zu erklären, werden sie mich nur missverstehen. Das wird sicher schmerzhaft für diese sein und auch schmerzvoll für mich.“

Diese Gedanken des Buddha offenbarten sich zugleich allen Göttern in den himmlischen Sphären. Sie hatten die Entwicklung des Buddha mit großer Zufriedenheit beobachtet und groß war ihre Freude, als er schließlich sein Ziel erreichte. Als sie ihn nun zögern sahen, hatten sie Verständnis für ihn, aber auch Sorge hinsichtlich der weiteren Entwicklung. „Endlich ist ein Buddha in der Welt erschienen“, so berieten sie sich. „Der Weg zur Freiheit ist möglich. Aber was wird aus der Welt, was wird aus all diesen Menschen, wenn er den Dharma, das Sehen, wie die Dinge wirklich sind, nicht lehren wird?“

Und so erschien Brahma Sahampati, der König der Götter, beim Buddha in der Gestalt eines goldenen Jünglings. Er ermutigte den Buddha, den spirituellen Pfad denjenigen zu lehren, die in der Lage sind, ihn zu verstehen. Es gäbe mit Sicherheit einige Wesen mit nur wenig Staub auf den Augen, die nach der Wahrheit dürsteten, die er entdeckt habe.

Der Buddha blickte auf die Welt: In einer erleuchteten Vision sah er die zahllosen Wesen als Lotusse in einem Teich. Einige verharrten tief unten im stinkenden Schlamm, unwissend und unaufmerksam, während sich andere durch das klare Wasser aufwärts bewegten - zum Lichte empor. Wieder andere standen klar aus dem Wasser heraus und benötigten nur etwas Sonnenschein, damit ihre Knospen aufbrechen würden. Großes Mitgefühl, das mit der Weisheit des Buddha untrennbar verbunden ist, entflammte sein Herz. Zum Wohle derer, die da in der Lage seien zuzuhören und zu begreifen, würde er einen Weg finden, das auszudrücken, was die Erfahrung der Erleuchtung ausmachte, und ebendies zu lehren, auf dass auch andere das große Ziel erreichen: Buddhaschaft.
 



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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.