Der Gang in die Hauslosigkeit
nacherzählt von Saddhaloka (deutsche Übersetzung: Horst Gunkel)
(c) Copyright by Saddhaloka and Horst Gunkel
letzte Änderungen 2012-11-04

Einst lebte im alten Indien am Fuße der Ausläufer des Himalaya ein stolzes und unbändiges Volk, das als die Shakyer bekannt war. Sie waren reich und lebten im Wohlstand, und obwohl die Könige der Nachbarländer mit Neid auf das Land der Sakya blickten, ließen sie diese in Frieden leben; nur allzu offensichtlich war, wie schrecklich jeder Versuch einer Eroberung enden würde.

Der gewählte König der Sakyer hieß Suddhodana, und er wurde von seinem Volk als starker und gerechter Herrscher geliebt. Seine Frau, die Königin Maya, war die Tochter des Königs eines Nachbarlandes. Zu der Zeit, da diese Geschichte beginnt, war sie hochschwanger mit ihrem ersten Kind. Den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend, machte sie sich auf in das Königreich ihrer Eltern, um das Kind in ihrem Elternhaus zu gebären - unter Assistenz ihrer Mutter und deren Zofen. Allerdings wartete sie wohl zu lange mit der Abreise aus Kapilavatthu, der Hauptstadt von Sakya. Es war eine mehrtägige Reise und während einer Rast setzten die Wehen ein. Abseits von jeder menschlichen Behausung, aufrecht stehend und den Ast eines Baumes haltend gebar Königin Maya einen Knaben. Ein Kurier wurde ausgesandt, um in Kapilavatthu zu berichten, dass ein Sohn und Erbe dem König und der Königin geboren worden sei.

Freudig machte sich Suddhodana auf, um sein Weib und seinen Sohn zu treffen, doch unterwegs kam ein zweiter Kurier mit einer Botschaft, die seine Freude trübte: Königin Maya war gestorben, nur sieben Tage nach der Geburt des Sohnes. Das königliche Baby wurde zurück gebracht und erhielt den Namen Siddharta. Er wurde in die Obhut von Majas Schwester Pajapati gegeben, einer Nebenfrau Suddhodanas, die gerade selbst niedergekommen war.

Ein weiser alter Mann namens Asita hörte von der Geburt und kam in den Palast. Suddhodana ließ das Kind zu ihm bringen. Lange standen sie beisammen, ohne dass ein Wort fiel. Dann machte der alte Mann eine Prophezeiung: der Knabe würde einer glänzenden Zukunft entgegen gehen, und es stünden ihm zwei Pfade offen. Entweder würde er ein großer weltlicher Herrscher werden, oder aber, desillusioniert von Macht und Reichtum, würde ein außerordentlicher spiritueller Meister aus ihm werden, dessen Lehren in der ganzen Welt bekannt würden. Asita konnte nicht sagen, welchen der Wege der Knabe einschlagen würde, aber der König - eingedenk und stolz der Kriegertradition - wollte natürlich, dass Siddharta den Weg zur weltlichen Herrschaft einschlug.

Als er heranwuchs, erlernte Siddharta die Gepflogenheiten seines stolzen Volkes. Er lernte zu Pferde zu kämpfen und auf dem Kampfwagen, das Schwert zu benutzen, den Bogen und den Speer. Er wuchs zu besonderer Stärke heran, war mutig und von herber Schönheit, so dass er bei allen beliebt war. Er wusste, es war sein Schicksal, der Führer seines Volkes zu sein und die Vorteile und die Macht des Königtums zu genießen, aber auch Verantwortung zu tragen.

Suddhodana aber vergaß nicht die Prophezeiung von Asita, und so bemühte er sich, dass Siddharta die schönsten weltliche Genüsse bekam. Er lebte in wunderbaren Palästen mit Teichen und Blumengärten, erlesenen Leibmusikantinnen, Tänzerinnen zur Unterhaltung und jugendlichen Bediensteten.

Als es Zeit war zu heiraten, wurde eine wunderschöne Prinzessin namens Yasodhara ausgewählt, und sie gebar ihm einen Sohn namens Rahula. Es sah ganz so aus, als hätte Siddharta das große Los gezogen, und als führte er das beste Leben, das man sich überhaupt nur denken kann. Doch gerade jetzt, als das Leben voller Freuden war, bemächtigte sich Siddhartas eine eigentümliche Stimmung von Schwermut und Unzufriedenheit. Er bemühte sich, diese zu überwinden, aber all die Freuden des Lebens schmeckten irgendwie hohl und wenig erfüllend, und die Tatsache, dass all dies ihn nicht befriedigen konnte, schürte seine Unrast.

Suddhodana merkte, dass dem Prinzen etwas fehlte, und er bemühte sich, noch verfeinerte Genüsse bereitzustellen und kurzweilige Lustbarkeiten zu arrangieren, aber erfolglos.

Eines Tages, als sich seiner wieder besondere Unrast bemächtigte, und er der Bürde des Palastlebens überdrüssig war, wies Siddharta seinen Wagenlenker Channa an, einen Wagen und die Pferde für eine Spritztour bereit zu machen. Gemeinsam galoppierten sie durch die Stadt, und allmählich besserte sich die bedrückte Stimmung Siddhartas. Plötzlich jedoch sah er etwas, das ihn zutiefst verunsicherte. Er griff nach Channas Arm und rief ihm zu anzuhalten. Siddharta zeigte auf eine Person am Straßenrand: „Sieh nur Channa, sieh da! Was um Himmels Willen ist denn das?“

„Wie? Du meinst ihn?“ Channa war verwirrt und überrascht, Siddharta so erschrocken und bleich zu sehen. „Was meinst du? Das ist doch nur ein alter Mann. O.k. er hat keine Haare und keine Zähne mehr, seine Haut ist tief zerfurcht und sein Körper ist gebeugt und ausgemergelt. Es ist eben ein alter Mann. Was ist los, mein Prinz?“

„Werde ich auch ein alter Mann sein? Und mein Sohn Rahula? Wird Yasodhara einst aussehen wie er?“

„Na ja, mein Prinz, wir werden alle alt. König oder Bettler, da gibt es wohl keinen Ausweg. Wir werden alle alt.“

Siddharta verfiel in Schweigen, bis ins Mark erschüttert. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er der Tatsache ins Auge, dass Altern Leiden verursacht, und diese grausame Tatsache allen Lebens bohrte sich tief in sein Innerstes. Nie wieder würde er die Dinge mit jugendlicher Leichtigkeit sehen können. Tief bewegt gab er Channa das Zeichen, in den Palast zurückzukehren.

Einige Tage später ritten Channa und Siddharta wieder miteinander aus. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Siddharta „Halt“ schrie. Seine Augen hatten eine Person erblickt, die am Straßenrand lag, mit Agonie ringend und verloren in scherzvollem Delirium; Leute bemühten sich, die Schmerzen zu lindern.

„Channa, was ist das, was geschieht mit dem Mann?“

„Nun, mein Prinz, dieser Mann ist krank. Er hat Schmerzen, das kommt vor, so ist das Leben eben.“

Diesmal war es also Krankheit, die jederzeit Wohlergehen und Freude ablösen könnte, was Siddharta zu Bewusstsein gekommen war, und er sah - wie niemals zuvor - die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens. Und abermals kehrte er tief aufgewühlt und verunsichert durch das, was er gesehen hatte, in den Palast zurück.

Es waren noch nicht viele Tage vergangen, als Siddharta erneut Channa anwies, den Wagen fertig zu machen. Diesmal mussten sie an einer Straßenkreuzung anhalten, wo vier Männer eine Bahre trugen. Auf der Bahre lag ein regloser Mann, eingehüllt in weiße Tücher, das Gesicht war bleich, Blumen lagen auf seiner Brust. Es war ein Leichenzug, und die Männer der Familie trugen ihren Verwandten hinunter zum Fluss, wo der Verbrennungsplatz war. Nunmehr sah sich der Prinz mit der Tatsache des Todes konfrontiert. Als käme ihm dies erstmals zum Bewusstsein, bemerkte er die entsetzliche Unabwendbarkeit: Was geboren ist, muss auch sterben. „Aber wo liegt der Sinn eines Lebens, das in Kürze übergeht in Alter, jederzeit verwundbar ist durch Krankheit und ständig auf das Ende ausgerichtet, den Tod?“, fragte es sich. „Wie kann man Glück, wie kann man Freude finden in einem solchen Leben?“

Diese Fragen beschäftigten Siddharta nunmehr, so dass er allen aus dem Weg ging und auch wenig Interesse am Essen, an irgendwelcher Unterhaltung und an den üblichen Aktivitäten des täglichen Lebens fand. Irgendeine Antwort, irgendein Schlüssel zu diesem Mysterium musste es doch geben, war ihm in seinem tiefsten Inneren bewusst. Und es war ihm klar, dass er alles in seiner Macht stehende tun müsse, um diese Antwort zu finden.

Unruhig und mit Vorahnungen, verließ er einmal mehr mit Channa den Palast. Als sie in der Kutsche fuhren, stach dem Prinzen zum vierten Mal etwas in die Augen: am Straßenrand ging ein Sadhu, einer von Indiens wandernden heiligen Männern, er trug Bettelstab und Bettelschale, ruhig, ernst und selbsterfüllt. Siddhartas bemächtigte sich ein Gefühl von tiefem Frieden, und er starrte den heimatlosen Wahrheitssuchenden an, wissend, dass dies sein wahres Schicksal war. Er würde entsagen: dem Reichtum, der Familie und der Macht, er selbst würde ein heimatloser Wanderer werden. Dazu gab es keine Alternative. Zu seinem eigenen Vorteil und zum Besten derer, die er liebte, zum Wohle aller würde er sich auf die Suche nach der Wahrheit machen, die zur Überwindung von Alter, Krankheit und Tod führt.

Als Siddharta seinem Vater von seinem Vorhaben berichtete, war dieser entsetzt. Er erinnerte sich an die Weissagung Asitas und sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er versuchte es mit Argumenten und Überredung. Er appellierte an Siddharta Pflichtgefühl. Er bot ihm Machtstellungen und Verantwortung, was auch immer sein Sohn wolle, er werde es ihm erfüllen, wenn dieser bliebe. Als letzte Lösung ließ er den Palast besonders bewachen. Aber Siddharta war von seinem Vorhaben nicht abzubringen.

Und so kam es, dass einige Tage später, mitten in der Nacht, Siddharta auf seine schlafende Frau und das Baby blickte. Er traute sich nicht, ihnen einen Abschiedskuss zu geben, weil er fürchtete, sie zu wecken. Sie sahen so wunderschön aus, so friedvoll. Aber er konzentrierte sich auf seinen Entschluss und schlüpfte aus dem Palast, wo Channa, sein Vertrauter, ihn mit einem Pferd erwartete. Er stieg auf und ritt durch die Nacht. Im Morgengrauen erreichten sie den Grenzfluss von Sakya. Hier rasteten sie, und Siddharta bereitete sich auf den entscheidenden Schritt vor. Er legte seine Juwelen und sein goldenes Geschmeide ab und schnitt sich sein langes Haar mit dem Schwert ab.

Ein Jäger kam vorbei in einer Kleidung, die einem Sadhu, einem heiligen Mann angemessen wäre, und der Prinz rief ihn an. Sie tauschten die Kleider. Der Jäger konnte sein Glück nicht glauben. Siddharta trug jetzt die derbe safranfarbene Robe. Er schnitt sich einen Stab ab und schnitzte sich eine Almosenschale, mit der er betteln gehen würde. Er verabschiedete sich von Channa und gab ihm noch eine Nachricht an seinen Vater mit. Dann ging der frühere Prinz hinunter zum Fluss und watete durch. Er richtete seinen Blick klar auf die Suche, die vor ihm lag, und schaute nicht ein einziges Mal zurück.

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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.