Avijja – Avidya – Verblendung

Avidya hat eine besondere Bedeutung im Buddhismus. Es ist nicht nur eines der drei Geistesgifte, eines der drei Wurzelübel, die uns daran hindern, Vollkommenheit, Erleuchtung, Nirvana zu erreichen, es steht auch noch am Lebensrad an erster Stelle. Das Lebensrad oder richtiger Rad des Werdens – bhava cakra -, vielfach auch bekannt unter der nicht ganz richtigen Bezeichnung „Tibetisches Lebensrad“ ist eine altindische Darstellung der buddhistischen Weltsicht. Hier ist in vier konzentrischen Kreisen das angeordnet, was unser Leben beschreibt (vgl. Abb. 1).

Im innersten Kreis finden wir die drei Geistesgifte, die uns an der Erreichung von Vollkommenheit, Erleuchtung, Nirvana hindern, im zweiten Kreisring ist das Wirken von Handlungen, also von Karma, dargestellt, im dritten und weitaus größten der vier konzentrischen Kreise werden die sechs grundlegenden geistigen Verfassungen dargestellt, in denen wir uns in Abhängigkeit unseres Handelns, unseres Karma, wiederfinden können, und schließlich im Äußersten dieser vier Kreise (Abb. 2) wird das Wirken unseres fehlprogrammierten Geistes beschrieben, ein ewiger Kreislauf, ein cirulus vitiosus, ein Teufelskreis, und das ist auch der Grund, warum für diese Darstellung insgesamt eine kreisförmige Anordnung gewählt wurde.

In den zwölf Abschnitten dieses Kreises wird das sog. Entstehen in Abhängigkeit, paticcasamuppada, der Konditionalnexus, dargestellt, also die Beschreibung dessen, was in Abhängigkeit von bestimmten Bedingungen entsteht. Und da steht an erster Stelle avidya, spirituelle Unwissenheit, etwas, das wir alle teilen und das uns in diesem Teufelskreis gefangen hält.

Das wäre jetzt eine ziemlich fatalistische Weltsicht, wenn der Buddhismus nicht einen Ausweg böte: den Pfad zur Erleuchtung, der in dieser Darstellung gelb eingezeichnet ist und auch in zwölf Abschnitte gegliedert ist, ein Pfad, der von Samsara, vom „ewigen Weltenkreislauf“, eben dem Lebensrad, weg- und zu Vollkommenheit, Erleuchtung, Nirvana, hinführt. Und den zu gehen streben praktizierende Buddhisten an. Um sich dazu zu motivieren, ist es aber äußerst hilfreich, sich zunächst einmal die zyklische Darstellung des Lebensrades zu betrachten. Und darein nehmen wir heute einen kleinen Einblick, eben in dem wir uns avidya ansehen, das im Äußersten dieser vier konzentrischen Kreis am Anfang steht.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Ursache dieses gesamten Daseinskreislaufes drei Geistesgifte, die Wurzelübel sind, diese sind

  • 1. Gier oder Verlangen: würden wir nicht nach so vielen Dingen verlangen, wären wir glücklicher;
  • 2. Hass oder Abneigung: jede Menge Leid entsteht aus Hass - auf diese beiden Grundübel werde ich heute nicht näher eingehen, dies soll einem anderen Vortrag vorbehalten bleiben,
  • 3. spirituelle Unwissenheit oder Verblendung: letztlich entstehen Gier und Hass aus dieser Verblendung, denn
    • a. würden wir nicht aus Gier so vieles haben wollen, wären wir glücklicher
    • b. würden wir nicht so vieles ablehnen, hassen, wären wir auch glücklicher.
Daher kann man mit Fug und Recht sagen, dass Verblendung, dass spirituelle Unwissenheit, das grundlegende dieser drei Übel ist und deshalb steht es auch am Anfang des „Entstehens in Abhängigkeit“, die im äußeren Kreis des Lebensrades dargestellt wird, daher hat es in unserer Darstellung die Nummer 1.

Das Wort avijja in der altindischen Sprache Pali oder avidya in Sanskrit besteht zunächst aus der verneinenden Vorsilbe a- wie in atypisch, asozial oder asymetrisch. Die beiden Sprachen Pali und Sanskrit gehören zur indogermanischen Sprachfamilie, daher kommt uns diese Vorsilbe so bekannt vor und daher sind auch viele oder zumindest einige Worte denen aus dem europäischen Kulturraum etymologisch verwandt. Also haben wir zunächst die verneinende Vorsilbe a-, aber was wird hier verneint? Nun, verneint wird vidya, da steckt vid- drin, wie im lateinischen videre oder in unseren Worten Video, Vision, visuell oder visualisieren. Avidya heißt also Nichtsehen, Blindheit, spirituelle Blindheit, Verblendung. Und das ist auch der Grund warum auf der bildnerischen Darstellung traditionell eine blinde Person abgebildet ist, die sich mithilfe eines Stockes den Weg zu ertasten versucht. Spirituelle Blindheit heißt, die Dinge nicht so zu sehen, wie sie wirklich sind, also etwas anzustreben, was uns nicht zuträglich ist, weil wir zwar die positiven Seiten sehen, die negativen aber nicht sehen, nicht sehen wollen, verdrängen.

Was wäre das positive Gegenstück zu avidya? Nun es wäre „Sicht und Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind“. Das ist also das, was der praktizierende Buddhist anstrebt. Er oder sie möchte die Dinge unverblendet sehen, so wie sie wirklich sind, unbeschönigt, unverzerrt, nicht durch die rosarote Brille des Verlangens und auch nicht durch die schwarze Brille blinden Hasses. Und wenn er die Dinge so sieht, dann kann er wirklich weise handeln, nicht triebgesteuert. Und wenn wir dieses wichtige Etappenziel auf dem Weg zu Vollkommenheit, Erleuchtung, Nirvana suchen, dann müssen wir auf dem Pfad des Praktizierenden Buddhisten nachschauen, wir finden es erst nach einer ganz langen Wegstrecke, hier auf dieser Darstellung (Abb. 3) erst bei Punkt 20, dem dicken Punkt auf dem Pfad der Praktizierenden Buddhisten, schon ganz nah am Ziel, an Vollkommenheit, Erleuchtung, Nirvana, es heißt: „yathabhutha-nana-dassana“, Sicht und Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind.

Und damit haben wir schon eine ganze Menge über den Buddhismus erfahren. Wir haben einiges darüber erfahren, warum wir unzufrieden sind, und wir haben erfahren, warum Buddhisten Vollkommenheit, Erleuchtung, Nirvana anstreben.

Wir sollten uns aber avidya noch etwas genauer ansehen, um zu begreifen, was diese Verblendung im einzelnen verursacht, welche wichtigsten falschen Ansichten dabei zum Tragen kommen. Es sind dies im Wesentlichen drei miccha ditthis, drei falsche Ansichten.
Die erste falsche Ansicht ist, das wir uns vormachen, es gäbe etwas, das uns dauerhaft glücklich machen kann.

  • Ein fünfjähriges Kind glaubt, wenn es erst einmal zur Schule geht, dann wäre es wirklich glücklich.
  • Ein siebzehnjähriger Jugendlicher glaubt, wenn er erst einmal seinen Führerschein und noch ein Auto hat, dann wäre er glücklich.
  • Wenn wir uns verlieben, glauben wir eine Partnerschaft mit dieser Person würde uns dauerhaft glücklich machen.
  • Viele Menschen freuen sich wie die Schneekönige auf ihren Urlaub – und verklagen hinterher den Reiseveranstalter, weil es anders war, als sie sich es erträumt haben.
  • Wie oft haben wir uns schon etwas sehnlichst gewünscht: Partner, Wohnung oder Haus, Arbeitsplatz und hatten insgeheim gehofft, dann wäre alles in Ordnung…
Natürlich wissen wir bei ehrlicher Betrachtung auch schon vorher, dass dann nicht alles in Ordnung ist. Aber dennoch sind wir häufig enttäuscht. Und ent-täuscht kann man nur sein, wenn man sich vorher ge-täuscht hatte, getäuscht darin, die Dinge nicht so gesehen hat, wie sie wirklich sind. Wer von euch nach reiflicher Überlegung sagen kann, er sei in den letzten fünf Jahren noch nie auch nur im Geringsten enttäuscht gewesen, der hat diesen Aspekt von Verblendung bereits überwunden. Ich kann es von mir leider nicht behaupten. Ich möchte das an dieser Stelle nicht weiter ausführen, ich denke wir können später noch darüber diskutieren.

Die zweite falsche Ansicht ist, dass wir an Dingen festhalten wollen, dass wir Veränderungen häufig nicht wirklich wollen, dass wir mit anderen Worten der irrigen Annahme anhängen, es könne so etwas wir Beständigkeit geben. Wir wollen z. B. nicht wahrhaben, nicht in unserem innersten wirklich akzeptieren, dass wir älter werden, dass sich allmählich körperliche Verfallsprozesse einstellen. Wir wollen nicht akzeptieren, dass unser Partner plötzlich Interesse an anderen Dingen hat - oder an anderen Personen. Wir wollen nicht umlernen, sei es am Arbeitsplatz oder anderswo. „Früher war alles besser“ oder „zu DM-Zeiten war alles billiger“ sind typische Anwandlungen dieser falschen Ansicht. Ich denke auch hier gäbe es einiges zu diskutieren.

Und die dritte falsche Ansicht ist die, dass wir uns von unserer Umwelt getrennt sehen. Hier bin ich – da ist die Umwelt, das Umfeld, die Anderen. Schon allein das Wort Umwelt ist ein Typisches Beispiel für dieses falsche Denken. Es gibt keine Umwelt, es gibt nur eine Welt, deren Teil ich bin.

Aber wenn ich mich als von der Umwelt getrennt ansehe, dann sehe ich mich auch in Widersprüchen mit ihr. Alle Auseinandersetzung zwischen Wesen, häufig zwischen Menschen, alle Streitereien, alle Gerichtsprozesse haben hier ihren Grund. Wir glauben uns von anderen in unseren Rechten verletzt, was voraussetzt, dass ich die Welt in „Ich“ und „Ander“ einteile. Hier liegt sicher die höchste Hürde bei der Überwindung von Verblendung.

Eine Anmerkung noch zum Schluss. Wie wirkt ein durchschnittlich, verblendeter Mensch auf einen Vollkommenen? Nun der Buddha hat uns gesagt, wie ein Verblendeter auf ihn wirkt, und auch, wie seine Handlungen auf ihn wirken: Ein Verblendeter, also jeder im Daseinskreislauf, jeder im Rad des Lebens, jeder von uns, wirkt auf einen Erleuchteten wie ein total Betrunkener und die Handlungen, die er oder sie vollzieht, wie die Taten eines Volltrunkenen.

Na dann prost! 


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