Stromeintritt
Stand: 27. Mai 2011
Yathabhuta-nana-dassana



Liebe Freundinnen und Freunde, ich habe heute die Freude, Euch über den entscheidenden Schritt auf dem Pfad zur Erleuchtung zu berichten.

Ich erzähle hier nunmehr seit Beginn des Jahres fast jede Woche etwas über geistige Phänomene. Anfangs habe ich darüber gesprochen, wie der unerleuchtete Geist, der Mensch des samsara, der nicht oder kaum spirituell Praktizierende, handelt. Dies ist in dem Bild links an der Wand dargestellt. Alle Taten gehen auf das Handeln des unerleuchteten Geistes zurück, daher steht avijja – Unwissenheit – am Anfang dieses circulus vitiosus, dieses Teufelskreises, aus dem zu entrinnen uns so schwer fällt. Und so reproduzieren wir aufgrund unserer Unwissenheit, unserer Verblendung, ständig die gleichen Fehler in einer ungemein breiten Vielfalt von Variationen.

Neben unserer spirituellen Unwissenheit sind es insbesondere Verlangen und Abneigung, die uns instinktiv reagieren lassen. Das ist die Bürde der niederen Evolution, die wir in uns tragen. Der Mensch ist ein Mensch, aber er ist eben auch noch immer ein Tier. Er handelt instinktiv, er handelt triebgesteuert. Das Verlangen nach positiven Sinneseindrücken, nach gutem Essen, leckeren Getränken und Sex sowie nach Geld, das uns zur Befriedigung unserer Triebe dient, bestimmt so unseren Alltag.

Aber wir haben auch gesehen: der Mensch muss nicht animalisch-reaktiv handeln. Du bist nicht der pawlowsche Hund. Du hast die Chance kreativ, also nicht-reaktiv zu handeln. Wenn uns dies immer öfter gelingt, haben wir begonnen, den Pfad der Höheren Evolution zu beschreiten. Es ist der Pfad, der hier an der Wand in Gelb eingezeichnet ist, und der aus dem Bereich von samsara, von unerleuchteter Existenz weg und zu nibbana, zu Vollkommenheit, zu Buddhaschaft, zu Erwachen, hinführt. In dieser Darstellung des Pfades geschieht das in zwölf Schritten, den sog. positiven niddanas, sich selbst verstärkende Kettenglieder, die hier mit den Nummern 13 bis 24 bezeichnet sind. Auch im samsara gab es zwölf niddanas, allerdings zyklische niddanas, Kettenglieder, die uns nicht weiterführen, sondern uns im Kreis bewegen lassen.

Und in den letzten Wochen hatte ich Euch dann von diesen progressiven niddanas berichtet, von den Stufen des zwölfgliedrigen Pfades zur Vollkommenheit. Wir hatten gesehen, dass am Anfang dukkha steht, die Erkenntnis der Unvollkommenheit von samsara. Der dringende Wunsch, dass es doch noch etwas Besseres geben muss als die Triebbefriedigung, die nur allzu oft zu Enttäuschung führt. Enttäuschung deshalb, weil wir uns vorher getäuscht hatten, weil wir dauerhaftes Glück dort gesucht hatten, wo Vergänglichkeit ist. Daher haben wir uns diese vielen Produkte gekauft: wir dachten, sie würden uns glücklich machen. Jetzt haben wir eine Ahnung davon, dass es nicht die materiellen Werte sind, die uns glücklich machen.

So entsteht in Abhängigkeit von der Erkenntnis der Unvollkommenheit saddha, Punkt 14, Vertrauen, dass es einen Pfad gibt, der zu wirklichem Glück, zu spirituellem Reichtum, zu Erwachen, zu Vollkommenheit, zum nibbana, führt. Und wenn wir wirklich beginnen, das Gehen dieses Pfades in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen, dann wird uns eine wahre Freude zuteil: pamojja, Punkt 15, heißt Freude. Diese Freude über unsere Fortschritte wird sogar zu ungeheurer Begeisterung, zu überschwänglicher Wonne, zur Ekstase führen, in pali heißt das piti, wir sehen den Begriff als Erläuterung zu Punkt 16. Natürlich hält diese Ekstase nicht an, das ist auch gut so, denn Ekstase, wilde Begeisterung, ist doch eine etwas grob geartete Energie, so kommt es mit der Überwindung dieser groben Energie zu passadhi, zu Beruhigung, wir befinden uns jetzt bei Punkt 17.

Damit ist aber keineswegs die zugrunde liegende Freude negiert, sie ist vielmehr geläutert. Jetzt ist ein stilles Glücksgefühl unser bestimmendes Lebensmoment, es wird als sukha bezeichnet, als Glückseligkeit. Und wenn diese Glückseligkeit, Punkt 18, unser bestimmendes Lebensgefühl geworden ist, dann sind wir derart ausgeglichen, dass unsere Meditationen viel tiefer, viel erfüllter werden. Mühelos tritt nun samadhi, wirklich tiefe Meditation auf. Es gelingt uns mühelos in die dhyanas, die meditativen Vertiefungen zu gelangen. Über dieses samadhi, über Punkt 19 sprach ich beim letzten Mal. Und letztes Mal habe ich auch eine vereinfachte Darstellung des Pfades erläutert, den Edlen Dreifältigen Pfad, den Pfad der regelmäßigen Schritte, bestehend aus sila, samadhi und prajna, aus Ethik, Meditation und Weisheit. Vollkommener samadhi, wirklich tiefe Meditation setzt ein hohes Maß an Ethik voraus und ist seinerseits die Grundlage für wirkliche Weisheit, Weisheit, deren vollendete Form Buddhaschaft, Erwachen, nibbana, ist.

Und tatsächlich ist der nächste Schritt nach samadhi bereits von einem tiefen Maß an Weisheit geprägt, Punkt 20 heißt yathabhutha-nana-dassana, Schau und Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind. Man könnte das auch als völlige Unverblendung bezeichnen. Und wir erinnern uns: Verblendung stand am Anfang unserer Betrachtung. Es war Punkt 1 in samsara. Und unser verblendetes Handeln in samsara hat uns immer wieder im Kreis herumgeführt, in diesem Teufelskreis, diesem circulus vitiosus unerleuchteten Lebens, den wir als samsara bezeichnen.

Und dann hatten wir irgendwann begonnen, uns teilweise von dieser Verblendung zu befreien, hatten begonnen, nicht mehr reaktiv zu handeln, sondern kreativ, und so gelangten wir auf diesen hier gelb dargestellten Pfad der spirituellen Läuterung, den Pfad der Höheren Evolution, den Pfad vom Tier im Mensch zum Buddha, dem Pfad der Emanzipation des Menschen. Und nun an Punkt 20 haben wir die Verblendung ganz überwunden, wir haben Erkenntnis und Schau der Dinge, wie sie wirklich sind, wir haben yathabhutha-nana-dassana erreicht, wir haben uns von der Verblendung vollkommen emanzipiert, sie hat jetzt keine Macht mehr über uns. Damit sind wir samsara, diesem sich ewig drehenden Rad unerleuchteten Handelns völlig entwischt.

Bislang waren da immer noch Elemente von Verblendung in uns, jetzt ist das überwunden. Und es ist nicht nur zeitweilig überwunden, sondern endgültig. Wer die Dinge erkennt und sieht, wie sie wirklich sind, wird diese Sicht nicht mehr verlieren, er oder sie hat sich damit wirklich aus dem trieb- und instinktgesteuerten Tierreich emanzipiert. Bislang unterlagen wir immer noch einem bestimmten Maß an Verblendung, und damit war bis zum Punkt 19 noch ein zeitweiliges oder dauerhaftes Rückfallen in die Verstrickungen von samsara möglich. Das ist nun nicht mehr der Fall.

Traditionell wird dieser Punkt in den buddhistischen Schriften als Stromeintritt bezeichnet, und wer diesen Punkt erreicht hat, als ein oder eine Stromeingetretene, als sotapanna. Das Wort Stromeintritt ist dabei eine Metapher: so wie ein Gegenstand, der vom Ufer weg in die Strömung eines Flusses gelangt von diesem Strom mitgetragen wird, bis er schließlich im weiten Ozean landet, so wird auch der oder die Stromeingetretene von der Strömung selbst ohne weitere Bemühung getragen und schließlich zur Erleuchtung, zu Vollkommenheit, gelangen. Worin der Unterschied zwischen dem Stromeintritt und der vollen Erleuchtung besteht, darüber werde ich bei den nächsten Malen sprechen, offensichtlich gibt es ja noch die Stufen 21 bis 24.

Sehen wir uns also heute den Stromeintritt noch etwas genauer an. Mein Lehrer Sangharakshita verwendet eine etwas andere Metapher als den Eintritt in einem Strom. Das liegt daran, dass er nicht in der Antike in Indien lebte, sondern ein Kind des 20. Jahrhunderts ist, einer Zeit in der sich der Mensch anschickte, ein ähnlich kühnes Unterfangen wie den Pfad zur Erleuchtung zu beschreiten: die bemannte interstellare Raumfahrt. Er vergleicht daher samsara und nibbana mit zwei Himmelskörpern. Und wenn wir uns von einem Himmelskörper zu einem anderen – sagen wir von der Erde zum Mond – bewegen, so wirkt zunächst das Gravitationsfeld des Planeten Erde sehr stark. Ebenso befinden wir uns auch auf dem Pfad zur Erleuchtung von Punkt 13 bis 19 noch immer im Gravitationsfeld des Planeten samsara. Erst bei Punkt 20 geraten wir stärker in das Gravitationsfeld des anderen Himmelskörpers, und dieser ist in der Lage uns anzuziehen, uns in Richtung auf dieses Ziel hin zu beschleunigen.

Und dieser Punkt 20, der Stromeintritt ist es, der alle wirklich praktizierenden Buddhisten begeistert. Denn dies ist etwas, was in einem menschlichen Leben erreichbar ist. Wir können uns in diesem Leben soweit emanzipieren, dass wir Punkt 20 erreichen. Und sollten wir in einem völlig anderen, absolut unspirituellen Umfeld wiedergeboren werden: wir können dennoch nicht zurückfallen. Wir sind auf dem Weg zur Erleuchtung und werden das Ziel in relativ kurzer Zeit erreichen, der Buddha sagt: binnen sieben Leben. Das bitte ich nicht allzu wörtlich zu nehmen, denn wir sehen: er bedient sich der heiligen Zahl sieben, was einerseits bedeutet, dass es sich um etwas spirituell Wichtiges handelt und andererseits für eine kleine überschaubare Anzahl steht.

Und auch wenn der Begriff Stromeintritt im Mahayana-Buddhismus praktisch nicht verwendet wird, geht es auch dort um genau dasselbe. Hier spricht man vom Aufsteigen des Bodhicitta, des endgültigen Erleuchtungsgeistes. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die philosophischen Unterschiede zwischen den beiden Begriffen eingehen, das halte ich im Moment nicht für hilfreich.

Zwei andere Dinge erscheinen mir an dieser Stelle wichtiger, nämlich einmal, durch welche Bedingungen erreicht man diesen Punkt und zum anderen, welche typischen Merkmale hat jemand, der diesen Punkt erreicht hat.

Zu den Bedingungen, die zur yathabhutha-nana-dassana führen, gehört natürlich einmal das Beschreiten des Pfades der regelmäßigen Schritte, den ich beim letzten Mal erläuterte. Dieser Punkt 20 ist schließlich von prajna, von Weisheit, gekennzeichnet, und die Voraussetzungen von prajna sind sila, Ethik, und samadhi, tiefe Meditation, wobei samadhi wiederum ein ethisch gefestigten Lebenswandel voraussetzt. Einzelheiten über diesen Pfad werde ich ab 22. August jeweils montags in einem Kurs mit dem schönen Titel „zielinduzierte Verhaltensoptimierung“ mit den daran Interessierten besprechen.

Eine weitere Voraussetzung für Erreichen von Punkt 20 ist natürlich, dass man diesen Pfad geht, und die Zwischenetappen des Pfades, die Punkte 13 bis 19 habe ich Euch ja bereits erläutert, sie finden sich auch auf unseren Internetseiten sowohl als geschriebener Text als auch als Audiodatei.

In der zehnten Lehrrede des dritten Teils der Digha Nikaya, das ist die Sammlung der längeren Lehrreden des Buddha, erläutert dieser insgesamt vier wichtige Voraussetzungen, um yathabhutha-nana-dassana zu erreichen, es sind dies im einzelnen

1. Umgang mit edlen Menschen
2. Hören der edlen Lehre
3. weise Erwägung und
4. ein Wandel gemäß der Lehre
Der letzte Punkt „Wandel gemäß der Lehre“ ist der Bereich der Ethik. Unter Wandel versteht man das ganze unser Leben bestimmende Verhalten. Nun kann man fragen, warum der Buddha dieses als letzten Punkt aufführt, obwohl wir doch gehört haben, dass es das grundlegende Fundament des Pfades der regelmäßigen Schritte, des Edlen Dreifältigen Pfades ist. Nun, dies liegt daran, dass man eine bestimmte Ethik erst einmal kennen muss, bevor man sie umsetzen kann. Sehen wir uns daher diese vier Punkte in der vom Buddha genannten, sinnvollen Reihenfolge an.

Als erstes nennt der Buddha den "Umgang mit Edlen Menschen". Das ist ganz wichtig. Unser soziales Umfeld bestimmt unser Denken und Handeln mit. Entscheidend ist also, dass wir uns nicht mit niedrigeren, gemeineren, samsarischeren Menschen umgeben, sondern die Gesellschaft derer suchen, die spirituell auf dem Pfad sind, vielleicht spirituell fortgeschrittener sind als wir. Das müssen nicht unbedingt Buddhisten sein. Spirituell orientierte, spirituell erfahrene Menschen gibt es in den verschiedensten spirituellen Richtungen. Es bedeutet also, dass man sich auf die Suche gemacht hat nach spirituell engagierten Menschen. Hier wird man unterschiedliche Dinge hören, hat Gelegenheit unterschiedliche Ansätze zu prüfen. Es ist dies typisch für die Phase des religiös-spirituellen Suchens. Dies ist ein wichtiger Schritt, aber zum Ziel des Buddhismus, zum nibbana, führt natürlich letztendlich nur eine entsprechende Praktik.

Daher kommt man zum Punkt 2 „Hören der Edlen Lehre“. Das ist etwas, in dessen Genuss ihr bereits seid. Ihr hört im Moment gerade die Edle Lehre, den Dharma. Das bedeutet aber nicht, dass damit Punkt 1 für euch nicht wichtig ist. Fortschritte werdet ihr nur machen, wenn ihr weiterhin die edle Lehre hört und Umgang mit edlen Menschen habt. Euer täglicher Umgang, euer Freundeskreis, eure Familie, euer berufliches Umfeld beeinflusst euch, und es ist wichtig zu analysieren, in wieweit du hier Umgang mit edlen Menschen pflegst oder inwieweit dein soziales Umfeld kontraproduktiv ist.

Nehmen wir also an, ihr hättet einen Umgang mit mehrheitlich edlen Menschen und ihr würdet hier jede Woche kommen und meine Vorträge hören, vielleicht auch gelegentlich in ein einschlägiges Buch schauen. Was dann?

Nun der nächste Punkt ist „weises Erwägen“. Es langt also nicht, die Lehre zu hören. Sondern sie muss auch wirklich in unserem Geist und in unserem Herzen ankommen. Das wird im Buddhismus mit dem Dreiklang „Hören – Reflektieren – Meditieren“ bezeichnet. Nach dem Hören kommt also das Reflektieren, das man auf zwei Arten machen kann: alleine darüber nachdenken, also wenn ihr heute oder morgen darüber reflektiert, was ich hier erzählt habe, vielleicht euch meinen Vortrag noch mal anhört oder durchlest, um die Einzelheiten genauer mitzubekommen. Und dem dient natürlich auch die Gesprächsrunde, die wir hier immer nach den Vorträgen einlegen. Und der dritte Begriff dieses Dreiklanges ist Meditation. Wenn wir etwas gehört haben, wenn wir intensiv darüber reflektiert haben, dann wird sich in der Meditation das Gehörte und Reflektierte tiefer in uns verwurzeln, und zwar ohne dass wir in der Meditation darüber nachdenken. Das Reflektieren kommt vor dem Meditieren. Hören – Reflektieren – Meditieren ist übrigens der übergeordnete Titel unserer montäglichen Reihe von Studienkursen. Das bedeutet, wenn man diese Kurse belegt, hat man alle bisher genannten drei Voraussetzungen für den Stromeintritt, nämlich (1.) Umgang mit Edlen Menschen (die sammeln sich nämlich dort an), (2.) Hören der Edlen Lehre und (3.) (gemeinsames) weises Erwägen.

All das sind notwendige Bedingungen. Aber in der Wissenschaft kommt zu den notwendigen noch die hinreichende Bedingung dazu, um ein Ziel zu erreichen. Nur mit den drei notwendigen Bedingungen allein können wir gebildet werden, aber nicht wirklich weise. Die hinreichende Bedingung aber ist der „Wandel gemäß der Lehre“. Die hinreichende Bedingung ist Ethik. Die hinreichende Bedingung ist zielinduzierte Verhaltensoptimierung.

Und da die Zeit schon fortgeschritten ist und wir ja noch Zeit zum gemeinsamen Reflektieren haben möchten, gehe ich auf die andere Frage, nämlich, wodurch sich derjenige auszeichnet, der oder die Erkenntnis und Schau der Dinge, wie sie wirklich sind, erreicht hat, nur mit einem einzigen Satz ein. Es sind drei Merkmale, die er erreicht hat, drei Fesseln, die er überwunden hat:

  • er oder sie hängt nicht mehr an Regeln und Riten um ihrer selbst willen
  • er oder sie hegt keinen Zweifel mehr daran, dass dieser Pfad zielführend ist
  • er oder sie hat den Persönlichkeitsglauben aufgegeben, das heißt er oder sie sieht sich nicht mehr als eine abgetrennte Entität an, glaubt nicht mehr an einen unveränderlich Wesenskern in sich und hat die gedanklichen Mauern zwischen Ich und Ander eingerissen.


© Copyright 2011 by Horst Gunkel, Gelnhausen.

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