Milarepa
Teil VI der Reihe "Inspirations- und
Zufluchtsbaum
erzählt
von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt, Gelnhausen (2012)
letztmals
bearbeitet 2024
Es
war
zu jener Zeit, da Tibet noch nicht vom Buddhismus durchdrungen
war,
aber es gab bereits buddhistische Lehrer neben der noch
starken
tibetischen Bön-Religion und neben allerlei Magie.
Auf einem Bauernhof etwas abseits von einem Dorf lebte eine
Familie mit einigen Kindern, darunter der etwas zwielichtige junge
Held
unserer Geschichte, Milarepa. Als Milarepas Vater starb, kam es
zwischen der Mutter und den Verwandten des Vaters zu
Erbstreitigkeiten,
wie dies nicht nur damals und nicht nur in Tibet eine häufig geübte
Praxis war. Diese Erbstreitigkeiten wuchsen sich so weit aus, dass
sich
eine regelrechte Feindschaft entspann.
Milarapas
Mutter
fühlte sich zu Unrecht benachteiligt und sann auf Rache. Sie
lebte allein mit ihren Kindern in dem abgelegenen Gehöft in
Sichtweise
des Dorfes, und ihre Feindschaft zur Verwandtschaft steigerte sich
allmählich zur Obsession. Häufig stand sie mit verschränkten Armen
und
verbissenem Gesicht am Fenster und blickte zornig auf die Anwesen
ihrer
Verwandten hinab. Fieberhaft arbeitete es in ihrem wütenden Hirn:
wie sollte sie, eine einsame Witwe mit kleinen Kindern, sich gegen
die
Übermacht der Verwandtschaft zur Wehr setzen? Mit normalen Mitteln
war
dies nicht möglich. Also blieben nur paranormale Mittel, über die
sie
leider nicht verfügte. Sie sehnte sich danach, als black
magic woman ihre Verwandten heimzusuchen.
Es
gab
in dieser Zeit in Tibet zahlreiche Meister der Magie. Manche von
ihnen setzten diese Kräfte zum Nutzen der Menschen ein,
beispielsweise
als Heiler, aber es gab auch die anderen, die Meister der Schwarzen
Magie - und genau dies fesselte die Gedanken von Milarepas Mutter.
In
ihr reifte ein teuflischer Plan heran, bei dem der Sohn zum Mittel
ihrer Rache werden sollte.
Der
begabte
Sohn war seiner Mutter treu ergeben - wie auch anders, war sie
doch praktisch die einzige erwachsene Person, zu der der Junge
Kontakt
hatte, und natürlich übertrug sie ihren in Verfolgungswahn
wurzelnden
manischen Hass auf ihre Kinder. Man kann geradezu sagen, diese
Familie
war ein Musterbeispiel dafür, was der renommierte Psychologe Prof.
Horst-Eberhard Richter im
20. Jahrhundert in seinen Büchern "Eltern, Kind, Neurose" und
"Patient
Familie" beschrieben hat.
Als
Milarepa
zum Teenager herangewachsen war, und er genug von der
Familienneurose in sich aufgesogen hatte, schickte seine Mutter ihn
in
die Lehre zu - wie konnte es anders sein - einem Meister der
Schwarzen
Kunst. Und schon bald war Milarepa so weit, seiner Mutter mit ersten
Diensten zu Hilfe zu eilen. So gelang es ihm, das besondere
Wohlwollen
seiner Mutter dadurch zu erringen, dass er einen Gewittersturm
entfesselte und so genau platzierte, dass zwar die Ernte der
Verwandtschaft (und – Kollateralschaden – die eines großen Teils der
anderen Bauern) vernichtet wurde, nicht jedoch die auf den eigenen
Feldern. Natürlich ging bald die Kunde, dass Milarepas Mutter mit
schwarzen Mächten im Bunde war und selbst wohl eine gefährliche Hexe
sei, dies umso mehr als wenige Tage nach dem Gewittersturm der
Wortführer von Milarepas feindlicher Verwandtschaft auf
geheimnisvolle
Weise plötzlich verstarb.
Milarepa
aber
ging weiter in die Lehre beim Meister der Schwarzen Magie, auch
wenn sich in ihm inzwischen leichte Zweifel hegten, ob denn das
alles
richtig sei, was er da mache. Einerseits konnte er die Leiden der
Menschen im Dorf erahnen, andererseits geriet er, wann immer er das
elterliche Anwesen betrat, in den Bann seiner Mutter. In ihm regte
sich
der natürliche Wunsch, von ihr, die ihm sein Leben geschenkt hatte,
von
der Mutter, die ihn gesäugt hatte, geliebt und anerkannt zu werden.
Fatalerweise verlangte sie jedoch von ihm, seine magischen Kräfte
zum
Schaden der Verwandtschaft einzusetzen.
Im
nächsten
Jahr kehrte er wieder von seiner Ausbildung in der Schwarzen
Kunst zurück, und erneut hegte er die Hoffnung, seiner Mutter
irgendwie
anders dienstbar sein zu können, vielleicht als Erntehelfer, denn er
war inzwischen ein starker junger Mann. Aber erneut wurde er von dem
geheimnisvollen Wirken der mütterlichen Neurose eingefangen, und er
gab
ihren Wünschen wiederum nach. Von heftigen Zweifeln ob seines
Wirkens
gepackt, aber letztlich doch aus Liebe zur Mutter führte er –
diesmal
unter Tränen – einen noch stärkeren Zauber aus: ein Unwetter
beschwor
er herauf, das seinen Fokus genau dort hatte, wo die verhasste
Verwandtschaft lebte. Der Zauber hatte einen doppelten Erfolg:
einerseits die Vernichtung der Verwandtschaft, andererseits wurde er
zum Wendepunkt in Milarepas Leben.
Als
die
Kunde davon, was das Unwetter angerichtet hatte, auf ihren Hof
drang, war die Mutter hocherfreut: der Zauber hatte tatsächlich die
Häuser der Verwandtschaft zerstört, keine dieser verhassten Familien
kam ungeschoren davon, insgesamt achtzehn Verwandte waren
umgekommen,
Männer, Frauen und Kinder, dazu zahlreiches Vieh. Die Mutter war
stolz
auf ihren Sohn Milarepa und dieser erhielt das kostbarste
Familienerbstück, einen großen, wertvollen Edelstein.
Milarepa
selbst
war alles andere als begeistert vom Erfolg seiner Taten. Er nahm
den Edelstein, den Blutlohn, setzte sich hinter das Haus und heulte
die
ganze Nacht Rotz und Wasser. Am nächsten Tag stand sein Entschluss
fest: er musste hier weg. Er musste sich vom Einfluss seiner Mutter
befreien, er musste wegziehen und das Gute lernen, um das Böse, das
in
ihm eine Heimstatt gefunden zu haben schien, zu bekämpfen.
Während
seiner
Lehrzeit hatte er von anderen Meistern gehört, die andere
geheime Künste beherrschten, u. a. vom Meister Marpa, der den
tantrischen Buddhismus praktizierte. Zu diesem wollte er, um ihn um
eine Unterweisung zu bitten.
Selbigen
Tages verlies Milarepa den Ort seiner Schandtaten, verließ die
Mutter und sollte sie zeitlebens nicht mehr wiedersehen.
Erst
sehr viel später, nach Jahrzehnten, als aus ihm ein weiser Siddhi
geworden war, als Milarepa bereits als der Sänger der 10.000 Lieder
galt und als Tibets berühmtester Yogi, sollte er an die Stätte
seines
frühen Wirkens zurückkehren, aber zunächst folgten Sühnejahre.
Erst
nach
Jahrzehnten kehrte Tibets großer Yogi Milarepa in seinen
Geburtsort zurück. Natürlich erkannte ihn, einen unbekannten
Wanderer,
dort niemand mehr und so konnte er sich im Ort inkognito nach seinem
Elternhaus erkundigen.
"Ja,
das Haus gibt es, aber ihr solltet dort nicht hingehen, es ist ein
verwunschener Ort, die Heimstatt des Bösen."
"Ist es denn noch bewohnt?" erkundigte sich Milarepa.
"Das
weiß
niemand genau, weil sich niemand dem Haus auf
weniger als eine
Meile nähert. Vor langer Zeit wohnte dort eine böse Hexe, die Tod
und
Verderben über unsere Dorf brachte. An solch verwunschene Stätte
begibt sich niemand. Wir können froh sein, dass von dort seit langem
kein Unheil mehr über uns kam."
Milarepa
begab sich zu seinem Elternhaus, es sah verlassen aus.
Er klopfte. - Nichts.
Er rief. - Nichts.
Dann versuchte er die Tür zu öffnen. Sie fiel ein. Er trat ins Haus:
gespenstische Stille. Es sah aus, als sei seit Jahrzehnten nicht
mehr
sauber gemacht worden. Zentimeterdick lag der Dreck herum. Es gab
längst keine Mäuse oder Ratten mehr, denn es gab nichts, wovon diese
sich hätten ernähren können.
Er
trat
in die Küche. Das gleiche Stillleben. Doch nein, da war ein
Unterschied, mitten in der Küche lag ein kleiner Haufen Erde.
Milarepa
wollte sich gerade davon abwenden, da assoziierte er plötzlich ein
Bild
aus seiner Jugend, und er wandte sich wieder diesem Erdhaufen zu. Es
war der Stofffetzen, der aus dem Erdhaufen herausschaute, der seine
Aufmerksamkeit erregt hatte und der plötzlich das Bild von seiner
Mutter vor seinem geistigen Auge erscheinen ließ. Er ging hin und
zog
den Fetzen heraus. Tatsächlich, das Muster kannte
er,
es war das Muster eines Kleides seiner Mutter. Eine Träne in den
Augen zog er weiter an dem Stoff und jetzt kamen einige halb
vermoderte
menschliche Knochen aus dem Erdhäufchen zum Vorschein.
Einige
Momente
stand Milarepa andächtig schweigend vor den letzten Resten
seiner Mutter. Dann kniete er nieder, schob den Erdhaufen, die
Knochen
und die Kleiderfetzen zu einer Art Kissen zusammen und setzte sich
darauf nieder, um sich in einer die ganze Nacht dauernden Meditation
zu
sammeln.
Milarepa
war
nach Hause zurückgekehrt als er sicher war, dass das hasserfüllte
Herz seiner Mutter ihm nicht mehr gefährlich werden konnte. Er war
bereit, sich mit der Vergangenheit ein letztes Mal
auseinanderzusetzen
und sich über das hinweg zu setzen, was seine verpfuschte Jugend
ausgemacht hatte.
Ich
kenne
keine andere Geschichte in der die Aufarbeitung einer Psychose
und das "sich darüber hinwegsetzen" so buchstäblich ausgedrückt wird
wie an der Stelle, als sich Milarepa in der Meditation "über seine
Mutter hinwegsetzt".
Doch
wie war Milarepa auf den rechten Pfad gekommen, wie war es ihm bei
Meister Marpa ergangen?
Nachdem
Milarepa
in seiner Jugend so schreckliche Verbrechen auf Grund einer
Familienneurose begangen hatte, verließ er seine Mutter und sein
Elternhaus, um sich dem unheilvollen Einfluss dieser Person zu
entziehen. Er hatte einen kostbaren Edelstein bei sich und war auf
der
Suche nach einem Lehrmeister, der ihn in den Dharma, die Lehre des
Buddha einführte. In dieser Zeit breitete sich der tantrische
Buddhismus unter indischem Einfluss in Tibet allmählich aus.
Milarepa
war auf der Suche nach Marpa, der mit Indien im Kontakt stand und
der
am besten in der Lage sein sollte, ihm die Lehren des Dharma zu
geben.
Nach
einer
mehrtägigen Wanderung kam er in das Tal, in dem Marpa lehrte. Er
fragte einen Bauer auf dem Feld, wo er Marpa finden könnte, denn er
wusste nicht, dass der Bauer kein anderer war als Marpa selbst.
Marpa
erfasste die Situation sofort. Er sah, dass dieser junge Mann auf
der
Flucht war, auf der Flucht vor sich selbst, auf der Suche nach dem
Dharma. Marpa sah auch, dass Milarepa in seinen derzeitigen
Geisteszuständen längst noch nicht reif war für die Einweihung in
das
Tantra, das er anstrebte.
Marpa
lebte
in diesem Tal allein mit seiner Frau. Er bebaute den Acker und
sie versorgte das Haus. Marpa stellte klare Bedingungen: als
Lehrgeld
müsse Milarepa den Edelstein zahlen, den er von seiner Mutter
erhalten
hatte, er habe als Knecht zu arbeiten und alles zu tun, was Marpa
von
ihm verlange, er bekäme dafür keinerlei Lohn, aber ausreichend zu
essen
und eine Schlafstelle. Marpa wäre bereit, ihm die Einweihungen zu
geben, wenn Milarepa genug für ihn gearbeitet habe und reif dafür
sei.
Lehrjahre
sind
keine Herrenjahre, sagt ein deutsches Sprichwort. Aber
normalerweise sind Lehrjahre auch keine Sklavenjahre. Milarepas
Jahre
bei Marpa aber waren Sklavenjahre. Marpa verlangte von Milarepa
nicht
nur die härteste Arbeit, er erwies sich auch als unberechenbar und
jähzornig. Nach vielen Jahren war Milarepa am Ende. Er wollte nur
noch
weg. Marpa bemerkte dies und zündete Stufe zwei seiner
Schikanen.
"Es
gibt
da gewisse Fortschritte bei dir, Milarepa. Ich denke, wenn du noch
eine letzte Aufgabe erledigt hast, dann bist du so weit, dass ich
dir
die Einweihung geben kann."
Milarepa,
der
schon der Verzweiflung nahe gewesen war, war überglücklich, als er
sich dem Ende seiner Leiden nahe gekommen wähnte, allerdings
verschlug
es ihm die Sprache, als Marpa ihm sagte, was denn die letzte Aufgabe
sei: "Bau mir einen schönen Turm, drei Stockwerke hoch auf dem
kleinen
Berg am Ende des Tales, die Steine dafür findest du unten im
Tal."
Milarepa
wusste
nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Einerseits war es nur
noch eine einzige Pflicht, die er zu erfüllen hatte, andererseits
war
dies eine Aufgabe, die einen einzelnen Mann schier überforderte:
einen
Turm! Drei Stockwerke hoch! Das bedeutet doch: einen Turm mit Tür,
Fenstern, Dach, Wendeltreppe und Zwischenebenen! Und das auf einem
Berg! Und die Steine lagen im Tal! Diese Nacht verbrachte Milarepa
mit
Weinkrämpfen, während Marpa seelenruhig schlief und sich Marpas Frau
unruhig umherwälzte ob der offensichtlichen Schikane ihres Mannes
gegenüber Milarepa.
Am
nächsten
Morgen hatte sich Milarepa durchgerungen. Er hatte schon viele
Jahre hier verbracht. Sein einziger Besitz, der Edelstein, war weg.
Zwar lag eine gigantische Arbeit vor ihm, aber in zwei, drei Jahren
konnte er es schaffen, wenn er sich anstrengte. Und wie würde er
sich
anstrengen! - Marpa hingegen war
in aufgeräumter Stimmung, er
ließ sich das Frühstück ausgezeichnet schmecken.
Milarepa
arbeitete
wie ein Tier: schon lange vor der Morgendämmerung stand er
auf, und wenn das erste Sonnenlicht über die Berge blitzte, war er
bereits auf der Baustelle, schleppte Steine, haute sie zurecht,
verbaute sie. Und spät abends nach Einbruch der Dunkelheit kehrte er
zurück, gebeugt von der Arbeit, mit zitternden Händen, die übersät
waren von Wunden, die er sich bei der harten Arbeit zugezogen hatte.
Auch seine lumpenumwickelten Füße waren blutig, denn so etwas wie
Sicherheitsschuhe gab es natürlich nicht, und seine Haut war rissig.
Er
arbeitete in sengender Sonne, er arbeitete in eisigem Wind bei Regen
und er arbeitete auch in den langen kalten Monaten, in denen Tibet
vom
Schnee bedeckt ist. In nur gut zwei Jahren hatte er es geschafft. Er
war stolz!
"Es
ist
so weit", verkündete er Marpa, "der Turm ist fertig. Morgen kannst
du ihn besichtigen, und dann kannst du mir die Einweihungen in die
geheimen Lehren des tantrischen Buddhismus geben." Am nächsten
Morgen
war Milarepa wieder zeitig auf, er war frohgemut und erstmals seit
mehr
als zwei
Jahren
nahm er sich ausgiebig Zeit fürs Frühstück, denn er musste nicht
auf die Baustelle. Er hatte Zeit, um auf Marpa zu warten. Auch
dieser
war guter Dinge, Milarepa nahm dies als gutes Zeichen, und also
gingen
sie in Richtung auf den Turm zu. Als sie die letzte Wegbiegung
erreicht
hatte, zeigte Milarepa nach oben und verkündete stolz: "Da ist er."
Tatsächlich stand auf dem Berg ein wohlgestalteter Turm, drei
Stockwerke hoch, eine wahre Zierde menschlicher Schaffenskraft.
Niemals
würde jemand glauben, dass ein einzelner Mann ein solches
Meisterwerk
vollbracht habe, das noch in Jahrhunderten von der Genialität seines
Baumeisters zeugen würde.
Marpa
funkelte
Milarepa wütend an: "Bist du denn verrückt, Mann? Was soll
denn das? Ein Turm auf dem Berg da links! Natürlich gehört der Turm
auf
den Berg dort rechts! Marsch, zurück an die Arbeit, dorthin gehört
der
Turm, nach rechts, es ist ein Frevel einen Turm dahin zu bauen -
nach
links. Ach - und bevor du mit dem neuen Turm beginnst: zuerst kommt
der
alte Turm da weg. Flusskiesel für den Turmbau zu verwenden - so
etwas!
Alle Flusssteine werden in den Fluss zurück gebracht, und dann
kannst
du mit den Steinen aus jenem Steinbruch dort den richtigen Turm
bauen,
aber auf dem rechten Berg, Trottel." Damit wandte sich Marpa um und
ging zurück, ein Liedchen trällernd.
Milarepa
war
außer sich ob dieser Ungerechtigkeit. Mit keinem Wort hatte Marpa
erwähnt, dass der Turm auf den rechten Berg gehöre, ebenso wenig,
dass
nur bestimmte Steine verwendet werden sollten. Zwei Jahre lang hatte
sich Milarepa jetzt geplagt, niemals wollte Marpa etwas vom Fortgang
der Arbeiten hören, niemals ließ er sich am Bau blicken - und jetzt
das!
Drei
Tage
und drei Nächte blieb Milarepa beim Turm und heulte Rotz und
Wasser. Dann - als er wusste, das Marpa auf dem Feld war - schlich
er
sich zu dessen Frau, dem einzigen anderen Menschen im Tal, und
klagte
ihr sein Leid.
Marpas Frau hatte aufrichtiges Mitleid mit Milarepa, sie billigte
die Handlungen
ihres
Mannes keineswegs. Milarepa bat sie, in den nächsten Tagen
herauszufinden, ob Marpa ihm jemals die Einweihungen geben wollte,
oder
ob er nur gedachte, ihn weiter zu schikanieren. Die Frau sagte dies
zu,
und versicherte Milarepa außerdem, jeden Tag eine Extraportion
gekochten Essens abzuzweigen und diese ihm in einem Topf mit auf den
Weg zu geben, denn sie sah mit zunehmender Sorge, dass der einst so
kräftige junge Mann zusehens abmagerte.
Tag
für
Tag arbeitete Milarepa jetzt am Abbau des Turmes. Ein Trost waren
ihm die Extraportion Essen und das aufmunternde Schulterklopfen, das
er
von der Frau erhielt, wann immer es Marpa nicht sehen konnte. Nach
zwei
Wochen erhielt Milarepa von Marpas Frau gute Nachricht. Sie habe
Marpa
unverfänglich in ein längeres Gespräch verwickelt. Marpa sei
überzeugt,
Milarepa mache gute Fortschritte und ein Turm dürfe natürlich nicht
auf
die linke Seite gebaut werden, dies sei von alters her der Brauch,
dies
würde nur böse Geister anlocken. Es sei wohl alles doch keine
Schikane
gewesen - Marpa sei vielmehr wirklich erstaunt gewesen, dass
Milarepa
nicht gewusst habe, dass ein Turm auf der linken Seite Unglück
bedeute.
So
schöpfte
Milarepa neuen Mut und nach gut einem halben Jahr war der
"linke Turm" verschwunden, alle Steine waren zurückgebracht und
Milarepa konnte sich von Neuem an den Turmbau machen. Leider erwies
sich das Gestein aus dem Steinbruch als schwieriger zu verarbeiten -
auch mussten diese Steine erst aus dem Berg gehauen werden und lagen
nicht wie die im Fluss einfach nur herum, um von irgend jemandem
aufgelesen zu werden - weiterhin waren sie ungünstiger zu
transportieren als die dicken Flusskiesel. Milarepa machte sich aus
einem Yakfell einen Ledersack, mit dem er die scharfkantigen Steine
auf
dem Rücken transportieren konnte, aber es war dennoch in noch viel
stärkerem Maße eine Knochenarbeit als der erste Turmbau. Trotz des
Yakfells auf seinem Rücken verletzten ihn mehr und mehr Steine und
bald
schon war sein Rücken übersät mit schwärenden Wunden. Hätte Marpas
Frau
ihn nicht mit einer Salbe
aus Yakfett und allerlei Kräutern behandelt, er hätte die
Anstrengung gewiss nicht überlebt.
Nach
abermals
zwei Jahren war der neue Turm fertig. Milarepa war diesmal
ebenso stolz wie unsicher - bei Marpa wusste man schließlich nie,
woran
man war. Am Morgen der entscheidenden Inspektion war Milarepa zeitig
auf. Die Frau hatte ihm das Frühstück gemacht. Als es Marpa nicht
sah,
nahm sie Milarepa in die Arme, drückte ihn an sich und sagte: "Ich
drück´ dir die Daumen, Kleiner."
Marpa hatte es an diesem Tage nicht eilig. "Geh schon vor, Milarepa,
ich habe noch etwas zu erledigen, ich komme im Laufe des Tages
vorbei
und sehe mir dein Kunstwerk an." Milarepa fühlte sich wie auf heißen
Kohlen. Würde er endlich am Ende seines Frondienstes sein und die
Einweihungen erhalten? Oder würde Marpa wieder wegen einer
Kleinigkeit
aus der Haut fahren und ihm befehlen, den Turm abzureißen?
Je
weiter
der Tag verstrich, desto unsicherer war Milarepa, ob Marpa
überhaupt erscheinen würde. Als die Abenddämmerung kam, beschloss er
zurückzugehen, da es offensichtlich aussichtslos war, auf Marpa zu
warten. Da hörte er von Ferne einen ziemlich unmelodischen Gesang -
das
konnte nur Marpa sein. Und tatsächlich, wenig später bog Marpa
sichtlich angeheitert um die Ecke, sah den Turm, setzte sich auf den
Boden und wollte sich gerade ausschütten vor Lachen. Milarepa wusste
jetzt überhaupt nicht, woran er war.
"Was
soll
denn das sein?," fragte Marpa und wurde erneut von Lachkrämpfen
durchschüttelt. "Junge, soll das fürs Museum sein oder was?"
Milarepa
verstand überhaupt nichts mehr.
"Ein
runder
Turm!? Ein runder Turm! Junge, in welchem Jahrhundert lebst du
eigentlich? Runde Türme sind seit über fünfzig Jahren aus der
Mode!"
"Du
willst doch nicht", fragte Milarepa zitternd, "dass ich diesen Turm
einreiße und dir einen eckigen stattdessen baue?"
"Natürlich
kommt
der altmodische Kram da weg und an seiner Stelle baust du mir
einen schönen eckigen Turm!", sprach´s und wandte sich zum Gehen.
Zumindest hat er nicht verlangt, dass ich alle Steine zurücktrage,
dachte sich Milarepa, der inzwischen schon über kleine Dinge froh
sein
konnte. Bevor sein Meister rülpsend um die Ecke verschwand, rief er
ihm
noch geistesgegenwärtig nach: "Einen viereckigen Turm meint ihr?"
"Ha,
ha, ha," kam die Antwort, "einen dreieckigen natürlich,
Dummkopf."
"Es
hätte
schlimmer kommen können", dachte sich Milarepa. "Den Turm
abreißen und an Ort und Stelle einen neuen zu bauen, das dürfte in
anderthalb Jahren zu schaffen sein, wenn ich mich richtig anstrenge.
Aber warum will der Alte ausgerechnet einen dreieckigen Turm, davon
habe ich noch nie etwas gehört."
Andererseits war es ein gutes Zeichen, endlich zu wissen, was Marpa
wollte. Je länger er darüber nachdachte, desto klüger kam er sich
vor,
dass er gefragt habe, ob der Turm viereckig sein sollte, wie
eigentlich
alle Türme, die nicht rund sind.
So
fasste
Milarepa neuen Mut und arbeitete, so rasch er nur konnte. Er
verausgabte sich zu sehr. Eine heftige Krankheit schüttelte seinen
ausgemerkelten und geschundenen Körper durch und ein hohes Fieber
befiel ihn. Ohne die Fürsorge von Marpas Frau hätte er zweifelsohne
nicht überlebt. Die Frau machte sich mehr und mehr zum Fürsprecher
von
Milarepa. Wenn Marpa und seine Frau abends im Bett aneinander
gekuschelt lagen, und er in guter Stimmung war, versuchte sie ihn
wiederholt darauf aufmerksam zu machen, wie folgsam der inzwischen
nicht mehr ganz so junge Mann war, wie schwer er schuftete, und dass
er
doch bald seinen lang verdienten Lohn erhalten müsse. Doch das war
die
Stelle, an der sich Marpa jedes Mal aus dem Bett erhob, vor die Tür
ging, einen Krug Bier holte, sich brummbärig an den Tisch setzte und
trank, statt ihr zu lauschen.
Nach
geraumer
Zeit war es so weit, Milarepa hatte erneut den gewünschten
Turm errichtet. Am Abend, als Marpa gut gelaunt, ein Lied auf den
Lippen, vom Feld heimkehrte verkündete Milarepa: "Meister, er ist
fertig."
Marpa
strahlte: "Wirklich, ist das wirklich war, mein Turm ist endlich
fertig?"
"Ja, Meister."
"Und er ist an der von mir bezeichneten Stelle?"
"Ja, Meister."
"Und er ist eckig, nicht rund, Milarepa?"
"Ja, Meister, er ist dreieckig."
"Dreieckig?
Sagtest du DREI-eckig? Hat man jemals etwas von einem dreieckigen
Turm gehört? - Du scherzt!"
"Nein,
Meister,"
Milarepa lief es eiskalt den Rücken herunter, "ihr habt
ausdrücklich verlangt, dass er dreieckig sein müsse."
"So?
-
Dann muss ich besoffen gewesen sein. Kein Mensch verlangt mit klarem
Kopf einen dreieckigen Turm! Allerdings baut auch kein Mensch, der
bei
klaren Sinnen ist, einen dreieckigen Turm. Mensch, Milarepa, das
hätte
dir doch klar sein müssen! Natürlich muss der Turm weg und ein
viereckiger muss hin. Basta!"
Marpa sprach´s und verzog sich ins Bett.
Bitterlich weinte Milarepa, ein Weinkrampf durchschüttelte seinen
Körper, und die Frau ging zu ihm, ihn zu trösten. An ihrem Busen
weinte
er sich aus wie ein Kind, während sie ihm zärtlich über den Kopf
strich, wo sein Haar schon schütter wurde, ob der zu wenig
ausgeglichenen Ernährung bei gleichzeitig extrem harter Arbeit. Dann
flüsterte sie: "Hast du ihn wirklich dreieckig gebaut?" Das aber
erschütterte Milarepa noch mehr, so dass er einen neuen Weinkrampf
bekam. Jeder normale Mensch musste schließlich, genau wie diese
Frau, denken,
dass
ein dreieckiger Turm wirklich absurd ist. Nur ihn hatte in seiner
Verblendung gedünkt, er sei besonders pfiffig gewesen, als er
nachgefragt hatte: "Viereckig?" Natürlich waren eckige Türme
viereckig,
und natürlich war es ein Scherz, auf eine solch absurde Frage mit
"dreieckig" zu antworten. Er sah ein, dass es diesmal seine eigene
Schuld war.
Er
pausierte
drei Tage, an denen er nur zum Turm ging und ihn unter Tränen
ansah, bevor er sich an den Abriss machte. Einige Tage später sagte
er
zu der Frau: "Ich weiß es war diesmal mein Fehler. Aber ich weiß
auch,
dies ist definitiv der letzte Turm, den ich baue. Gibt mir Marpa die
Einweihung dann nicht, dann weiß ich nicht, wie es weitergehen wird.
Ich weiß nur, dass ich dann hier fort bin.
Am
Abend
im Bett berichtete sie ihrem Gemahl Wort für Wort, was Milarepa
gesagt hatte. Diesmal ging Marpa nicht zum Bier. Er grunzte nur:
"Hmm!", und drehte sich um, um zu schlafen. Marpas Frau kannte ihren
Mann schon so lange, aber sie wusste dennoch nicht, ob dies ein
gutes
oder ein schlechtes Zeichen war.
Eigentlich
hatte
Milarepa gedacht, nach so vielen Bauarbeiten würde ihm dieser
letzte Turmbau nichts mehr ausmachen, doch er irrte sich gewaltig.
Zu
sehr hatte er sich in den vergangenen Jahren verausgabt. Von Narben
übersät war sein Körper, und zwischen den Narben klafften frische
Wunden, sie heilten immer schlechter, trotz der Kräutertinkturen,
die
Marpas Frau Milarepa auftrug. Eines Tages, als sie ihm eine Wunde am
Handgelenk versah, wo die Haut aufgerissen war und der Knochen bloß
lag, sah sie, wie aus dem Knochen das Mark austrat. "Marpa, ich
fürchte
mit Milarepa geht es zu Ende", sagte sie ihm abends im Bett. -
"Hmmh", war Marpas Antwort, sonst nichts.
Die
Frau
tat ihr Möglichstes, Milarepa mit dem nötigen vitaminreichen Obst
und Gemüse zu versorgen, was im kargen Tibet alles andere als leicht
war. Milarepa hatte inzwischen ganz sein eigentliches Lebensziel aus
den Augen verloren. Er machte die ganze stumpfsinnige Knochenarbeit
nur
noch um ihrer selbst willen. Bauen, um zu bauen, um einen Turm
zu bauen. Einen viereckigen. Und dann fertig. Nie wieder Turm, nie
wieder bauen.
An
einem
frischen Aprilnachmittag kam Milarepa von der Baustelle zurück,
auf einen Krückstock gestützt, denn sein rechtes Bein war verletzt.
Er
ging in die Küche, in der sich Marpa und die Frau befanden. Milarepa
ließ sich auf den Stuhl fallen: "Fertig", sagte er.
"Wer?",
fragte Marpa und zog eine Augenbraue hoch, "der Turm oder du?"
"Beide."
"Wann
gehen
wir ihn ansehen, Milarepa?" Dieser zuckte nur leicht mit den
Achseln. Die Frau war nicht sicher, ob Milarepa den nächsten Morgen
noch erleben würde. "Iss´ eine kräftige Suppe, dann gehen wir!"
sagte
sie bestimmt.
Marpa
zog
abermals eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts, er grunzte nicht
einmal. Sie gingen zusammen zum Turm, das heißt, Milarepa ging
eigentlich nicht, er schleppte sich - auf der einen Seite von Marpa,
auf der anderen von der Frau gestützt - zum Turm.
Als
sie um die letzte Wegbiegung kamen, hing Milarepas Blick ängstlich
an Marpa: "Ist er so, wie ihr in braucht, Meister?"
Marpa
blickte keinen Augenblick zum Turm, er sah Milarepa nur in die
Augen: "Ja, er ist genauso, wie ich ihn brauche."
"Aber Meister, ihr habt ihn doch noch gar nicht gesehen!"
"Doch,
Milarepa,
ich sehe ihn die ganze Zeit an, ER ist jetzt genau so, wie
ich ihn brauche", antwortete Marpa und zeigte auf Milarepa.
Am
nächsten
Tag begann Marpa Milarepa die Lehre zu erläutern, es folgten
die tantrischen Initiationen. Milarepa erreichte die Erleuchtung und
wurde zu Tibets bis heute bedeutendsten Yogi.
Zu Meditation
am Obermarkt
Zurück
zu den Artikeln
und Vorträgen
Zu
den Audio-Vorträgen