Milarepa 
Teil VI der Reihe "Inspirations- und Zufluchtsbaum
erzählt von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt, Gelnhausen (2012)
letztmals bearbeitet 2019

Es war zu jener Zeit, da Tibet noch nicht vom Buddhismus durchdrungen war, aber es gab bereits buddhistische Lehrer neben der noch starken tibetischen Bön-Religion und neben allerlei Magie. 

Auf einem Bauernhof etwas abseits von einem Dorf Stadt lebte eine Familie mit einigen Kindern, darunter der etwas zwielichtige junge Held unserer Geschichte, Milarepa. Als Milarepas Vater starb, kam es zwischen der Mutter und den Verwandten des Vaters zu Erbstreitigkeiten, wie dies nicht nur damals und nicht nur in Tibet eine häufig geübte Praxis war. Diese Erbstreitigkeiten wuchsen sich so weit aus, dass sich eine regelrechte Feindschaft entspann. 


Milarapas Mutter fühlte sich zu Unrecht benachteiligt und sann auf Rache. Sie lebte allein mit ihren Kindern in dem abgelegenen Gehöft in Sichtweise des Dorfes, und ihre Feindschaft zur Verwandtschaft steigerte sich allmählich zur Obsession. Häufig stand sie mit verschränkten Armen und verbissenem Gesicht am Fenster und blickte zornig auf die Anwesen ihrer Verwandten hinab. Fieberhaft arbeitete es in ihrem wütenden Hirn, denn wie sollte sie, eine einsame Witwe mit kleinen Kindern, sich gegen die Übermacht der Verwandtschaft zur Wehr setzen? Mit normalen Mitteln war dies nicht möglich. Also blieben nur paranormale Mittel, über die sie leider nicht verfügte. Sie sehnte sich danach, als black magic woman ihre Verwandten heimzusuchen.

Es gab in dieser Zeit in Tibet zahlreiche Meister der Magie. Manche von ihnen setzten diese Kräfte zum Nutzen der Menschen ein, beispielsweise als Heiler, aber es gab auch die anderen, die Meister der Schwarzen Magie - und genau dies fesselte die Gedanken von Milarepas Mutter. In ihr reifte ein teuflischer Plan heran, bei dem der Sohn zum Mittel ihrer Rache werden sollte.

Der begabte Sohn war seiner Mutter treu ergeben - wie auch anders, war sie doch praktisch die einzige erwachsene Person, zu der der Junge Kontakt hatte, und natürlich übertrug sie ihren in Verfolgungswahn wurzelnden manischen Hass auf ihre Kinder. Man kann geradezu sagen, diese Familie war ein Musterbeispiel dafür, was der Prof. Horst-Eberhard Richter im 20. Jahrhundert in seinen Büchern "Eltern, Kind, Neurose" und "Patient Familie" beschrieben hat.
 

Als Milarepa zum Teenager herangewachsen war, und er genug von der Familienneurose in sich aufgesogen hatte, schickte seine Mutter ihn in die Lehre zu - wie konnte es anders sein - einem Meister der Schwarzen Kunst. Und schon bald war Milarepa so weit, seiner Mutter mit ersten Diensten zu Hilfe zu eilen. So gelang es ihm, das besondere Wohlwollen seiner Mutter dadurch zu erringen, dass er einen Gewittersturm entfesselte und so genau platzierte, dass zwar die Ernte der Verwandtschaft (und – Kollateralschaden – die eines großen Teils der anderen Bauern) vernichtet wurde, nicht jedoch die auf den eigenen Feldern. Natürlich ging bald die Kunde, dass Milarepas Mutter mit schwarzen Mächten im Bunde war und selbst wohl eine gefährliche Hexe sei, dies umso mehr als wenige Tage nach dem Gewittersturm der Wortführer von Milarepas feindlicher Verwandtschaft auf geheimnisvolle Weise plötzlich verstarb. 

Milarepa aber ging weiter in die Lehre beim Meister der Schwarzen Magie, auch wenn sich in ihm inzwischen leichte Zweifel hegten, ob denn das alles richtig sei, was er da mache. Einerseits konnte er die Leiden der Menschen im Dorf erahnen, andererseits geriet er, wann immer er das elterliche Anwesen betrat, in den Bann seiner Mutter. In ihm regte sich der natürliche Wunsch, von ihr, die ihm sein Leben geschenkt hatte, von der Mutter, die ihn gesäugt hatte, geliebt und anerkannt zu werden. Fataler Weise verlangte sie jedoch von ihm, seine magischen Kräfte zum Schaden der Verwandtschaft einzusetzen. 

Im nächsten Jahr kehrte er wieder von seiner Ausbildung in der Schwarzen Kunst zurück, und erneut hegte er die Hoffnung, seiner Mutter irgendwie anders dienstbar sein zu können, vielleicht als Erntehelfer, denn er war inzwischen ein starker junger Mann. Aber erneut wurde er von dem geheimnisvollen Wirken der mütterlichen Neurose eingefangen, und er gab ihren Wünschen erneut nach. Von heftigen Zweifeln ob seines Wirkens gepackt, aber letztlich doch aus Liebe zur Mutter führte er – diesmal unter Tränen – einen noch stärkeren Zauber aus: ein Unwetter beschwor er herauf, das seinen Fokus genau dort hatte, wo die verhasste Verwandtschaft lebte. Der Zauber hatte einen doppelten Erfolg: einerseits die Vernichtung der Verwandtschaft, andererseits wurde er zum Wendepunkt in Milarepas Leben. 

Als die Kunde davon, was das Unwetter angerichtet hatte, auf ihren Hof drang, war die Mutter hocherfreut: der Zauber hatte tatsächlich die Häuser der Verwandtschaft zerstört, keine dieser verhassten Familien kam ungeschoren davon, insgesamt achtzehn Verwandte waren umgekommen, Männer, Frauen und Kinder, dazu zahlreiches Vieh. Die Mutter war stolz auf ihren Sohn Milarepa und dieser erhielt das kostbarste Familienerbstück, einen großen, wertvollen Edelstein. 

Milarepa selbst war alles andere als begeistert vom Erfolg seiner Taten. Er nahm den Edelstein, den Blutlohn, setzte sich hinter das Haus und heulte die ganze Nacht Rotz und Wasser. Am nächsten Tag stand sein Entschluss fest: er musste hier weg. Er musste sich vom Einfluss seiner Mutter befreien, er musste wegziehen und das Gute lernen, um das Böse, das in ihm eine Heimstatt gefunden zu haben schien, zu bekämpfen.

Während seiner Lehrzeit hatte er von anderen Meistern gehört, die andere geheime Künste beherrschten, u. a. vom Meister Marpa, der den tantrischen Buddhismus praktizierte. Zu diesem wollte er, um ihn um eine Unterweisung zu bitten. 

Selbigen Tages verlies Milarepa den Ort seiner Schandtaten, verließ die Mutter und sollte sie zeitlebens nicht mehr wiedersehen. Erst sehr viel später, nach Jahrzehnten, als aus ihm ein weiser Siddhi geworden war, als Milarepa bereits als der Sänger der 10.000 Lieder galt und als Tibets berühmtester Yogi, sollte er an die Stätte seines frühen Wirkens zurückkehren, aber zunächst folgten Sühnejahre.

Erst nach Jahrzehnten kehrte Tibets großer Yogi Milarepa in seinen Geburtsort zurück. Natürlich erkannte ihn, einen unbekannten Wanderer, dort niemand mehr und so konnte er sich im Ort inkognito nach seinem Elternhaus erkundigen.

"Ja, das Haus gibt es, aber ihr solltet dort nicht hingehen, es ist ein verwunschener Ort, die Heimstatt des Bösen." 

"Ist es denn noch bewohnt?" erkundigte sich Milarepa. 


"Das weiß niemand genau, weil sich niemand dem Haus weniger als auf eine Meile nähert. Vor langer Zeit wohnte dort eine böse Hexe, die Tod und Verderben über unsere Stadt brachte. An solch verwunschene Stätte begibt sich niemand. Wir können froh sein, dass von dort seit langem kein Unheil mehr über uns kam." 

Milarepa begab sich zu seinem Elternhaus, es sah verlassen aus.

Er klopfte. - Nichts.

Er rief. - Nichts.

Dann versuchte er die Tür zu öffnen. Sie fiel ein. Er trat ins Haus. Gespenstische Stille. Es sah aus, als sei seit Jahrzehnten nicht mehr sauber gemacht worden. Zentimeterdick lag der Dreck herum. Es gab längst keine Mäuse oder Ratten mehr, denn es gab nichts, wovon diese sich hätten ernähren können. 


Er trat in die Küche. Das gleiche Stillleben. Doch nein, da war ein Unterschied, mitten in der Küche lag ein kleiner Haufen Erde. Milarepa wollte sich gerade davon abwenden, da assoziierte er plötzlich ein Bild aus seiner Jugend, und er wandte sich wieder diesem Erdhaufen zu. Es war der Stofffetzen, der aus dem Erdhaufen herausschaute, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte und der plötzlich das Bild von seiner Mutter vor seinem geistigen Auge erscheinen ließ. Er ging hin und zog den Fetzen heraus. Tatsächlich, das Muster kannte er, es war das Muster eines Kleides seiner Mutter. Eine Träne in den Augen zog er weiter an dem Stoff und jetzt kamen einige halb vermoderte menschliche Knochen aus dem Erdhäufchen zum Vorschein. 

Einige Momente stand Milarepa andächtig schweigend vor den letzten Resten seiner Mutter. Dann kniete er nieder, schob den Erdhaufen, die Knochen und die Kleiderfetzen zu einer Art Kissen zusammen und setzte sich darauf nieder, um sich in einer die ganze Nacht dauernden Meditation zu sammeln.
 

Milarepa war nach Hause zurückgekehrt als er sicher war, dass das hasserfüllte Herz seiner Mutter ihm nicht mehr gefährlich werden konnte. Er war bereit, sich mit der Vergangenheit ein letztes Mal auseinanderzusetzen und sich über das hinweg zu setzen, was seine verpfuschte Jugend ausgemacht hatte. 

Ich kenne keine andere Geschichte in der die Aufarbeitung einer Psychose und das "sich darüber hinwegsetzen" so buchstäblich ausgedrückt wird wie an der Stelle, als sich Milarepa in der Meditation "über seine Mutter hinwegsetzt". 
 
Doch wie war Milarepa auf den rechten Pfad gekommen, wie war es ihm bei Meister Marpa ergangen?

Nachdem Milarepa in seiner Jugend so schreckliche Verbrechen auf Grund einer Familienneurose begangen hatte, verließ er seine Mutter und sein Elternhaus, um sich dem unheilvollen Einfluss dieser Person zu entziehen. Er hatte einen kostbaren Edelstein bei sich und war auf der Suche nach einem Lehrmeister, der ihn in den Dharma, die Lehre des Buddha einführte. In dieser Zeit breitete sich der tantrische Buddhismus unter indischem Einfluss in Tibet allmählich aus. Milarepa war auf der Suche nach Marpa, der mit Indien im Kontakt stand und der am besten in der Lage sein sollte, ihm die Lehren des Dharma zu geben.
 

Nach einer mehrtägigen Wanderung kam er in das Tal, in dem Marpa lehrte. Er fragte einen Bauer auf dem Feld, wo er Marpa finden könnte, denn er wusste nicht, dass der Bauer kein anderer war als Marpa selbst. Marpa erfasste die Situation sofort. Er sah, dass dieser junge Mann auf der Flucht war, auf der Flucht vor sich selbst, auf der Suche nach dem Dharma. Marpa sah auch, dass Milarepa in seinen derzeitigen Geisteszuständen längst noch nicht reif war für die Einweihung in das Tantra, das er anstrebte. 

Marpa lebte in diesem Tal allein mit seiner Frau. Er bebaute den Acker und sie versorgte das Haus. Marpa stellte klare Bedingungen: als Lehrgeld müsse Milarepa den Edelstein zahlen, den er von seiner Mutter erhalten hatte, er habe als Knecht zu arbeiten und alles zu tun, was Marpa von ihm verlange, er bekäme dafür keinerlei Lohn, aber ausreichend zu essen und eine Schlafstelle. Marpa wäre bereit, ihm die Einweihungen zu geben, wenn Milarepa genug für ihn gearbeitet habe und reif dafür sei. 

Lehrjahre sind keine Herrenjahre, sagt ein deutsches Sprichwort. Aber normalerweise sind Lehrjahre auch keine Sklavenjahre. Milarepas Jahre bei Marpa aber waren Sklavenjahre. Marpa verlangte von Milarepa nicht nur die härteste Arbeit, er erwies sich auch als unberechenbar und jähzornig. Nach vielen Jahren war Milarepa am Ende. Er wollte nur noch weg. Marpa bemerkte dies und zündete Stufe zwei seiner Schikanen. 

"Es gibt da gewisse Fortschritte bei dir, Milarepa. Ich denke, wenn du noch eine letzte Aufgabe erledigt hast, dann bist du so weit, dass ich dir die Einweihung geben kann." 

Milarepa, der schon der Verzweiflung nahe gewesen war, war überglücklich, als er sich dem Ende seiner Leiden nahe gekommen wähnte, allerdings verschlug es ihm die Sprache, als Marpa ihm sagte, was denn die letzte Aufgabe sei: "Bau mir einen schönen Turm, drei Stockwerke hoch auf dem kleinen Berg am Ende des Tales, die Steine dafür findest du unten im Tal." 

Milarepa wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Einerseits war es nur noch eine einzige Pflicht, die er zu erfüllen hatte, andererseits war dies eine Aufgabe, die einen einzelnen Mann schier überforderte: einen Turm! Drei Stockwerke hoch! Das bedeutet doch: einen Turm mit Tür, Fenstern, Dach, Wendeltreppe und Zwischenebenen! Und das auf einem Berg! Und die Steine lagen im Tal! Diese Nacht verbrachte Milarepa mit Weinkrämpfen, während Marpa seelenruhig schlief und sich Marpas Frau unruhig umherwälzte ob der offensichtlichen Schikane ihres Mannes gegenüber Milarepa. 

Am nächsten Morgen hatte sich Milarepa durchgerungen. Er hatte schon viele Jahre hier verbracht. Sein einziger Besitz, der Edelstein, war weg. Zwar lag eine gigantische Arbeit vor ihm, aber in zwei, drei Jahren konnte er es schaffen, wenn er sich anstrengte. Und wie würde er sich anstrengen! - Marpa ließ sich das Frühstück ausgezeichnet schmecken, er war in aufgeräumter Stimmung.

Milarepa arbeitete wie ein Tier, schon lange vor der Morgendämmerung stand er auf, und wenn das erste Sonnenlicht über die Berge blitzte, war er bereits auf der Baustelle, schleppte Steine, haute sie zurecht, verbaute sie. Und spät abends nach Einbruch der Dunkelheit kehrte er zurück, gebeugt von der Arbeit, mit zitternden Händen, die übersät waren von Wunden, die er sich bei der harten Arbeit zugezogen hatte. Auch seine lumpenumwickelten Füße waren blutig, denn so etwas wie Sicherheitsschuhe gab es natürlich nicht, und seine Haut war rissig. Er arbeitete in sengender Sonne, er arbeitete in eisigem Wind bei Regen und er arbeitete auch in den langen kalten Monaten, in denen Tibet vom Schnee bedeckt ist. In nur gut zwei Jahren hatte er es geschafft. Er war stolz! 

"Es ist so weit", verkündete er Marpa, "der Turm ist fertig. Morgen kannst du ihn besichtigen, und dann kannst du mir die Einweihungen in die geheimen Lehren des tantrischen Buddhismus geben." Am nächsten Morgen war Milarepa wieder zeitig auf, er war frohgemut und erstmals seit mehr als zwei Jahren nahm er sich ausgiebig Zeit fürs Frühstück, denn er musste nicht auf die Baustelle. Er hatte Zeit, um auf Marpa zu warten. Auch dieser war guter Dinge, Milarepa nahm dies als gutes Zeichen, und also gingen sie in Richtung auf den Turm zu. Als sie die letzte Wegbiegung erreicht hatte, zeigte Milarepa nach oben und verkündete stolz: "Da ist er."

Tatsächlich stand auf dem Berg ein wohlgestalteter Turm, drei Stockwerke hoch, eine wahre Zierde menschlicher Schaffenskraft. Niemals würde jemand glauben, dass ein einzelner Mann ein solches Meisterwerk vollbracht habe, das noch in Jahrhunderten von der Genialität seines Baumeisters zeugen würde.

Marpa funkelte Milarepa wütend an: "Bist du denn verrückt, Mann? Was soll denn das? Ein Turm auf dem Berg da links! Natürlich gehört der Turm auf den Berg dort rechts! Marsch, zurück an die Arbeit, dorthin gehört der Turm, nach rechts, es ist ein Frevel einen Turm dahin zu bauen - nach links. Ach - und bevor du mit dem neuen Turm beginnst: zuerst kommt der alte Turm da weg. Flusskiesel für den Turmbau zu verwenden - so etwas! Alle Flusssteine werden in den Fluss zurück gebracht, und dann kannst du mit den Steinen aus jenem Steinbruch dort den richtigen Turm bauen, aber auf dem rechten Berg, Trottel." Damit wandte sich Marpa um und ging zurück, ein Liedchen trällernd. 

Milarepa war außer sich ob dieser Ungerechtigkeit. Mit keinem Wort hatte Marpa erwähnt, dass der Turm auf den rechten Berg gehöre, ebenso wenig, dass nur bestimmte Steine verwendet werden sollten. Zwei Jahre lang hatte sich Milarepa jetzt geplagt, niemals wollte Marpa etwas vom Fortgang der Arbeiten hören, niemals ließ er sich am Bau blicken - und jetzt das! 

Drei Tage und drei Nächte blieb Milarepa beim Turm und heulte Rotz und Wasser. Dann - als er wusste, das Marpa auf dem Feld war - schlich er sich zu dessen Frau, dem einzigen anderen Menschen im Tal, und klagte ihr sein Leid.

Marpas Frau hatte aufrichtiges Mitleid mit Milarepa, sie billigte die
Handlungen ihres Mannes keineswegs. Milarepa bat sie, in den nächsten Tagen herauszufinden, ob Marpa ihm jemals die Einweihungen geben wollte, oder ob er nur gedachte, ihn weiter zu schikanieren. Die Frau sagte dies zu, und versicherte Milarepa außerdem, jeden Tag eine Extraportion gekochten Essens abzuzweigen und diese ihm in einem Topf mit auf den Weg zu geben, denn sie sah mit zunehmender Sorge, dass der einst so kräftige junge Mann zusehens abmagerte. 
Tag für Tag arbeitete Milarepa jetzt am Abbau des Turmes. Ein Trost waren ihm die Extraportion Essen und das aufmunternde Schulterklopfen, das er von der Frau erhielt, wann immer es Marpa nicht sehen konnte. Nach zwei Wochen erhielt Milarepa von Marpas Frau gute Nachricht. Sie habe Marpa unverfänglich in ein längeres Gespräch verwickelt. Marpa sei überzeugt, Milarepa mache gute Fortschritte und ein Turm dürfe natürlich nicht auf die linke Seite gebaut werden, dies sei von alters her der Brauch, dies würde nur böse Geister anlocken. Es sei wohl alles doch keine Schikane gewesen - Marpa sei vielmehr wirklich erstaunt gewesen, dass Milarepa nicht gewusst habe, dass ein Turm auf der linken Seite Unglück bedeute. 

So schöpfte Milarepa neuen Mut und nach gut einem halben Jahr war der "linke Turm" verschwunden, alle Steine waren zurückgebracht und Milarepa konnte sich von Neuem an den Turmbau machen. Leider erwies sich das Gestein aus dem Steinbruch als schwieriger zu verarbeiten - auch mussten diese Steine erst aus dem Berg gehauen werden und lagen nicht wie die im Fluss einfach nur herum, um von irgend jemandem aufgelesen zu werden - weiterhin waren sie ungünstiger zu transportieren als die dicken Flusskiesel. Milarepa machte sich aus einem Yakfell einen Ledersack, mit dem er die scharfkantigen Steine auf dem Rücken transportieren konnte, aber es war dennoch in noch viel stärkerem Maße eine Knochenarbeit als der erste Turmbau. Trotz des Yakfells auf seinem Rücken verletzten ihn mehr und mehr Steine und bald schon war sein Rücken übersät mit schwärenden Wunden. Hätte Marpas Frau ihn nicht mit einer Salbe aus Yakfett und allerlei Kräutern behandelt, er hätte die Anstrengung gewiss nicht überlebt. 

Nach abermals zwei Jahren war der neue Turm fertig. Milarepa war diesmal ebenso stolz wie unsicher - bei Marpa wusste man schließlich nie, woran man war. Am Morgen der entscheidenden Inspektion war Milarepa zeitig auf. Die Frau hatte ihm das Frühstück gemacht. Als es Marpa nicht sah, nahm sie Milarepa in die Arme, drückte ihn an sich und sagte: "Ich drück´ dir die Daumen, Kleiner."

Marpa hatte es an diesem Tage nicht eilig. "Geh schon vor, Milarepa, ich habe noch etwas zu erledigen, ich komme im Laufe des Tages vorbei und sehe mir dein Kunstwerk an." Milarepa fühlte sich wie auf heißen Kohlen. Würde er endlich am Ende seines Frondienstes sein und die Einweihungen erhalten? Oder würde Marpa wieder wegen einer Kleinigkeit aus der Haut fahren und ihm befehlen, den Turm abzureißen? 


Je weiter der Tag verstrich, desto unsicherer war Milarepa, ob Marpa überhaupt erscheinen würde. Als die Abenddämmerung kam, beschloss er zurückzugehen, da es offensichtlich aussichtslos war, auf Marpa zu warten. Da hörte er von Ferne einen ziemlich unmelodischen Gesang - das konnte nur Marpa sein. Und tatsächlich, wenig später bog Marpa sichtlich angeheitert um die Ecke, sah den Turm, setzte sich auf den Boden und wollte sich gerade ausschütten vor Lachen. Milarepa wusste jetzt überhaupt nicht, woran er war.

"Was soll denn das sein?," fragte Marpa und wurde erneut von Lachkrämpfen durchschüttelt. "Junge, soll das fürs Museum sein oder was?" Milarepa verstand überhaupt nichts mehr. 

"Ein runder Turm!? Ein runder Turm! Junge, in welchem Jahrhundert lebst du eigentlich? Runde Türme sind seit über fünfzig Jahren aus der Mode!" 

"Du willst doch nicht", fragte Milarepa zitternd, "dass ich diesen Turm einreiße und dir einen eckigen stattdessen baue?" 

"Natürlich kommt der altmodische Kram da weg und an seiner Stelle baust du mir einen schönen eckigen Turm!", sprach´s und wandte sich zum Gehen. Zumindest hat er nicht verlangt, dass ich alle Steine zurücktrage, dachte sich Milarepa, der inzwischen schon über kleine Dinge froh sein konnte. Bevor sein Meister rülpsend um die Ecke verschwand, rief er ihm noch geistesgegenwärtig nach: "Einen viereckigen Turm meint ihr?"

"Ha, ha, ha," kam die Antwort, "einen dreieckigen natürlich, Dummkopf." 

"Es hätte schlimmer kommen können", dachte sich Milarepa. "Den Turm abreißen und an Ort und Stelle einen neuen zu bauen, das dürfte in anderthalb Jahren zu schaffen sein, wenn ich mich richtig anstrenge. Aber warum will der Alte ausgerechnet einen dreieckigen Turm, davon habe ich noch nie etwas gehört."

Andererseits war es ein gutes Zeichen, endlich zu wissen, was Marpa wollte. Je länger er darüber nachdachte, desto klüger kam er sich vor, dass er gefragt habe, ob der Turm viereckig sein sollte, wie eigentlich alle Türme, die nicht rund sind. 

So fasste Milarepa neuen Mut und arbeitete, so rasch er nur konnte. Er verausgabte sich zu sehr. Eine heftige Krankheit schüttelte seinen ausgemerkelten und geschundenen Körper durch und ein hohes Fieber befiel ihn. Ohne die Fürsorge von Marpas Frau hätte er zweifelsohne nicht überlebt. Die Frau machte sich mehr und mehr zum Fürsprecher von Milarepa. Wenn Marpa und seine Frau abends im Bett aneinander gekuschelt lagen, und er in guter Stimmung war, versuchte sie ihn wiederholt darauf aufmerksam zu machen, wie folgsam der inzwischen nicht mehr ganz so junge Mann war, wie schwer er schuftete, und dass er doch bald seinen lang verdienten Lohn erhalten müsse. Doch das war die Stelle, an der sich Marpa jedes Mal aus dem Bett erhob, vor die Tür ging, einen Krug Bier holte, sich brummbärig an den Tisch setzte und trank, statt ihr zu lauschen. 

Nach geraumer Zeit war es so weit, Milarepa hatte erneut den gewünschten Turm errichtet. Am Abend, als Marpa gut gelaunt, ein Lied auf den Lippen, vom Feld heimkehrte verkündete Milarepa: "Meister, er ist fertig." 

Marpa strahlte: "Wirklich, ist das wirklich war, mein Turm ist endlich fertig?"
 
"Ja, Meister." 

"Und er ist an der von mir bezeichneten Stelle?" 

"Ja, Meister." 

"Und er ist eckig, nicht rund, Milarepa?" 

"Ja, Meister, er ist dreieckig."

"Dreieckig? Sagtest du DREI-eckig? Hat man jemals etwas von einem dreieckigen Turm gehört? - Du scherzt!" 

"Nein, Meister," Milarepa lief es eiskalt den Rücken herunter, "ihr habt ausdrücklich verlangt, dass er dreieckig sein müsse." 

"So? - Dann muss ich besoffen gewesen sein. Kein Mensch verlangt mit klarem Kopf einen dreieckigen Turm! Allerdings baut auch kein Mensch, der bei klaren Sinnen ist, einen dreieckigen Turm. Mensch, Milarepa, das hätte dir doch klar sein müssen! Natürlich muss der Turm weg und ein viereckiger muss hin. Basta!"

Marpa sprach´s und verzog sich ins Bett. 


Bitterlich weinte Milarepa, ein Weinkrampf durchschüttelte seinen Körper, und die Frau ging zu ihm, ihn zu trösten. An ihrem Busen weinte er sich aus wie ein Kind, während sie ihm zärtlich über den Kopf strich, wo sein Haar schon schütter wurde, ob der zu wenig ausgeglichenen Ernährung bei gleichzeitig extrem harter Arbeit. Dann flüsterte sie: "Hast du ihn wirklich dreieckig gebaut?" Das aber erschütterte Milarepa noch mehr, so dass er einen neuen Weinkrampf bekam. Jeder normale Mensch musste schließlich, genau wie diese Frau,
denken, dass ein dreieckiger Turm wirklich absurd ist. Nur ihn hatte in seiner Verblendung gedünkt, er sei besonders pfiffig gewesen, als er nachgefragt hatte: "Viereckig?" Natürlich waren eckige Türme viereckig, und natürlich war es ein Scherz, auf eine solch absurde Frage mit "dreieckig" zu antworten. Er sah ein, dass es diesmal seine eigene Schuld war.
 

Er pausierte drei Tage, an denen er nur zum Turm ging und ihn unter Tränen ansah, bevor er sich an den Abriss machte. Einige Tage später sagte er zu der Frau: "Ich weiß es war diesmal mein Fehler. Aber ich weiß auch, dies ist definitiv der letzte Turm, den ich baue. Gibt mir Marpa die Einweihung dann nicht, dann weiß ich nicht, wie es weitergehen wird. Ich weiß nur, dass ich dann hier fort bin. 
Am Abend im Bett berichtete sie ihrem Gemahl Wort für Wort, was Milarepa gesagt hatte. Diesmal ging Marpa nicht zum Bier. Er grunzte nur: "Hmm!", und drehte sich um, um zu schlafen. Marpas Frau kannte ihren Mann schon so lange, aber sie wusste dennoch nicht, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. 

Eigentlich hatte Milarepa gedacht, nach so vielen Bauarbeiten würde ihm dieser letzte Turmbau nichts mehr ausmachen, doch er irrte sich gewaltig. Zu sehr hatte er sich in den vergangenen Jahren verausgabt. Von Narben übersät war sein Körper, und zwischen den Narben klafften frische Wunden, sie heilten immer schlechter, trotz der Kräutertinkturen, die Marpas Frau Milarepa auftrug. Eines Tages, als sie ihm eine Wunde am Handgelenk versah, wo die Haut aufgerissen war und der Knochen bloß lag, sah sie, wie aus dem Knochen das Mark austrat. "Marpa, ich fürchte mit Milarepa geht es zu Ende", sagte sie ihm abends im Bett. - "Hmmh",  war Marpas Antwort, sonst nichts.

Die Frau tat ihr Möglichstes, Milarepa mit dem nötigen vitaminreichen Obst und Gemüse zu versorgen, was im kargen Tibet alles andere als leicht war. Milarepa hatte inzwischen ganz sein eigentliches Lebensziel aus den Augen verloren. Er machte die ganze stumpfsinnige Knochenarbeit nur noch um ihrer selbst willen. Bauen, um zu bauen, um einen Turm zu bauen. Einen viereckigen. Und dann fertig. Nie wieder Turm, nie wieder bauen. 

An einem frischen Aprilnachmittag kam Milarepa von der Baustelle zurück, auf einen Krückstock gestützt, denn sein rechtes Bein war verletzt. Er ging in die Küche, in der sich Marpa und die Frau befanden. Milarepa ließ sich auf den Stuhl fallen: "Fertig", sagte er. 

"Wer?", fragte Marpa und zog eine Augenbraue hoch, "der Turm oder du?"

"Beide."


"Wann gehen wir ihn ansehen, Milarepa?" Dieser zuckte nur leicht mit den Achseln. Die Frau war nicht sicher, ob Milarepa den nächsten Morgen noch erleben würde. "Iss´ eine kräftige Suppe, dann gehen wir!" sagte sie bestimmt. 

Marpa zog abermals eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts, er grunzte nicht einmal. Sie gingen zusammen zum Turm, das heißt, Milarepa ging eigentlich nicht, er schleppte sich - auf der einen Seite von Marpa, auf der anderen von der Frau gestützt - zum Turm. 

Als sie um die letzte Wegbiegung kamen, hing Milarepas Blick ängstlich an Marpa: "Ist er so, wie ihr in braucht, Meister?"

Marpa blickte keinen Augenblick zum Turm, er sah Milarepa nur in die Augen: "Ja, er ist genauso, wie ich ihn brauche." 

"Aber Meister, ihr habt ihn doch noch gar nicht gesehen!" 


"Doch, Milarepa, ich sehe ihn die ganze Zeit an, ER ist jetzt genau so, wie ich ihn brauche", antwortete Marpa und zeigte auf Milarepa. 

Am nächsten Tag begann Marpa Milarepa die Lehre zu erläutern, es folgten die tantrischen Initiationen. Milarepa erreichte die Erleuchtung und wurde zu Tibets bis heute bedeutendsten Yogi.


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