Konzentration, der nahe Feind der Meditation
oder:
Meditation ist Sammlung, nicht Konzentration
Vortrag von Horst Gunkel (2018) bei der Buddhistischen Gemeinschaft Gelnhausen
leicht überarbeitet im Oktober 2019
Was ist buddhistische Meditation?
Meditation
ist die bewusste und gezielte Arbeit am Geist mit dem Zweck des Abbaus
von Verlangen (Gier), Abneigung (Hass) und damit verbundenen
Projektionen (Verblendung) und dem Ziel des Erreichens von
Großzügigkeit, barmherziger Liebe und Erkenntnis der Prozesse, wie sie
sich wirklich entwickeln, nämlich in dialektischen Spannungen.
Letztendlich geht es um die Verwirklichung der Nondualität durch Abbau
der Mauer zwschen Ich und Ander.
Das ist eine ziemlich komplexe Definition. Ich habe nicht vor, diese
jetzt zu erläutern, sondern gebe vielmehr eine verkürzte Variante, die
für uns heute als Grundlage genügen sollte: Durch Meditation versuchen
wir die Geistesgifte Gier, Hass und Verblendung zu überwinden und
Weisheit und Mitgefühl zu erlangen.
Jede Wahrnehmungssituation ist geprägt durch Aufmerksamkeit (Fokus) und
peripheres Gewahrsein (Breite). Das periphere Gewahrsein scannt die
Umgebung und ist so all dessen Gewahr, was sich um uns herum abspielt,
das Aufmerken erkennt, was aus dieser Eindrucks- und Datenfülle
möglicherweise für uns relevant sein könnte und richtet die
Aufmerksamkeit dann auf dieses Objekt. Die Anzahl der Objekte im
peripheren Gewahrsein ist riesig – nahezu unendlich groß. Das Aufmerken
(manasikara) richtet sich
beständig auf neue Bedrohungen, also potentielle Quellen des Hasses,
oder auf neue Verlockungen, also potentielle Quellen der Gier. Dieser
Prozess ist äußerst sprunghaft und alles andere als stetig.
In
der Meditation steht Achtsamkeit im Mittelpunkt. Achtsamkeit ist
getragen von beidem, von der Aufmerksamkeit, also der Fokussierung, und
vom peripheren Gewahrsein, der Breite. Allerdings ist in der Meditation
das sprunghafte Aufmerken (manasikara)
deutlich abgeschwächt, statt dessen erinnern wir uns beständig wieder
an das Meditationsobjekt, das im Zentrum unserer Aufmerksamkeit steht.
Aufmerken (manasikara) ist das Tor zu sprunghaft assoziativem Denken, in der buddhistischen Terminologie als papanca, als ausuferndes Denken, bekannt.
Demgegenüber bringt Achtsamkeit eine Stetigkeit herein, denn durch sie
erinnern wir uns immer wieder an das Meditationsobjekt und kommen so
mehr und mehr dazu, bei diesem zu verweilen. Daher der Begriff samma sati, „Vollkommenes Erinnern“, im Edlen Achtfachen Pfad. Laut Buddhistischem Wörterbuch von Nyanatiloka bedeutet sati, der Begriff, den wir meist mit Achtsamkeit übersetzen, nämlich:
„Eingedenksein,
Sich-InsGedächtnis-Zurückrufen, Erinnerung, Im-Gedächtnis-Bewahren,
Gründlichkeit, Nichtvergesslichkeit, Achtsameit, Achtsamkeit als
Fähigkeit, als Kraft, als rechte Besinnung“.
Häufig versuchen wir uns in der Meditation aufs Meditationsobjekt zu
konzentrieren, indem wir alles andere außer dem Meditationsobjekt
unterdrücken. Auf diese Weise vernachlässigen wir das periphere
Gewahrsein oder versuchen gar, es gewaltsam zu unterdrücken.
Meditation, Achtsamkeit, lebt aber aus der Spannung von beidem, von
peripherem Gewahrsein und von Aufmerksamkeit aufs Meditationsobjekt.
Culadasa definiert Achtsamkeit als die „bestmögliche Interaktion“
zwischen Aufmerksamkeit und Gewahrsein und er schließt daraus: „Wenn
wir … das periphere Gewahrsein ständig zugunsten der Aufmerksamkeit
vernachlässigen, verkümmert die Fähigkeit zur Achtsamkeit schließlich.“
Der
Begriff Konzentration hat ganz starke Konnotationen von etwas
zwanghaften, hier werden die zentrifugalen, also die der Fokussierung
aufs Objekt entgegenstehenden Kräfte, unterdrückt. Der Begriff Sammlung
hingegen betont die zentripedalen Kräfte, diejenigen, die das
Meditationsobjekt unterstützen. Man vergleiche nur unsere Assoziationen
mit den Begriffen Konzentrationslager und Sammlungsbewegung.
Konzentration wird offensichtlich meist mit Zwang assoziiert, Sammlung
mit Integration, mit freiwilligem Zusammenschluss. Dieser Unterschied
ist ausgesprochen wichtig, denn wenn wir mit Konzentraion arbeiten,
unterdrücken wir die zentrifugalen Kräfte.
Unterdrückung bedeutet aber, dass sie bestenfalls ins Unterbewusste
zurückgedrängt werden und sich früher oder später von dort
zurückmelden. Auf diese Weise haben wir vielleicht kurzfristig Erfolg,
progammieren aber künftige Hindernisse. Sammlung hingegen führt zur
Integration. Die zentrifugalen Kräfte werden hier nicht bekämpft, was
nur zu einer negativen Verstärkung führen würde, sondern sie werden
aufgelöst, indem wir dem Geist etwas Attraktives bieten und
gleichzeitig keine Kraft in die zentrifugalen Kräft stecken, weder
durch Bekämpfen (also durch Unterdrücken, durch negative Verstärkung)
noch dadurch, dass wir sie nähren (also ihnen nachfolgen, sie füttern
und sie so positiv verstärken), möglicherweise durch Tagträumen.
Ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung: Ich habe gelehrt bekommen,
den Atem in der vierten Phase der Atembetrachtung nur auf die
Empfindungen an den Nasenlöchern zu richten. Wann immer ich dies
machte, empfand ich den Atem auch an der Bauchdecke. Weil ich dies als
falsch interpretierte, versuchte ich es zu unterdrücken, sodass sich
diese Empfindung um so stärker zurückmeldete, was ich als Misserfolg
interpretierte. Besser wäre es gewesen, die Empfindung an der Nase zu
beobachten, während ich gleichzeitig
den Atem an der Bauchdecke spürte und auch meines Herzschlages und
meiner schmerzenden Beine Gewahr gewesen wäre. Dann wären
Aufmerksamkeit und peripheres Gewahrsein im Gleichgewicht gewesen, dann
hätte ich Rechte Achtsamkeit geübt.
Um einem Missverständnis vorzubeugen: es geht nicht darum gleichermaßen
unser Meditationsobjekt und alles andere um uns herum zu betrachten. Es
gibt einen entscheidenden Unterschied: das Meditationsobjekt steht
immer im Mittelpunkt, ihm gilt unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, es
steht im Fokus unseres Betrachtens. Alles andere ist nur in der Breite
unseres Gewahrseins vorhanden, rückt aber nicht in den Fokus. Wenn ich
also auf die Nasenlöcher fokussiert bin und bemerke dabei meinen Atem
an der Bauchdecke, heißt das nicht, dass ich meinen Fokus dahin
verlagere oder von einem Punkt zum anderen mit meiner Aufmerksamkeit
springe. Im Fokus stehen kann immer nur eine Sache gleichzeitig, nur
eine kann Objekt unserer Aufmerksamkeit sein, der Atem an den
Nasenlöchern oder das Heben und Senken der Bauchdecke. Wir können
niemals die Aufmerksamkeit auf zwei Objekte gleichzeitig haben, wir
können allenfalls mit ihr von einem Objekt zum anderen springen und
zurück, ggfs. auch ganz schnell sog. multitasking.
Dann verlieren wir aber in kurzen Intervallen unseren Fokus, dann sind wir nicht mehr „einsgerichtet“ (citt ´ekagatta).
Das Springen von einem Objekt zum anderen ist das, was der ungeübte
Geist liebt, der Affengeist, macht. Wir wollen nicht unseren
Affengeist, unsere Sprunghaftigkeit, trainieren, sondern diese
überwinden. Wir wollen erlernen, einsgerichtet zu sein, fokussiert,
aufmerksam. Aber bei aller Aufmerksamkeit sind wir uns der Breite
unseres peripheren Gewahrseins bewusst, auch wenn sie mit zunehmender
Fokussierung im Laufe unserer Meditationspraxis allmählich immer mehr
in den Hintergrund
tritt. Durch dieses In-den-Hintergrundtreten des peripheren
Gewahrseins, wird das Aufmerken und damit die Änderung der Richtung
unserer Aufmerksamkeit immer mehr an den Rand gedrängt und nur noch
dann aktiviert, wenn tatsächlich eine Gefahr droht.
Wichtig ist aber, diesen Prozess nicht zu erzwingen. Versuche also
nicht, das periphere Gewahrsein einzuschränken. Mache vielmehr genau
das Gegenteil um Achtsamkeit zu entwickeln: Lass zu, dass sich Laute,
Empfindungen, Gedanken und Gefühle im Hintergrund fortsetzen. (Culadasa, Handbuch Meditation, S. 125, vgl. auch S.165f)
Wie geht man die Umsetzung einer Meditation mit Aufmerksamkeit und
breitem Gewahrsein – also mit Rechter Achtsamkeit – denn nun praktisch
an, zum Beispiel in der metta bhavana?
- Es bedeutet, dass ich beispielsweise (Schritt 1) mit einem kurzen body-scan
beginne. Hier bin ich mir des Körpers gewahr und verschiebe die
Aufmerksamkeit mit dem Scannen von einer Stelle des Körpers zur
nächsten.
- Dabei bemerke ich (Schritt 2) Empfindungen (vedana),
die positiv oder negativ sein können. Ich bin mir dabei weiter des
Körpers gewahr und habe die jeweilige Empfindung im Fokus, hierauf ruht
meine Aufmerksamkeit.
- Ich
richte (Schritt 3) meine Aufmerksamkeit jetzt auf die positiven
Empfindungen, zum Beispiel die herrliche Frühlingssonne, die ich auf
der Haut spüre, deren Licht durch die Augenschlitze ins Sehbewusstsein
dringt.
- Ich
genieße (Schritt 4) dieses wohlig-warme und helle, aufbruchs-freudige
Frühlingsgefühl, dieses Empfinden ist jetzt Objekt meiner
Aufmerksamkeit, während ich mir weiter meines Körpers und seines
Umfeldes Gewahr bin. Jetzt habe ich die Phase 1 der metta bhavana umgesetzt.
- Als nächstes (Schritt 5) wünsche ich einer anderen Person ebenfalls einen herrlichen Frühling. Der Wunsch „metta für diese Person“ steht jetzt im Fokus. Ganz am Rande meines Gewahrseins nehme ich mich und meinen Körper weiter in dieser Welt wahr.
Fassen wir zusammen (nach Culadasa, S. 62):
- 1. Die Aufmerksamkeit ist auf das Objekt fokussiert.
- 2. Das periphere Gewahrsein schwindet nicht, wenn die Aufmerksamkeit stark fokussiert ist.
- 3.
Das periphere Gewahrsein erledigt seine Aufgabe, Kontexte zu liefern,
besser und macht dich feinfühliger dafür, wie sich die Objekte
aufeinander und aufs Ganze beziehen.
- 4.
Da das periphere Gewahrsein stärker ist, bleibt die Aufmerksamkeit
nicht in Subjektivität und Projektionen stecken, die Wahrnehmung ist
obkjektiver.
Der
Grund übrigens, warum ich den Titel dieses Vortrages „Konzentration,
der nahe Feind der Meditation“ genannt habe, liegt darin, dass das
achte Pfadglied des Edlen Achtfältigen Pfades „samma samadhi“
mitunter mit „Rechte Konzentration“ übersetzt wird. Dies kann dazu
führen, dass wir die Aufmerksamkeit, die Fokussierung verabsolutieren
und so das Gewahrsein vernachlässigen und auf diese Weise keine
wirkliche Achtsamkeit entwickeln.
Daher übersetzt beispielsweise Sangharaksita den Begriff „samma samadhi“ überhaupt nicht, er lässt ihn in der Originalsprache, in Pali, stehen, als „samma samadhi“.
Wenn wir ihn jedoch dennoch übersetzen wollen, ist „Rechte Sammlung“
sicher angemessener als „Rechte Konzentration“. Letztendlich wird in „samma samadhi“,
im Vollkommenen Samadhi, die Dualität zwischen Meditierendem,
Meditation und Meditationsobjekt gänzlich aufgehoben. Da ist nur noch
der Meditationsprozess, der Bardo der Meditation.
Ich zitiere zum Abschluss noch einmal Culadasas Handbuch der Meditation (S. 185f):
„Es gibt eine gängige, aber falsche Vorstellung,
den Geist zur Ruhe bringen bedeute, alle Gedanken loszuwerden und
Ablenkunbgen auszublenden. Schüler versuchen oft, diese Gedanken und
Ablenkungen durch eine intensive Fokussierung auf das Meditationsobjekt
zu unterdrücken. Das mag sich wie eine vernünftige Strategie ausnehmen,
doch in der Meditation funktioniert brachiale Gewalt nie lange. (…) Der
hyperfokusierte, auf etwas Bestimmtes gerichtete Tunnelblick … ist
genau die Art von Aufmerksamkeit, die die Kampf-oder-Flucht-Reaktion
begeleitet. Mit einem solchen Fokus gehen gewöhnlich Spannung und Angst
einher, was Ihre Meditation aufregt, frustrierend und schwierig macht.
Zudem können Sie auch das periphere Gewahrsein völlig verlieren und
dadurch für Ablenkungen und Dumpfheit noch anfälliger werden. …
Versuchen Sie nicht, Ihren Geist in den Ruhezustand zu prügeln. Der
Schlüssel dazu liegt darin, die Aufmerksamkeit zu lenken und
aufrechtzuerhalten. Damit das gelingt, brauchen Sie aber auch ein
starkes peripheres Gewahrsein, um die potentiellen Ablenkungen
rechtzeitig zu bemerken … Wenn Sie zum Beispiel eine Tasse heißen Tee
durch einen gedrängt vollen Raum tragen, wollen Sie Ihre auf die Tasse
gerichtete Aufmerksamkeit aufrechterhalten, gleichzeitig aber auch
aller Dinge um Sie herum gewahr bleiben. So können Sie einen
Zusammenfall vermeiden. In ähnlicher Weise halten Sie Ihren Hauptfokus
auf den Atem gerichtet und lassen es zu, dass alle anderen Empfindungen
und geistigen Ereignisse im peripheren Gewahrsein einfach vorhanden
sind: Lass sie kommen, lass sie da sein, lass sie gehen.“