Lebensverneinender Buddhismus?
Vortrag von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt (2014)
zuletzt bearbeitet im Oktober 2019

 
Manchmal hört man, der Buddhismus sei eine pessimistische Religion. Und neulich hat eine von euch in einer Diskussion über die unterschiedlichen Religionen sinngemäß gesagt, der Hinduismus sei irgendwie lebensbejahender und fröhlicher als der Buddhismus.

Ich will jetzt gar nicht den Buddhismus mit anderen Religionen vergleichen, sondern nur der Frage nachgehen, ob denn der Buddhismus wirklich pessimistisch und lebensverneinend ist. Wenn ich bei großen zeitgenössischen buddhistischen Autoren nachlese, ganz gleich ob das Sangharakshita ist, Thich Nhat Hanh, Ayya Khema, der Dalai Lama, Yongey Mingyur Rinpoche, überall bekomme ich persönlich den Eindruck vermittelt, wie großartig und auch wie glücksverheißend der Dharma, die Lehre des Buddha, ist.

Als Beispiel möchte ich den Titel eines Buches des letztgenannten Autors nennen: „Buddha und die Wissenschaft vom Glück“, das Buch heißt so, denn der Dharma ist eine Geisteswissenschaft, in der es darum geht, suboptimale Geisteszustände in bessere und damit auch in glücklichere zu verwandeln. Dennoch hält sich hierzulande das Gerücht, der Buddhismus sei irgendwie etwas Verneinendes, etwas Negatives, etwas Sauertöpfisches. 

In vom Buddhismus geprägten Ländern hingegen wird das spirituelle Leben viel stärker mit Freude verbunden. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären, und wie lässt sich klären, dass da in Wirklichkeit gar kein Widerspruch ist? Wie so häufig möchte ich mich bei meinem Vortrag auf das beziehen, was hier in diesem Meditationsraum an der Wand steht, nämlich auf die Stufen des Pfades zur Buddhaschaft, so wie sie rechts aufgeführt sind und wie sie vom Buddha selbst gelehrt wurden. Und ich möchte untersuchen, ob es dabei etwas Abschreckendes, etwas scheinbar Lebensverneinendes gibt.


Und ich glaube, das, was manche Menschen abschrecken kann, sind die beiden Begriffe nibbida und viraga. Nibbida bedeutet „Rückzug“, „Abwendung“ und viraga bedeutet wörtlich das Freisein von raga, von Gier, das Buddhistische Wörterbuch bietet noch die Begriffe „Gierlosigkeit, Entfärbung, Verblassung, Loslösung, Schwinden, Erlöschung“.

Zugegebenermaßen, das könnte negativ, das könnte lebensverneinend verstanden werden. Daher stelle ich normalerweise die etwas tiefer stehenden, die früheren Schritte auf dem buddhistischen Pfad in den Vordergrund, da gibt es 
Und genau das ist es, was Yongey Mingyur Rinpoche meint, wenn er ein Buch mit dem Titel schreibt: „Buddha und die Wissenschaft vom Glück“. Es geht im Buddhismus darum, den Weg zu beschreiten, der zu Glückseligkeit führt. All diese eben genannten Worte sind sehr positiv besetzte Begriffe, und genau dies erreicht man, wenn man tatsächlich den Dharma praktiziert  - mit Körper, Rede und Geist.

Wenn man ein Dharmacari oder eine Dharmacarini wird, eine oder einer, der den Pfad des Dharma geht. Also jemand, der nicht nur mit dem Buddhismus sympathisiert, ihn irgendwie gut findet, sondern jemand, der oder die wirklich diesen Pfad beschreitet. Ich kann absolut verstehen, dass diese Begriffe (Freude,  Begeisterung, Zufriedenheit, Glückseligkeit) attraktiver klingen als „Abwendung“ und „Schwinden“. Daher ermutige ich immer wieder die Menschen, die hierher kommen, diesen Pfad zu beschreiten, um diese fünf sehr viel näher liegenden Pfadglieder zu verwirklichen: saddha – vertrauensvolle Hinwendung, pamojja – Freude,  piti – Begeisterung, passadhi – Zufriedenheit und sukkha – Glückseligkeit. Ich habe über diese
Pfadglieder kürzlich einen ausführlichen Vortrag gehalten mit dem Titel das „zuckersüße Leben der Buddhisten“.

Niemand braucht die späteren Pfadglieder ins Visier zu nehmen. Versuche vielmehr den Pfad zu gehen, um diese positiv besetzten Begriffe zu verwirklichen, um in Freude, in Begeisterung, in Zufriedenheit, in Glückseligkeit zu leben. Nichts anderes ist der Dharma. Die meisten Leute, die hierher zu Meditation am Obermarkt  kommen, tun das allerdings nicht, weil sie auf Glückssuche sind, sondern weil sie meditieren wollen. Und sie glauben, meditieren erlernt man eben mal so schnell und so einfach, wie Autofahren oder Schwimmen oder vielleicht wie Marathonlauf.  Nun, man kann hier mit meditativen Übungen anfangen, klar. Wer hier donnerstags um 18.15 h herkommt, bekommt eine kurze Einführung in die Meditation, damit er oder sie gleich mitmachen kann. Aber wirkliche, tiefe Meditation, samadhi, ist nicht so einfach zu erreichen. Ich habe einmal bei Wikipedia nachgeschlagen, dort wird samadhi so beschrieben:

Samadhi (Sanskrit, समध , samādhi „Versenkung, Sammlung“, wörtlich „fixieren, festmachen, Aufmerksamkeit auf etwas richten“) bezeichnet einen Bewusstseinszustand, der über Wachen, Träumen und Tiefschlaf hinausgeht und in dem das diskursive Denken aufhört. Es ist ein völliges Aufgehen in dem Objekt, über das meditiert wurde.

Es gibt verschiedene Samadhi-Stufen. Und wirklich, diese tiefe Art von Meditation ist etwas, das eine natürliche Begleiterscheinung des Den-Pfad-Gehens ist. Eine Begleiterscheinung, die, wie wir an dieser Liste an der Wand unseres Meditationsraumes  sehen können, erst nach all diesen zuvor genannten Stufen, nach Freude, Begeisterung, Zufriedenheit und Glückseligkeit kommt bzw. erst dann zum beherrschenden Muster wird. Und wie wir an der dieser Reihe von Pfadgliedern sehen, leitet es über zu yathābhūta-ñānadassana, „Sicht und Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind“. Damit, mit dieser Stufe, ist man zum sotapanna, zum Stromeingetretenen geworden, zu einer Person, die der Buddha arya puggala, einen edlen Menschen, nennt. Man kann das auch als so etwas wie die erste Stufe der Heiligkeit bezeichnen, also etwas, das für die allermeisten von
uns in sehr, sehr großer Ferne liegt.

Man ist allerdings an dieser Stelle, an Punkt 20 auf unserem Schaubild, noch nicht völlig erleuchtet. Und erst wenn wir diesen Punkt erreicht haben, diesen Punkt 20, Sicht und Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind,  dann wird in uns die Sehnsucht nach den weiteren Schritten so stark, dass wir diese wirklich gehen möchten. Bis dahin sehnt sich zumindest ein Teil von uns, nach Unterhaltung und nicht nach Rückzug, nach Leidenschaft und nicht nach Leidenschaftslosigkeit. Ich möchte also dafür werben, zu beginnen, den Pfad zu gehen, den der Buddha aufgezeigt hat. Du musst ihn nicht bis zum Ende gehen wollen. Beschreite diesen Pfad, um die Zwischenziele zu erreichen, oder setze dir das Ziel ein bestimmtes Pfadglied sei es Freude, Begeisterung, Zufriedenheit, Glückseligkeit oder samadhi, wirkliche tiefe Meditation, nachhaltig und dauerhaft zu erreichen. 

Niemand verlangt von dir, den ganzen Pfad bis zum Ende zu gehen, geh´ so weit mit, wie du möchtest. Vielleicht hast du irgendwann das Bedürfnis weiter voranzuschreiten – gut. Vielleicht bist du auch vollkommen zufrieden, wenn du Zufriedenheit erlangt hast. Auch gut. Oder wenn du in Glückseligkeit weilst – wunderbar.

Ich möchte dennoch ein paar Ideen zu nibbida (Rückzug) und viraga (Leidenschaftslosigkeit) sagen.  Nibbida heißt nicht, dass man sich von allem zurückzieht. Es heißt nicht, dass man sich in eine Höhle setzt und auf den Tod wartet. Es ist auch keine strenge Askese, es ist keine Selbstkasteiung. Der Buddha selbst hat – vor seiner Erleuchtung – den Weg strenger Askese und Selbstkasteiung versucht und dabei erkannt, dass dieser Weg nicht zielführend ist, dass er nicht zu Erleuchtung führt. Der Buddha hat diesen Weg daher verworfen. Und Rückzug, Entsagung, bedeutet auch nicht, das aufzugeben, woran das eigene Herz hängt. Ich möchte hierfür zwei
Beispiele aus meiner eigenen Entwicklung nennen, Beispiele, die scheinbar gar nichts mit Buddhismus zu tun haben. 

Vor sechzig Jahren habe ich am liebsten mit kleinen Autos und mit Lego gespielt, das konnte ich stundenlang machen, das fand ich ganz toll, das war meine Lieblingsbeschäftigung. Und ich war überzeugt davon: wenn ich erst einmal genug Geld habe, kaufe ich mir jede Menge Spielzeugautos und gaaaaaaanz viel Lego.  Ehrlich gesagt: das könnte ich heute tun, das hätte ich sogar schon vor Jahrzehnten tun können. Aber ich hab´s nicht gemacht. Und warum nicht? Etwa weil ich ein großer Asket war? Oder vielleicht, weil ich mich selbst kasteien wollte, durch Lego-Entsagung?

Nein, und ich denke, ihr wisst alle darauf die Antwort. Ich war einfach über diese Entwicklungsstufe hinaus. Ich habe mich von dieser Art Spielen zurückgezogen. Ich hatte dem entsagt. Dadurch hatte ich nichts verloren. Meine Interessen hatten sich weiter entwickelt. Ich war reifer geworden. Ein zweites Beispiel. Ich war einmal ein glühender Anhänger von Atomkraft. Das war modern, das war die Zukunft. Die Atomkraft beschert uns schließlich unendlich viel Energie zu winzig kleinen Preisen. Man wird gar keine Stromzähler mehr in die Häuser einbauen, weil der Strom so spottbillig sein wird. Wir werden im Keller alle einen kleinen Atomreaktor haben, der uns durch Brennstoff nicht größer als eine Aspirintablette für mehr als 10 Jahre mit Strom und Heizwärme versorgt, ja auch mit Strom für unser Elektroauto.  

Klingt verrückt? Nein, das war das, was uns die veröffentlichte Meinung für fünfzig Jahren eingeredet hat. Und ich, ein kleines Dummerchen, habe das geglaubt. Durch andere Informationen und durch weises Erwägen – yoniso manasikara (Punkt 14.1) – wurde mir dann irgendwann einmal klar, dass das nicht so stimmt, dass es radioaktive Niedrigstrahlung im Normalbetrieb der Atomkraftwerke gibt, dass die Uranförderung zahllose Menschen umbringt, dass die Endlagerung für die nächsten Jahrhunderttausende irgendwie nicht in die Kalkulation der Kosten einfließt und dass Atomkraft immer wieder der
Vorwand ist, Atombewaffnung anzustreben, nicht nur in USA und Russland, auch in den Ländern, die in letzte Zeit nach Atomkraft strebten, im Iran, im Irak, in Syrien. Im Pakistan hat man bereits die Atombombe. Wenn möglicherweise demnächst in Pakistan auch ein paranoider Kalif wie in diesem sog. Islamischen Staat an die Macht kommt, dann werden wohl nicht nur Menschen geköpft, sondern vielleicht ganze Städte ausradiert.  Und weil ich diese Möglichkeit als Konsequenz der sog. „friedlichen Nutzung der Atomkraft“  gesehen habe, habe ich vor über dreißig Jahren auch dieser meiner irrigen Meinung zur Atomkraft entsagt.

Mein Auto zierte dann ein netter Aufkleber: eine lachende Sonne und darauf der Spruch: Atomkraft – Nein danke! Und wann immer ich an Rückzug, an Entsagung denke, dann denke ich unwillkürlich an diesen Aufkleber. Das ist der Grund, warum ich hier dieses Beispiel angeführt habe. Dieser Aufkleber signalisiert nichts Wütendes, nichts Aggressives, nichts Kasteiendes. Einfach: Nein danke! und das lachende Gesicht der Sonne. Nein, danke, will ich nicht, weiß inzwischen, dass es nichts taugt. Das ist Rückzug, Rückzug von etwas, das man als falsch oder als suboptimal erkannt hat. Das ist Entsagung: nein danke! sagen zu etwas, von dem man weiß, dass es unheilsam und nicht zielführend ist. Nein danke! sagen, nicht um sich zu kasteien, sondern weil man etwas Besseres, etwas Hilfreicheres, etwas viel Schöneres, etwas wahrhaft Befriedigendes anstrebt. Nichts anderes ist mit nibbida, mit Entsagung, auf dem Pfad gemeint.

Vielleicht die schönste Übersetzung für den Begriff nibbida ist „gelassene Abkehr“. Wenn man etwas als unheilsam, als Leiden schaffend erkannt hat, dann entsagt man dem mit einem Lächeln, dann entsteht Leidenschaftslosigkeit, viraga. Voraussetzung dafür ist yathābhūta-ñānadassana, Wissen und Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind. Wir werden etwas erst dann aufgeben wollen, wenn wir etwas Besseres gefunden haben.


Niemand verlangt von dir, dass du etwas aufgibst, was du nicht aufgeben möchtest. Aber wenn du etwas wirklich  aufgeben möchtest, dann ist es gar kein Problem, das loszulassen. Dann willst du vielleicht gar nicht mehr mit kleinen Autos spielen. Oder mit Lego. Oder mit kleinen Mädels oder knackigen Kerlen. Oder so. Und ich möchte heute noch einmal mit dem gleichen Satz enden wie in einem meiner letzten Vorträge: Das „gute Leben“, dieses Ziel, das die antiken europäischen Philosophen suchten, es ist in der Tat das süße Leben geläuterten Genusses auf dem Pfad. Oder wie es der Dalai Lama einmal formulierte: „Wenn der Buddhismus nicht glücklich machen würde, dann wäre er ja vollkommen nutzlos.“

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