Ksitigarbha
Vortragsreihe „Inspirationsbaum“
, Teil XXIX
 von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt (2013)
zuletzt geändert am 13. Oktober 2019
Liebe Freundinnen und Freunde,
 
die Vortragsreihe über den Inspirationsbaum, die Sammlung der wichtigsten Gestalten, die uns auf unserem Entwicklungspfad unterstützen können, neigt sich allmählich dem Ende zu, und so habe ich geschaut, von welchen wichtigen Gruppen von Wesen noch Personen fehlen, über die ich euch bislang nichts erzählt habe. 
 
Und da befinden sich im Bild des Inspirationsbaumes auf dem von euch aus gesehen linken Lotus bekanntlich fünf Bodhisattvas, nicht-historische Figuren, die bestimmte Qualitäten repräsentieren, die gut und wichtig sind und die besonders im Mahayana, der größten Richtung des Buddhismus, ganz hoch geschätzt werden. Und von diesen fünf Bodhisattvas habe ich euch bislang vier vorgestellt: Manjusri mit dem flammenden Schwert der transformierenden Weisheit und die Grüne Tara, die angewandtes Mitgefühl symbolisiert, wären hier als erstes zu nennen. Diese verkörpern die beiden Haupteigenschaften eines Buddha, einer Erwachten, eines Erleuchteten und daher sind diese beiden Figuren auch an der Wand in diesem Meditationsraum hinter euch groß dargestellt. 
 
Auch über Avalokitesvara, den Herrn, der voller Mitgefühl herabblickt, und über den kraftvollen Vajrapani habe ich hier bereits gesprochen, nur einen dieser Bodhisattvas habe ich bislang sträflich vernachlässigt: Kistigarbha. Nicht etwa weil der nicht so wichtig wäre, sondern weil ich davon ausgegangen war, dass mein Freund Aryamaitri, der immer wieder einmal zu uns nach Gelnhausen kommt, diesen Vortrag halten möchte, denn Ksitigarbha ist Aryamaitris sadhana, also die Figur, die er täglich in der Meditation visualisiert, um sich von ihm inspirieren zu lassen und so dessen spezieller Fähigkeit in noch größerem Maße teilhaftig zu werden.
 
Was ist das Spezielle an Ksitigarbha? Nun er dient auch der Verbreitung des Dharma, der guten Lehre, durch die wir uns spirituell entwickeln können, ja bis zum vollkommenen Erwachen, bis zur Buddhaschaft, gelangen können. Das ungewöhnliche an Ksitigarbha ist aber, wem er den Dharma bringt. Bekanntlich haben alle Wesen die Buddhanatur in sich, also das Potential, sich zur Vollkommenheit zu entwickeln. Häufig aber finden wir uns nicht in den wahrhaft menschlichen Bewusstseinszuständen wieder. Im bhava cakra, im Lebensrad, zu dem ich demnächst wieder einen Kurs anbiete, sind sechs verschiedene Bewusstseinszustände dargestellt. 
 
Neben dem wahrhaft menschlichen Bewusstseinszustand gibt es noch den göttlichen Bewusstseinszustand, den wir mitunter in der Meditation erleben können, von dem wir aber auch eine Ahnung bekommen, wenn uns große Kunstwerke inspirieren. Das sind die beiden besten Bewusstseinzustände, die sugati. Daneben gibt es vier schlechtere Bewusstseinszustände, die sog. dugati, die Elendswelten, hier finden wir die asuras oder wütenden Kämpfer, die pretas, die von neurotischer Begierde geplagt werden, dann gibt es noch den animalischen Zustand, indem es uns nur um die Befriedigung unserer Triebe geht, und schließlich einen Bewusstseinszustand, den man mit „Hölle“ beschreiben kann: alles scheint schief zu gehen, es kommt uns so vor, als ob sich alles gegen uns verschworen hätte, um uns zu schaden: Verzweiflung.
 
Und gerade diese leidenden Wesen bedürfen der Hilfe; hierhin versucht Ksitigarbha die Idee des Erwachens zu bringen, so erscheint Ksitigarbha bei Soldaten, Räubern und Verzweifelten und ruft ihnen zu „Wacht auf Verdammte dieser Erde!“ Es ist diese Idee, sich durch eigene Anstrengung aus dem Elend zu befreien. „Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger, alles zu werden strömt zuhauf!“

Das ist keine bloße Heilsverkündung. Da ist nichts davon drin, die Hände in den Schoß zu legen und auf äußere Befreiung zu warten. Es geht vielmehr darum, unsere aktiven Kräfte zu nutzen. Und wenn wir sehen, dass Ksitigarbha auch zu Räubern und Söldnern geht, also zu kraftvollen Typen, die leider ihre ganze Energie nach außen richten, anstatt ihre wahren Feinde zu bekämpfen, Gier, Hass und Verblendung, wofür sie ihre überschüssige Energie ausgezeichnet gebrauchen könnten. 
 
Er möchte also diese verblendeten Wesen gewissermaßen auf den rechten Pfad lenken, auf den Pfad, auf dem sie sich selbst befreien können. Es sind nicht die Götter oder äußere Wesen, die uns retten können; der Pfad zur Rettung ist vielmehr der Pfad zur Selbsterlösung, zur Selbsttransformation. Und genau das, macht Ksitigarbha klar: „Es rettet uns kein höh´res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.“
 
Eine kleine Einschränkung möchte ich zum letzten Punkt machen. Ja, es gibt diese notwendige Bedingung, an sich selbst zu arbeiten, und es wäre völlig falsch eine Rettung von außen zu erwarten. Aus dem Elend, aus dukkha, können wir uns nur selber befreien. Aber mitunter brauchen wir einen Anstoß dazu, jemand der uns den Weg aufzeigt, den wir dann selbst gehen müssen. Und genau dazu dienen diese Bodhisattvas und alle Wesen auf dem Inspirationsbaum. Sie sollen uns die nötige Inspiration geben, um den Mut aufzubringen, den Pfad zu Erlösung zu beschreiten, zur Selbsttransformation, zur endgültigen Emanzipation aus dem Tierreich, zu etwas, das der Buddha erreicht hat und unzählige andere, die diesen Pfad beschritten haben: bodhi, Erwachen, das ist wie ein Erwachen nach einem langen Traum, mitunter einem Alptraum, mitunter auch einem Wunschtraum, aber eben doch ein Traum - nicht die Realität. „Träume sind Schäume“ sagt ein deutsches Sprichwort: Luftblasen, die alsbald zerplatzen. Und aus diesen Träumen kann man erwachen, wenn man sich weit genug läutert. 

Uns für diesen Dreifachen Pfad der Läuterung, bestehend aus Ethik, Meditation und Weisheit zu motivieren, zu begeistern stehen die Figuren auf dem Inspirationsbaum. Und besonders dann, wenn wir uns in ganz schlechten, vielleicht sogar höllischen Bewusstseinszuständen befinden, dann erscheint uns Ksitigarbha und ruft uns an: „Wacht auf Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt.“ Er bietet uns die richtige Nahrung, derer wir bedürfen: Motivation, den Pfad zu gehen, es wirklich anzupacken „uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!“
 
Aber, dazu brauchen wir diese unterstützende Motivation, daher wird das letzte Liedzitat meines heutigen Vortrages abwechslungsweise nicht aus der „Internationale“ sein, sondern von den Beatles:
 
I get by with a little help from my friends 
Mmmh, get high with a little help from my friends
Mmmh, gonna try with a little help from my friends

 
With a little help from your friends: 
 
Kistigarbha,  Manjusri,  Green Tara,  Avalokitesvara,  Vajrapani 
 
– und all den anderen wunderbaren Wesen, die mich, die euch inspirieren können.

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