Guten Appetit!


Es ist eine dieser beruflichen Pflichtveranstaltungen, zu denen man gehen muss. Eine Konferenz. Ich bin Lehrer an den Beruflichen Schulen Gelnhausen und zwei bis drei Mal im Jahr ist Gesamtkonferenz. Ein Massenauftrieb von über 200 Lehrern, der Schulleiter wird sprechen und einige andere, das ganze Pflichtprogramm, zwei, drei Stunden. Ich glaube nicht, dass irgendeine/r meiner Kolleginnen und Kollegen sich wirklich darauf freut. Wobei deren Leid heute etwas geringer ist, denn da zwei Kollegen in Pension verabschiedet werden, gibt es hinterher einen Imbiss, vorbereitet von Schülerinnen und Schülern und natürlich deren Lehrern aus der ernährungswirtschaftlichen Abteilung, so etwas gibt es an bestimmten großen Berufsschulen. Gerade beginnen die Leute vom Fachbereich Ernährung, das Büfett aufzubauen. Ich schließe die Augen. Mich interessiert diese Konferenz nicht. Besser etwas meditieren. Oder vielleicht schlafen?


Es ist Oktober 1781, ich bin Kapitän Gunkel auf unserem Dreimaster, und "wir haben das Kap der Guten Hoffnung glücklich überstanden", so trage es ich des Abends in unser Logbuch ein: "Es liegen jetzt drei Tage schwerer Seegang hinter uns. Wir haben leider in diesem Sturm auch drei Männer verloren, sie sind beim Segel einholen ins Meer gestürzt oder von einem Brecher über Bord gespült worden. Unmöglich, bei dem Wetter nach ihnen zu suchen. Der Klabautermann fordert seinen Tribut. Der Herr sei ihren Seelen gnädig.“

Jetzt liegen ruhigere Zeiten vor uns, es geht in die Südsee. Der Engländer Captain Cook hat hier in den letzten Jahren von sich reden gemacht und das hat auch meinen Auftraggeber auf eine Idee gebracht. Er hat aus Berichten eines Offiziers von Cooks zweiter Reise entnommen, dass es in der Nähe der Tongainseln, an einer Stelle, die ich nicht nennen darf, ein unbekanntes Metall gäbe, das goldähnlich jedoch härter sei. Er hält es für etwas, das er Transgold nennt, und glaubt, dies sei das wertvollste Metall der Welt, also hat er diese Expedition ausgestattet, um so viel wie möglich davon zu bergen. Ich bin skeptisch, ob das stimmt. Aber schließlich hat er diese Expedition ausgestattet und mir damit ein gutes Einkommen gesichert. Und wenn es dort wirklich dieses Transgold geben sollte, wird es mir wohl möglich sein, einige Pfund davon für mich abzuzweigen, dann hätte ich ausgesorgt.

Marcel hat mir noch Tee mit Rum gebracht, jetzt räumt er etwas auf. Marcel ist der jüngste Mann an Bord. Nein, eigentlich noch gar kein Mann, er ist gerade einmal 13 Jahre jung und hat noch nicht den leisesten Anflug eines Bartes, ein ganz zartes, mädchenhaftes Kinn. Er bat mich letztes Jahr in Marseille, ihn mitzunehmen, er sei Waisenjunge und an eine Familie in der Stadt verkauft worden, wo er unter erbärmlichen Verhältnissen leben und schuften müsse und dafür noch täglich misshandelt würde.

Da mir seine Geschichte glaubhaft erschien, nahm ich ihn mit, obwohl er eigentlich zu jung ist für die harte Arbeit an Bord. Daher lasse ich ihn in der Kombüse aushelfen, außerdem ist er mein persönlicher Aufwärter, hält meine Sachen in Ordnung und so. Der Junge ist mir ans Herz gewachsen, ein blitzgescheites Kerlchen, immer wissbegierig und unwahrscheinlich fleißig. Er ist für mich wie ein Sohn. Mit ordentlicher Schulbildung könnte aus dem etwas werden. Vielleicht habe ich ja nach der Reise meine paar Pfund Transgold und kann ihm eine vernünftige Bildung angedeihen lassen. Aber vorerst geht es in die Südsee.



Drei Tage lang sitze ich jetzt schon hier in dieser Hütte fest. Wir haben die Stelle erreicht, auf der unser Auftraggeber das Transgold vermutete und sind an Land gegangen. Die Eingeborenen empfingen uns anfangs recht freundlich. Aber nach dem Festmahl bei Häuptling Uanguang muss etwas vorgefallen sein, ich weiß nicht genau was, denn ich war zu diesem Zeitpunkt mit dem Sohn des Häuptlings unterwegs zu dem Platz, an dem wir das Transgold vermuteten.

Ich vermute, dass einige meiner Männer sich auf eine Weise an den Eingeborenenmädchen vergangen haben, die irgendein Tabu bricht. Auf jeden Fall hörten wir plötzlich Trommeln im Dschungel, da verfinsterte sich das Gesicht meines Begleiters, des Sohnes von König Uanguang, er überfiel und fesselte mich. Seitdem bin ich Gefangener Uanguangs. Und dessen Sohn hat mir nun eröffnet, was uns blüht. Es soll ein großes Opferfest zu Ehren der Götter geben, deren Tabu meine Männer verletzt hätten. Und dann sollen sie geopfert werden. Alle. Ich habe versucht, zu intervenieren, aber es ist mir nicht einmal gelungen, meinen jungen Marcel zu retten.



Draußen höre ich die Trommeln des Opferfestes, das im Gange ist. Gemäß dem Willen der Götter, so hat es der Medizinmann oder Schamanenpriester oder was auch immer dieser maskierte große Mann darstellen mag, der hier angeblich mit den Göttern in Kontakt steht, gesagt, müssten alle Männer getötet werden, indem man ihnen den Hals durchschneidet und sie ausbluten lässt. In ihrer großen Gnade hätten die Götter aber entschieden, dass der Häuptling der weißen Männer – damit meinen sie mich – Aufnahme in ihren Stamm fände, wenn er sich von den Mächten des Bösen lossage und am Fest zu Ehren der Inselgötter teilnimmt. Bei diesem Festmahl würden die tabubrechenden, teuflischen Horden – damit meinen sie meine unglückselige Besatzung – verspeist, auf dass ihre magische Kraft, in sie überginge. Bei der magischen Kraft, so habe ich inzwischen erfahren, ginge es um die Kraft des „tödlichen Donners“. Offensichtlich hat es einen Kampf gegeben, bei dem mehrere Inselbewohner von meinen Seeleuten erschossen wurden.

Selbstverständlich habe ich Häuptling Uanguang gesagt, ich würde auf keinen Fall an ihrem Festmahl teilnehmen und Menschenfleisch verspeisen, dies habe mein Gott mir verboten, und ich hätte auch nicht vor, einem solchen Akt beizuwohnen. Daraufhin befragten sie ihren Schamanen, und der beriet sich mit den Göttern. Die Entscheidung dieser Götter aber sei es, so wurde mir mitgeteilt, ich brauche kein Menschenfleisch zu essen, wenn dies der Gott der Weißen tabuisiert habe; ich hätte aber an dem Fest teilzunehmen, ansonsten würde das die Inselgötter beleidigen und ich würde zur Strafe auf eine schrecklich grausame Art zu Tode gemartert. Man sagte mir auch wie, ich möchte das aber nicht wiedergeben, es ist unendlich grausam.

Ich erbat mir Bedenkzeit, in der ich zu Gott betete. Ich hoffte auf eine Antwort. Ich weiß nicht, ob ich eine bekam oder nicht, auf jeden Fall hatte ich noch während des Gebets eine Eingebung. Ich vermute, sie ist göttlicher Natur, ich bin jedoch nicht ganz sicher.

Die Eingebung ist folgende: niemandem ist gedient, wenn ich zu Tode gemartert werde. Wenn ich aber überlebe, gelingt es mir vielleicht einige der Inselbewohner zu mehr Kultur zu führen. Das war es, was ich für Marcel tun wollte. Das vermag ich nicht mehr, denn Marcel ist tot. Aber sind nicht alle Menschen Geschöpfe Gottes? Kann ich nicht auch sie beeinflussen? Sie scheinen mir nicht böse, nur verblendet. Für sie gelten andere Tabus als für uns. Ich habe gehört, dass sie eine Art Schwein, das hier überall herumläuft, für die Inkranation der Seelen ihrer Eltern halten. Daher ist es für sie absolut tabu, Schwein zu essen. Wer gegen dieses Tabu verstieße, würde mit dem Tode bestraft, aber das täte ja keiner, wer würde schon ein Schwein, das womöglich einmal die eigene Mutter oder der eigene Vater war, töten. Sie haben also Tabus, was das Töten und Verspeisen von Wesen angeht, nur eben etwas andere als unsere.

Ich denke daher, ich kann an den Festmahl teilnehmen. Wenn sie am Oberschenkel eines meiner Männer nagen, ist das nicht anders, als wenn bei uns jemand eine Schweinshaxe verspeist. Es geht nicht um Bösartigkeit, es geht um Verblendung. Daher habe ich mir vorgenommen, an der Veranstaltung teilzunehmen, bei der meine Männer verspeist werden. Ich werde gute Miene zur verblendeten Veranstaltung machen, mit Gleichmut betrachten, was geschieht, und wann immer ich sehe, wie einer der ihren gegen unser Tabu verstößt und Menschenfleisch ist, werde ich mir vorstellen, ich sei zuhause in Europa und es sei Schweinefleisch, dessen Essen ja in Europa nicht tabu ist…



„Du scharchst…“ Karl stößt mir in die Seite. „Wenn du schon auf der Konferenz schläfst, dann schnarch wenigstens nicht.“

„Ich habe gar nicht geschlafen“, verteidige ich mich, „ich habe meditiert“.

„Ha, ha, ha,“ antwortet Karl und fügt hinzu „und außerdem ist es jetzt Zeit nicht nur aufzuwachen, sondern aufzustehen, schließlich gibt´s was zum Beißen,“ spricht´s und schiebt mich voran zum Büfett. Ich sehe alle diese schön angerichteten Leichenteile vor mir und muss mit Übelkeit kämpfen.

„Da hinten ist auch was für dich, alter Buddhist,“ sagt Karl und zeigt auf ein Häppchen mit Frischkäse und Ananas – sicher aus der Südsee – einem kleinen Salatblatt und etwas Dill als Garnierung. Ich nicke und greife zu.

Ich schaue zu meinem Kollegen. Mir bleibt fast mein Brötchen im Halse stecken, als ich ihn essen sehe. Er beißt in ein Stück Fleisch. „Wunderschön zart,“ sagt er, „Horst, du weißt ja gar nicht, was dir entgeht.“

„Doch“, antwortete ich und muss mit meiner zitternden Stimme kämpfen, „ich kenne das.“

Ich kenne es wirklich, das zarte Stück, das mein Kollege da gerade isst, dieses zarte Fleisch kommt mir doch sehr, sehr bekannt vor, er nagte an einem Knochen. Er nagt das zarte, junge Fleisch vom Unterkiefer Marcels, das ist ja noch ganz zart, weil Marcel noch bartlos war.


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