Metta,

liebende Güte, Freundlichkeit, Wohlwollen, ein offenes Herz

für den IS-Kämpfer
(Vortrag von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt, Gelnhausen, Januar 2017)


Wir Buddhisten üben regelmäßig die metta bhavana, die Meditation der liebenden Güte und der Öffnung des Herzens.

Manchmal habe ich allerdings den Eindruck, dass das, was ich übe, oft nur eine oberflächliche Friede-Freude-Eierkuchen-Meditation ist, eine Meditation, bei der ich bei einem oberflächlichen Gefühl von Nettigkeit bleibe, aber weder die einzelnen Personen noch die Empfindung von metta selbst, die eine ungeheuer kraftvolle Emotion ist – viel kräftiger als romantische Liebe und ebensokraftvoll wie unbändiger Hass – dass ich diese wahre, starke und alles transformierende Kraft von metta überhaupt nicht an uns heran kommen lassen.

Das ist auch der Grund warum ich bei Meditation am Obermarkt in Gelnhausen die Reihe „Theorie trifft Praxis“ durchführe, eine Reihe, in der wir wirklich unsere Praxis verändern wollen. Zugegeben: Metta für einen Typen wie einen IS-Kämpfer zu empfinden, ist nicht ganz einfach. Ich hätte übrigens statt des IS-Kämpfers auch einen brandschatzenden, vergewaltigenden und raubenden Landsknecht des Dreißig-jährigen Krieges hier aus Gelnhausen nehmen können, einen SS-Mann aus Auschwitz, einen Krieger im jugoslawischen Bürgerkrieg oder einen sadistischen Kindermörder. Dass ich mich für den IS-Kämpfer entschieden habe, hat nichts mit einer Religion zu tun, es liegt lediglich daran, dass uns dieses Feindbild in diesen Tagen geläufiger ist als manch anderes. Und ich muss auch sagen, dass ich mich selbst äußerst schwer getan habe, Metta für Übeltäter zu empfinden. Ich möchte ein Beispiel nennen. Ich war seit drei Jahren Buddhist, als ich in München im Oktober 1995 erstmals an einem Kongress der DBU teilgenommen habe. Etwa 500 BuddhistInnen aus ganz Deutschland trafen sich dort, und es gab auch einige namhafte Gäste. Besonders freute ich mich damals, Ayya Khema kennen zu lernen, die bis heute bekannteste deutsche buddhistische Nonne, die nur zwei Jahre später verstarb.

Doch es gab da auch eine Person, deren Ankündigung mich richtig wütend machte, und das war Claude AnShin Thomas, ein Zen-Mönch aus Amerika. Er stand für so ziemlich alles, was ich ablehnte, ja ich möchte sogar sagen: was ich hasste. Claude ist – wie ich – Jahrgang 1951, unsere Biografien könnten jedoch nicht gegensätzlicher sein. Ich war von Kind auf Pazifist. Mein Großvater hatte bereits im 1. Weltkrieg den Dienst mit der Waffe verweigert, mein Vater war im Krieg in Russland, wo er seine Augen verlor, sein Gehör auf dem rechten Ohr, durch seine Hirnverletzung konnte er auch nicht mehr schmecken oder riechen, sein Kopf war entstellt durch eine große Narbe über den leeren Augenhöhlen, die von einer Hirnoperation in einem Feldlazarett in der russischen Steppe herrührte, wo man ihm Granatsplitter aus dem Hirn entfernte.

Meine Mutter war geprägt vom jahrelangen Bombenterror, bei dem sie unter anderem in Hanau am 19. März 1945 ausgebombt wurde, in der Nacht, in der Hanau zu 95 % zerstört wurde, durch anglo-amerikanische Luftangriffe. Ich habe den Pazifismus gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen. Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! war die Parole, die meine Kindheit und meine Jugend bestimmte.

Ethische Verantwortung für das eigene Handeln stand im Zentrum meiner Sozialisation. Selbstverständlich engagierte ich mich in den späten 60er Jahren nicht nur in der außerparlamentarischen Opposition, sondern auch gegen den damals aktuellen Krieg, den Vietnam-Krieg, einen offensichtlich ungerechten Krieg, in dem die USA 50 Mal mehr Bomben auf ein kleines Land warfen, als alle Kriegsparteien auf Deutschland im zweiten Weltkrieg. Ich habe nicht nur gegen diesen Krieg protestiert und demonstriert, sondern bereits im Alter von 16 Jahren Info-Aktionen in meiner Heimatstadt Großauheim dagegen mitorganisiert. Selbstverständlich verweigerte ich den Wehrdienst.

Ganz anders Claude Thomas. Er ging mit 16 mit seinem Vater auf die Jagd und mit 17 meldete er sich freiwillig zur US-Army. Mit 18 war er in Vietnam, und mit 19 hatte er nach eigenen Angaben bereits ca. 300 Menschen getötet. Er hat sich an den amerikanischen Luftangriffen beteiligt, in denen Dörfer, bestehend aus Bambushütten, mit NapalmBomben angegriffen wurden. Das sind Brandbomben. Napalm hat die Eigenschaft, sich mit der menschlichen Haut zu verbinden und dann zu verbrennen. Menschen werden dadurch zu lebendigen Fackeln. Wenn die entsetzten Vietnamesen aus ihren Dörfern flohen, um dem flammenden Inferno zu entkommen, dann kamen Hubschrauber, um sie anzugreifen. Claude war MG-Schütze in einem solchen Hubschrauber, er hat mit seinem MG fliehende Frauen, Männer, Kinder und Greise erschossen, nach eigenen Angaben Im Laufe von etwas mehr als einem Jahr etwa 300 Menschen. Und dieser Massenmörder war nun nicht nur auf der DBU-Konferenz, er war vielmehr einer der Stargäste, denn er trat jetzt in Roben als geläuterter Zen-Buddhist auf. Das Gefühl, das in mir dabei aufkam, war von Metta sehr, sehr weit entfernt, ultraweit. Und ich muss sagen, dass auch nach seiner Rede auf dem Kongress mein Unbehagen keineswegs gewichen war. Erst als ich Jahre später einen Lebensbericht von ihm gelesen hatte, begann meine Wut, mein Hass, mein Zorn allmählich zu weichen. Ich begann den jungen Claude Thomas nicht mehr nur mit den Augen des Horst Gunkel zu sehen, sondern auch mit seinen Augen, den Augen eines verblendeten, völlig anders sozialisierten jungen Mannes. Ja, dieser junge Amerikaner war verblendet gewesen, auf tragische Weise verblendet. Aber ich war in dem Momant, in dem ich ihn nur aus meinen Augen betrachtete ebenso verblendet, wenn auch glücklicherweise mit weniger tragischen Ergebnissen.

Verblendung ist – neben Gier und Hass – eines der drei zentralen Geistesgifte, die im menschlichen Geist wirken. Verblendung – avijja auf Pali, avidiya auf Sanskrit – ist das, was im Bild vom Rad des Lebens an erster Stelle steht. Verblendung wird da als eine blinde Person dargestellt, die sich mit einem Stock durch die Landschaft tastet, als jemand, der die Dinge nicht sehen kann, wie sie sind.

In der Lehre des Buddha gehen wir davon aus, dass die Menschen lernfähig sind, dass man sich langfristig dahin entwickeln kann, Verblendung abzubauen, ebenso wie auch Gier und Hass. Den Hass abzubauen, versuchen wir durch die Übung der metta bhavana. Zum Abbau von Verblendung kannst du beitragen, indem du beispielsweise über diesen Aufsatz reflektierst.

Zurück zu unserer völlig verständlich Abwehrhaltung gegenüber offensichtlichen Schandtaten. Da war offenbar etwas in mir, was sich gegen die Anwesenheit, insbesondere auch gegen die Verehrung, die diesem Claude AnShin Thomas entgegen gebracht wurde, wehrte, dagegen opponierte. Wie wäre der Buddha mit einem wie Claude umgegangen? Hierzu gibt es eine sehr bekannte Geschichte aus dem PaliKanon, die Geschichte von Angulimala, einem Terroristen aus der Zeit Buddhas. Es heißt Angulimala habe bereits 999 Menschen getötet gehabt und hätte sich gerade daran gemacht, die eigene Mutter abzuschlachten, als der Buddha ihm begegnete. Angulimala war damals furchtbar verzweifelt. Vermutlich etwa so verzweifelt, wie das auch Claude Thomas in seiner Biografie beschreibt. Und es gelingt dem Buddha, diesen Menschen zu verändern. Er sagt ihm, dass er umkehren könne, dass man sich jederzeit ändern kann, egal, was man vorher getan hat.

Dies soll keine Entschuldigung vorangegangener Taten sein – laut buddhistischer Überzeugung haben unsere vergangenen Taten Folgen, man nennt das Karma. Aber das bedeutet auch, dass unsere neuen Taten ebenso Folgen haben werden, und das wiederum bedeutet, dass es möglich ist – auch wenn es lange dauert – frühere Taten abzubauen. Der Buddha hatte damals eine spezielle Therapie für Angulimala, dessen Selbstvertrauen er aufbaute, indem er ihm ermöglichte, Menschenleben zu retten.

Die Geschichte endet damit, dass Angulimala nach langem intensiven Üben - und natürlich auch nach schmerzhaften Erfahrungen - schließlich Erleuchtung erlangt. Ich glaube, es war mein Vertrauen in den Buddha, das mich dazu brachte, Claudes Lebensgeschichte zu lesen, und zu beginnen, ihn mit seinen eigenen Augen zu betrachten, wohl wissend, das diese Sichtweise verblendet war.

Claude hat übrigens Ende der 90er Jahre einen Friedensmarsch durch Europa gemacht, Anlass war der damals gerade tobende Jugoslawien-Krieg. Claudes Marsch, dem sich zahlreiche BuddhistInnen anschlossen, begann mit einem Retreat in Auschwitz. An diesem Ort meditierten die Teilnehmer und versuchten das Grauen, das dort stattfand, in sich aufzunehmen. Sie übten die Entfaltung von metta für die zahllosen Opfer. Aber natürlich auch für die Täter, die ebenso Opfer ihrer Verblendung waren, wie das Claude, der Retreatleiter, auch gewesen war. Dann marschierten die TeilnehmerInnen – übrigens ohne Geld, abhängig von Nahrungsspenden und davon, dass ihnen Leute Obdach auf ihrer Wanderung gewährten, von Polen über Deutschland und Österreich in das damals gerade verfallende und vom Krieg überzogene Jugoslawien. Ich hatte damals meine wütenden Gefühle gegen Claude überwunden, und als er durch Hessen kam, habe ich ihn in Wiesbaden besucht und für das BuddhaNetz-Info, ein damaliges Nachrichtenblatt des deutschsprachigen Netzwerks Engagierter Buddhisten, dessen Herausgeber ich war, interviewt.

Und nun kommen wir zu einem anderern Kämpfer. Der Vietnamkrieg ist Geschichte. Aber noch immer gibt es den Krieg des IS gegen unsere Zivilisation. Und noch immer gibt es verblendete Menschen wie dich, wie Claude oder wie mich. Oder eben wie Mohammed Al-Khader, Jahrgang 1997, geboren in einem Vorort von Damaskus.

Mohammeds Vater ist Lehrer und der junge Mann hat vier Geschwister, die Mutter führt den Haushalt. Mohammed ist kein ungebildeter junger Mann, er hat eine Schule besucht, unserem Gymnasium vergleichbar, wollte studieren. Für Religion hat er sich nicht besonders interessiert. Zwar ging er meist zum Freitagsgebet in die Moschee, aber in erster Linie, weil das seine Großeltern so wollten, und Mohammed war ein folgsamer Junge.

Dass er kein Schweinefleisch aß, war mehr einer Landessitte als einer Überzeugung geschuldet. Und mit 14 begann er mitunter mit Kumpels heimlich Bier zu trinken, manchmal brachte einer von ihnen auch Schnaps mit, war ja so schön verboten. Da saßen sie dann, sahen gemeinsam westliche Filme an, am liebsten Action-Filme, oder sie spielten Videospiele, da ist die Welt so schön einfach. Da gibt es böse Monster und feindliche Kombatanten, die man wegknallen kann, Problem gelöst. Die eigenen Probleme waren weniger leicht zu lösen. Irgend etwas lief total schief, nicht nur in Syrien, im ganzen arabischen Raum, eigentlich auf der ganzen Welt. Seit er 13, 14 war, wurde ihm das immer deutlicher. Von seinen Freunden, die die Schule bereits verlassen hatten, waren die meisten arbeitslos, nicht wenige von ihnen hatten nicht einmal genug zu essen. Und da waren diese Filme, Szenen aus einer anderen Welt, aus Amerika und aus Europa. Die Jugendlichen in diesen Filmen lebten in Wohlstand.

Mohammed war fleißig in der Schule, hatte gute Noten, allerdings keine Beziehungen irgendwo anders beruflich unterzukommen, als in einem der Läden von entfernten Onkeln. Und diese konnten nichts bezahlen, was man wirklich Lohn nennen konnte, nicht vielmehr als ein Taschengeld. Auf diese Weise wäre es praktisch nicht möglich zu heiraten und eine Familie zu ernähren.

Die Typen in den Filmen und in der Werbung hatten hingegen alles und schienen sich dafür viel weniger anstrengen zu müssen als er. Irgend etwas lief verdammt schief in dieser Welt. Und dann waren da noch diese vielen Flüchtlinge gewesen aus dem Irak. Syrien hatte mehrere Millionen Flüchtlinge aus dem Nachbarland aufgenommen. Und alle die konkurrierten auch um die wenigen Arbeitsplätze, was zu stark sinkenden Löhnen führte. Sprachprobleme gab es bei diesen Flüchtlingen keine, im Irak spricht man - wie in Syrien - arabisch. Natürlich war es gut, diese Menschen aufzunehmen, sie waren ja Opfer eines Krieges. Der amerikanische Präsident George W. Bush hatte behauptet, Irak hätte Massenvernichtungswaffen und das Land daher angegriffen. Irak hatte allerdings keine Massenver-nichtungswaffen, übrigens im Gegensatz zu den USA.

Aber die USA waren stark und der Irak erst schwach, dann zerstört, versunken im Chaos. Und Mohammed wusste: angerichtet worden war das vom Westen, von denen, die doch alles hatte. Und dann kam da dieses Wort: „Kreuzzügler“, die Kreuzzügler hatten das angerichtet, die Ungläubigen. Die Ungläubigen hatten im Zeichen des Kreuzes, so wusste Mohammed aus dem Geschichtsunterricht, immer wieder die Länder des Orients und des rechten Glaubens überfallen, schon vor 1000 Jahren hatten die Kreuzzügler Tod, Vernichtung und Elend in den Orient gebracht. Diese Geschichte wiederholte sich immer wieder, und noch vor 100 Jahren waren es die englischen Kolonialherren, die damals diese völlig ahistorischen Grenzen in den Orient gezogen hatten, mit denen Völker getrennt wurden und verfeindete Volksstämme in Staaten zusammengefasst wurden.

Und jetzt waren sie wieder da, die Kreuzzügler. Sie hatten unsere arabischen Brüder und Schwestern im Irak überfallen, richteten Massaker an rechtgläubigen Irakern an. Und was war dann geschehen? Hier selbst, hier in Syrien, gab es Unruhen. Klar, Präsident Assad war ein autoritärer Herrscher, aber er hatte zumindest für Ordnung gesorgt. Dann kamen da diese Aufstände. Sein Vater hatte anfangs damit sympathisiert, obwohl er als Lehrer vom Staat angestellt war.

Doch dann kamen plötzlich ausländische Interessen ins Land, die Ausländer bewaffneten verschiedene Gruppen. Die Amerikaner, die Iraner, die Türken, die Russen, die Franzosen, alle mischten sich ein - und das Land versank im Chaos. Von diesen vom Ausland bezahlten Gruppen war kein Hoffnung zu erwarten. Und Assad, den kann man doch auch gerade vergessen. Bombardiert sein eigenes Volk!

Aber dann war da der Bärtige, er nannte sich Abu el Mot. Und er wusste, er schilderte in eindringlichen Worten, dass dies alles nur der erneute Versuch der Kreuzzügler war, das arabische Volk zu spalten. Die Ungläubigen wollten ihre Weltherrschaft, die auf Ausbeutung und auf Unmoral basiert, ausbauen und damit die Weltherrschaft des Satans festigen. Aber es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet, so schilderte es Abu el Mot.

Und Mohammed, das war nicht nur der Name des Propheten – der Friede sei mit ihm – Mohammed ist schließlich auch mein eigener Name. Es ist eine Ehre den Namen des Propheten zu tragen. Was kann besser sein, als sich auf die Seite der Guten zu stellen und die Ungläubigen und Unmoralischen ein für alle mal zu besiegen. Wir werden sie diesmal verfolgen, hatte Abu el Mot besagt, bis wir Rom erobert haben. Wir werden den Vatikan einnehmen und aus dem Petersdom eine Moschee machen. Gott ist groß, und der Sieg wird mit Gottes Hilfe unser sein!

Abu el-Mot hatte auch Internetseiten genannt, auf denen mehr dazu stand, Seiten, die vom Ruhm des entstehenden Kalifats kündeten. Endlich die Kreuzzügler vernichten endlich ein Kalifat, ein Gottesstaat schaffen, wie damals, als der Prophet – der Friede sei mit ihm – noch auf der Erde weilte. Endlich wissen, wo es lang geht. Auf der Seite der Guten stehen, Gottes Reich schaffen, ein großes, ein mächtiges Kalifat. Und was Abu el Mot noch gesagt hatte: wir werden ein Kalifat schaffen, indem es nicht um Geld geht, sondern wo jeder Kämpfer nach dem Kampf ein kleines Stück Land bekommt, dass er bebauen kann, Unabhängigkeit!

Es werden nicht mehr nur die Reichen und Erfolgreichen heiraten können, jeder Kämpfer soll eine Frau haben, die zu Hause auf ihn wartet, die seine Kinder bekommt, während er Arabien von den Kreuzzüglern, diesem unmoralischen Natterngezücht, befreit.

Ja, diesen schönen Traum träumte auch Mohammed. Wir alle haben einen ähnlichen schönen Traum schon einmal geträumt. Die Träume waren im Prinzip ähnlich, auch wenn sie in den Details verschieden waren. Es sind dies die Träume von einer gerechten Welt und dem Leben in einer glücklichen Beziehung, auf dem eigenen Grund und Boden in einem gerechten Staat.

Ich kenne eine Variante dieses Traumes aus der Geschichte meiner eigenen Verblendung. Und auch Claude träumte den Traum der one-nation-under-god, die die Welt mit ihrem way of life beglückt. Vielleicht sind uns das Lebensgefühl von Mohammed Al Khader und von Claude Thomas fern. Deshalb gehe ich jetzt einmal zurück zu mir und meiner Familie. Mein Großvater, der im ersten Weltkrieg den Dienst mit der Waffe verweigert hatte, träumte auch seinen Traum. Er war als Schulabbrecher mit 13 Jahren zuhause fortgelaufen, hat sich im Laufe seines Lebens hochgekämpft: Gehilfe, Lehrling, Geselle, Handwerker, später Dentist – ein Zahnarzt ohne Volksschul-abschluss. Er tat sich zwar immer noch schwer mit dem Lesen, aber über seinem Klavier hingen die Bilder, von den Symbolen des Wahren, Schönen und Guten: Goethe, Beethoven, sein Großes Vorbild der Dalai Lama – und natürlich Adolf Hitler.

Er war überzeugt, wenn nicht der Adel, die Hindenburgs und Ludendorffs, sondern ein kleiner Gefreiter, der die Schrecken des Krieges kennen gelernt hatte, Führer wäre, würde es nie wieder Krieg geben. Daher hat er als Pazifist in Großauheim die NSDAP aufgebaut, war von 1927 – 1937 Ortgruppenleiter. Nach Kriegsende, nach dem Zusammenbruch seiner Verblendung, hat er sich umgebracht.

Mein Vater hatte den Traum geträumt, wenn man erst die bolschewistische Gefahr beseitigt hätte, könnte Deutschland in Frieden leben. Diesen Floh hatte ihm nicht Abu el-Mot ins Ohr gesetzt, sondern die HJ. Als mein Vater war so alt wie der spätere IS-Kämpfer Mohammed bei Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges, nämlich 13, kam in Deutschland Hitler an die Macht.

Und was ist mit mir? Der ich „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ auf meine Fahnen geschrieben hatte. War wenigstens ich, der so viel bessere Bedingungen hatte als all diese anderen Genannten, als mein Vater, mein Großvater als Mohammed Al-Khader und als Claude Thomas, war wenigstens ich frei von diesem Hass, dieser Verblendung, diesem Kriegsgeschrei.

Auf dem Höhepunkt des Vietnam-Krieges, 1972, ich war damals Student in Frankfurt gab es eine große Veranstaltung zum Vietnam-Krieg, an der auch ich teilnahm. Es wurde unter anderem Geld gesammelt, Geld für den Vietkong. Irgend jemand fragte, ob dieses Geld nur für humanitäre Hilfe sei, oder auch für Waffen. Der Organisator der Sammlung antwortete laut und deutlich: „Für Waffen? Ja!“ Daraufhin habe ich 10 DM in die Spendenbüchse geworfen. Und wenn da einer kommt und sagt: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf Mohammed al Khader“, dann kann ich nur feststellen, ich bin spätestens nach der 10-Mark-Spende auch nicht ohne Schuld. Ich habe genauso wenig wie andere das Recht mit moralischen Steinen auf Mohammed al-Khader zu werfen.

Der Spruch „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ stammt bekanntermaßen von Jesus. Und Jesus forderte in der Bergpredigt auf: Liebet eure Feinde. Leider ist nicht überliefert, welche Übungen wir laut Jesus dazu machen sollen.

Als Buddhisten machen wir dazu die Übung der meta bhavana. In der ersten Stufe entwickeln wir dieses tiefe Wohlwollen, dieses verständnisvoll offene Herz für uns selbst. In der zweiten Phase für einen Guten Freund oder eine edle Freundin, in der dritten für eine Person, zu der wir weder eine emotionale Zuneigung noch eine Abneigung haben, in der vierten Phase für einen „Feind“ und in der letzten Phase weiten wir die Zielgruppe unseres metta Schritt für Schritt aus, bis unser metta schließlich auf alle fühlenden Wesen ausgestrahlt wird. Viele Übende tun sich mit der dritten und vierten Phase schwer.

Grundlage für dieses metta ist unser Verständnis für die andere Person, auch für den „Feind“. Wir müssen beginnen, ihre Situation nicht mit unseren, sondern mit ihren eigenen Augen zu sehen, müssen einen Perspektivwechsel vornehmen. Ich habe mit dem Beispiel des Mohanned Al Kader versucht zu zeigen, wie wir dies machen können.


Niemals wird Hass den Hass besiegen.
Nur die Liebe ist in der Lage, den Hass zu besiegen.

(Buddha)


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