Meditation im Gehen
Vortragsreihe „Meditation“
, Teil XII
 von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt, Gelnhausen (2012)
bearbeitet am 8. Oktober 2019


Ich möchte diesen Vortrag mit einem Auszug aus dem Satipatthana-Sutta, der Lehrrede von den Vier Grundlagen der Achtsamkeit, beginnen:

„Da ist der Mönch beim Hingehen und Zurückgehen wissensklar in seinem Tun; beim Hinblicken und Wegblicken ist er wissensklar in seinem Tun; beim Beugen und Strecken ist er wissensklar in seinem Tun; beim Tragen der Gewänder und der Schale ist er wissensklar in seinem Tun; beim Essen, Trinken, Kauen und Schmecken ist er wissensklar in seinem Tun; beim Entleeren von Kot und Urin ist er wissensklar in seinem Tun; beim Gehen, Stehen, Sitzen, (Ein-) Schlafen, Wachen, Reden und Schweigen ist er wissensklar in seinem Tun. 

So weilt er nach innen beim Körper in Betrachtung des Körpers; oder er weilt nach außen beim Körper in Betrachtung des Körpers; oder er weilt nach innen und außen beim Körper in Betrachtung des Körpers. Die Dinge in ihrem Entstehen betrachtend, weilt er beim Körper; die Dinge in ihrem Vergehen betrachtend, weilt er beim Körper; die Dinge in ihrem Entstehen und Vergehen betrachtend, weilt er beim Körper.“

Der Buddha beschreibt hier die Wissensklarheit und er beschreibt dies in Bezug auf die erste der Vier Grundlagen der Achtsamkeit, auf die Körperachtsamkeit. Er sagt, der praktizierende Mensch, so übersetze ich hier den Begriff Mönch, sei beim Gehen wissensklar in seinem Tun, d. h. seine Achtsamkeit ist auf das Gehen selbst gerichtet, er ist also nicht gedankenverloren irgendwo in der Zukunft oder in der Vergangenheit.


Was bedeutet das für die Gehmeditation? Wie ihr wisst, praktiziere ich dieses Jahr fast jeden Abend eine halbe Stunde Meditation auf dem Obermarkt, täglich von 18.15 h bis 18.45 h. Wetterbedingt war das in den Monaten Oktober bis April in der Regel Gehmeditation. Ich bin langsam und gemessenen Schrittes um den Brunnen auf dem Obermarkt gegangen, gerade so, wie man eine Stupa, ein buddhistische Gedenkstätte, die eine Reliquie enthält, umschreitet: im Uhrzeigersinn. Man kann diese Umschreitung auf zwei Arten wissensklar tun: achtsam nach innen oder achtsam nach außen. Ich möchte zunächst über die Achtsamkeit nach innen sprechen.

Eine Möglichkeit ist es dabei, ganz auf den unmittelbar vom Gehen betroffenen Körperteil zu achten, die Füße. In manchen buddhistischen Traditionen wird dem sehr großes Gewicht beigemessen. Jedes kleinste Detail des Gehvorganges in Bezug auf die Füße wird genau beachtet. In diesen Traditionen wird sehr, sehr langsam gegangen: im Zeitlupentempo. Das Heben des Fußes vom Boden wird achtsam betrachtet, die langsame Vorwärtsbewegung des Fußes, das erste Aufsetzen des Fußes mit der Ferse, das allmähliche Abrollen des Fußes auf den Boden und natürlich die Empfindungen, die dieses hervorruft. Dabei wird außerdem die Gehbewegung auf das Atmen abgestimmt. So kann man praktizieren.

Mir erscheint das sehr gekünstelt, denn normalerweise geht niemand in Zeitlupe. Meines Erachtens ist das auch kein echtes Gehen. Bei dieser Art der Fortbewegung in Zeitlupe muss ich sehr viel Bemühen ins Balancieren legen, was beim normalen Gehen überhaupt nicht der Fall ist, ich halte diese Methode daher für entfremdet und bin froh, dass wir bei Triratna, der buddhistischen Gemeinschaft, der ich angehöre, nicht auf diese Weise praktizieren. Wir üben Gehmeditation in einem eher normalen Gehtempo, nicht in raschem Gehen, sondern langsamer, ich nenne es: gemessenen Schrittes. In dieser Haltung kann man genauso gut das Gehen betrachten, und zwar unter realistischen Bedingungen.


Dennoch ist das nicht die übliche Art, wie ich Gehmeditation übe. Denn Gehen ist mehr als die Betrachtung der unmittelbar vom Gehen betroffenen Körperteile, der Füße. Gehen ist etwas, das man im ganzen Körper spüren kann. Und um dies zu erfahren, übe ich Gehmeditation als body-scanning. Zu Beginn dieses body-scannings verfahre ich genauso, wie dies oben beschrieben wurde. Aber dann gehe ich ganz langsam weiter, jede einzelne Körperregion und ihre Interaktion mit dem Gehen betrachtend. Als nächstes sind also die Knöchel dran: wie fühlt sich das Gehen in den Knöcheln an. Besonders, wenn man auch öfter body-scanning im Sitzen betreibt, lassen sich beim body-scanning im Gehen signifikante Unterschiede feststellen.

Nach den Knöcheln lenke ich meine Achtsamkeit auf die Achillessehne, das ist die starke Sehne oberhalb der Ferse: wie bewegt sie sich, wie fühlt sich diese beim Gehen an? Nachdem ich dies einigermaßen erschöpfend behandelt habe, gehe ich mit meiner Achtsamkeit zum Muskelspiel in den Waden weiter. Ich versuche alle Empfindungen, die sich in den Waden in Abhängigkeit von jeder einzelnen Phase der Fußbewegung und des Widerstandes des Bodens ergeben, zu ergründen. „Beim Beugen und Strecken ist er wissensklar in seinem Tun“, nennt das der Buddha in der anfangs zitierten Lehrrede, das bedeutet, der Praktizierende weiß, was er gerade tut und ist sich der Auswirkungen auf seinen Körper bewusst. 

Im Bereich der Waden kommen auch noch Empfindungen hinzu, die durch die Berührung mit der Kleidung hervorgerufen werden, denn diese ist ja auch vom Gehprozess betroffen, oder um es noch einmal mit den Worten des Buddha zu sagen: „beim Tragen der Gewänder ist er wissensklar in seinem Tun“. Sollte man mit nackten Unterschenkeln gehen, so ist hier die Berührung mit der Luft und deren Temperatur festzustellen. Als nächstes erforsche ich die Gehbewegung im Bereich der Knie. So gehe ich weiter durch den ganzen Körper, bis ich schließlich bei der Kopfhaut und ganz zuletzt bei den Kopfhaaren ankomme. Bei der Kopfhaut vermag ich noch deutlich das Gehen zu spüren, bei den Haaren nur manchmal.

Neben dieser reinen Betrachtung der Körperteile ist auch die Betrachtung eines weiteren Phänomens der Körperbetrachtung sehr interessant, eines Phänomens, das wir in der Sitzmeditation schon gründlich erforscht haben, nämlich des Atems. Es gibt Elemente des Atems, die fühlen sich im Gehen deutlich anders an, was auch damit zu tun hat, dass dabei unsere Muskeln stärker arbeiten müssen und daher mehr Sauerstoff benötigt wird. Andere Elemente des Atems werden uns sehr bekannt vorkommen.

In der nach innen gerichteten Meditation im Gehen ist also unser Körper das Objekt unserer Achtsamkeit. Ablenkungen gibt es natürlich auch hier, und die liegen in unseren Sinnenpforten. Auch hier ist es wieder das Denken, also die Nichtachtsamkeit auf den Moment des Gehens, die an erster Stelle zu nennen ist.

Meiner Erfahrung nach ist aber diese Ablenkung geringer als bei der Sitzmeditation, denn der Geist hat mit der Betrachtung des Gehens und der Erforschung der damit verbundenen Empfindungen deutlich mehr Handfestes zu tun, als z. B. bei der Atembetrachtung im Sitzen. Die Ablenkung durch Hören kann etwas größer sein als bei der Sitzmeditation, denn die Sitzmeditation findet in der Regeln in geschlossenen Räumen statt, während die Gehmeditation häufiger im Freien geübt wird, wo naturgemäß die unterschiedlichen Geräusche, von natürlichen wie Vogelgezwitscher und Bäumerauschen bis zu kulturell verursachten, also Autogeräuschen, Fluglärm, Menschengeschnatter, Hundegebell und so weiter, viel stärker verbreitet sind.

Auch Gerüche sind bei der Meditation im Freien eine stärkere Ablenkung, seien es Autoabgase oder der Grillgeruch vom Nachbarn. Und schließlich ist das Sinnentor Auge ein größerer Quell der Ablenkung, denn im Gegensatz zur Sitzmeditation findet die Gehmeditation gewöhnlich mit offenen Augen statt. 


Alles bisher Gesagte betrifft das, was der Buddha „so weilt er nach innen beim Körper in Betrachtung des Körpers“ nennt.

Mitunter mache ich aber auch eine ganz andere Art von Meditation. Es heißt: „oder er weilt nach außen beim Körper in Betrachtung des Körpers“. Dabei ist ganz wichtig das einleitende „oder“. Man sollte diese beiden Dinge nicht durcheinanderwerfen. Entweder man weilt nach innen, oder nach außen, ein Mischmasch ist das Gegenteil der Achtsamkeit. In den klassischen buddhistischen Kommentaren wird darauf hingewiesen, dass der Praktizierende dabei einen anderen Praktizierenden betrachtet.

Wenn man Gehmeditation in einer Gruppe übt, dann kann man dabei das Gehen der Person vor einem betrachten. Durch diese andere Perspektive erschließen sich mitunter ganz neue Aspekte bezüglich des Gehens, die man dann wieder auf die eigene Person beziehen kann, daher auch die Aussage im Satipatthana-Sutta: „oder er weilt nach innen und außen beim Körper in Betrachtung des Körpers“, was bedeutet, dass man die in der Betrachtung nach außen gewonnen Eindrücke mit dem vergleicht, was ich bei mir empfinden kann: ist das bei mir auch so?


Es gibt aber noch eine weitere Möglichkeit der Meditation im Gehen, und gerade der anatta-Gedanke, also das Wissen darum, das Ich und Mitwelt nicht voneinander getrennt sind, sondern ein organisches Ganzes bilden, ist dabei hilfreich. Wenn ich meine Gehmeditation auf dem Obermarkt mache, dann betrachte ich häufig nicht mich, nicht M-I-C-H, sondern mich als Teil des Obermarktes, als integralen Bestandteil eines Ganzen, als Teil eines Ensembles. Das fällt mir umso leichter, als ich dieses Umschreiten des Brunnens auf dem Obermarkt in diesem Winterhalbjahr mindestens hundertmal gemacht habe, dass ich also tatsächlich zwischen 18.15 h und 18.45 h eine typische Erscheinung des Obermarktes bin, so wie der Schatten eines Baumes, der immer wieder auftritt, oder das Schlagen der Turmuhr, das zu diesem Ensemble gehört. 

„Die Dinge in ihrem Entstehen betrachtend, weilt er beim Körper; die Dinge in ihrem Vergehen betrachtend, weilt er beim Körper; die Dinge in ihrem Entstehen und Vergehen betrachtend, weilt er beim Körper.“ In diesem Zitat wird darauf hingewiesen, dass ich bei alledem das Geschehen des Ensembles Obermarkt nicht als von mir getrennt sehe, sondern dass ich mir meiner körperlichen (und geistigen) Anwesenheit in diesem Prozess „Gelnhäuser Obermarkt im frühen 21. Jahrhundert“ bewusst bin. Ich bin mir also meines Umfeldes bewusst, ich kenne den Brunnen, kenne die Pflastersteine, kenne die Bäume, die Häuser usw. Und ich betrachte die Dinge im Entstehen und Vergehen.

Natürlich kann ich nicht das Entstehen und Vergehen der Häuser betrachten, obwohl ich mir des vorübergehenden Charakters dieser Phänomene durchaus bewusst bin, so ist das Haus, in dem sich unser Meditationsraum hier befinden, ein recht neues, es ist aus dem Jahr 1806, also fast noch ein Neubau. Andere Häuser am Obermarkt sind aus dem 13. oder 14. Jahrhundert, was ja auch nicht gerade besonders alt ist, wenn man bedenkt, dass die Berge, die von hier aus zu sehen sind, der Vogelsberg etwa, 15 Millionen Jahre alt sind, was für ein Gebirge allerdings auch sehr, sehr jung ist. 


Doch zurück zu dem, was ich in der Veränderung tatsächlich betrachten kann. Da ist z. B. der Sonnenstand. Mitte Oktober war es um die Zeit, zu der ich meine Meditation im Gehen zu machen pflege, noch hell, allmählich begannen in den folgenden Wochen, die Straßenlampen anzugehen, immer früher, parallel mit der früher eintretenden Dunkelheit. Dann ging ich lange bei Dunkelheit, Anfang März war es gegen 18.15 h schon nicht mehr ganz dunkel, aber 15 Minuten später schon. Bald wurde es um diese Zeit ganz hell und seit dem 24. April gibt es sogar etwas Sonnenschein bei der Umschreitung des Brunnens, erst nur ganz wenig für einige Minuten, dann allmählich mehr. 

Ich sah die Bäume ihre Blätter verlieren und jetzt wieder bekommen, erst ganz zaghaft knospend, alsdann allmähliches Grün, dann kräftiger, inzwischen haben sogar die Kastanien ihre Blütenkerzen aufgerichtet, fünf Bäume in weißer Farbe, einer in rötlicher. Alle Bäume sind jetzt ergrünt, bis auf die beiden Platanen. Inzwischen laufen auch die Ameisen wieder, was mich zu achtsamerem Gehen veranlasst.

Ich sah den ersten Reif, sah mitunter Regen, sah den Obermarkt im Neuschnee versinken, sah schmutzig-matschigen Altschnee, das Wegtauen des Schnees. Ich sah, wie die Blumenkübel
verschwanden und stellte fest, dass das Brunnenwasser abgestellt wurde, sah, wie Lichtergirlanden und Weihnachtssterne aufgehängt und illuminiert wurden, sah den Weihnachtsbaum und den Adventskranz kommen und gehen. Sah die jahreszeitlich bedingten und auch andere Veränderungen, wie die Erweiterung der Parkflächen, und war mir dabei immer bewusst, dass ich gehe und ein Teil dieses Ensembles bin: „die Dinge in ihrem Entstehen betrachtend, weilt er beim Körper; die Dinge in ihrem Vergehen betrachtend, weilt er beim Körper; die Dinge in ihrem Entstehen und Vergehen betrachtend, weilt er beim Körper.“ 

Entscheidend bei dieser Art der Betrachtung ist die Achtsamkeit auf Veränderung, auf zyklisches und auf dauerhaftes Ändern und die Nichtgetrenntheit zwischen dem Ensemble Obermarkt, diesem meinem Körper, der ein Teil dieses Ensembles ist und dem Bewusstsein, dass auch das Ensemble Obermarkt Teil eines größeren Ensembles ist, von Gelnhausen, Teil des Ensembles des deutschen Kulturraumes, Teil unseres Kontinents, unseres Heimatplaneten, dieser Galaxis, des Universums, der Allheit.

Die Dinge in ihrem Entstehen betrachtend, weilt er beim Körper; die Dinge in ihrem Vergehen betrachtend, weilt er beim Körper; die Dinge in ihrem Entstehen und Vergehen betrachtend, weilt er beim Körper.“ Und bei all dem bin ich mir meiner Kleinheit, aber auch meiner Wichtigkeit als handelndes Individuum, als gestaltendes Subjekt in der großen Mannigfaltigkeit der Prozesse bewusst, wissend, dass Handlungen Folgen haben, wissend, dass meine Handlungen Folgen haben, die auf andere, auf mich und auf das ganze große Ensemble wirken.

„Die Dinge in ihrem Entstehen betrachtend, weilt er beim Körper; die Dinge in ihrem Vergehen betrachtend, weilt er beim Körper; die Dinge in ihrem Entstehen und Vergehen betrachtend, weilt er beim Körper.“ 

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