Die Grüne Tara
Vortragsreihe „Inspirationsbaum“, Teil XVIII von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt, Gelnhausen
zul. geändert im 25. Oktober 2019
„Vor
vielen Äonen lebte die Prinzessin Yeshe Dawa in einem weit entfernte
Universum“ so beginnt der Mythos von der Grünen Tara – oder besser:
einer der Mythen von der Grünen Tara. Offensichtlich handelt es sich
bei Tara – genau wie bei den anderen Bodhisattvas – nicht um eine
historische, sondern um eine mythologische Figur. Und sinnvoller Weise
versucht der Wortlaut des Mythos auch gar nicht daraus ein Geheimnis zu
machen, deshalb lässt er diese Prinzessin grüne Haut haben. Es mag
Kindmenschen geben, die dennoch glauben, dass all das, wovon der Mythos
berichtet, eine Prinzessin Yeshe Dawa in uralter Zeit in einer Fernen
Galaxis passierte. Das ist in Ordnung. Diese Kindmenschen könnten an
viel schädlichere Mythen glauben.
Aber ich denke, wir können uns darüber einig sein, dass es sich nicht
um eine historische Wahrheit, sondern um einen Mythos handelt, und zwar
um einen äußerst hilfreichen Mythos, denn es geht darum, dass sich die
Hörer/innen dieses Mythos mit der Figur der Grünen Tara, die für
angewandtes Mitgefühl steht, identifizieren und die Eigenschaften und
Qualitäten, wofür sie steht, bei sich selbst kultivieren.
Die Prinzessin entschied sich in diesem Mythos natürlich – wie der
historische Buddha – dass ihr Reichtum nichts bedeute und widmete sich
dem, den Wesen zu helfen und insbesondere ihnen den Dharma zu geben.
Daraufhin legten ihr religiöse Autoritäten nahe, sie möge dafür beten,
künftig als Mann wiedergeboren zu werden, dann könnte sie als Buddha
die Welt beglücken. Doch Tara wiedersprach: „Nein, es gibt bereits
zahlreiche männliche Buddhas, die den Menschen in vielen Welten ein
Vorbild sind. Es ist wichtig, das Selbstbild der Frauen dadurch zu
stärken, dass ich in weiblicher Form wiederkehre und ihnen so ein
Beispiel gebe.“ Und tatsächlich, obwohl Buddhaschaft nicht an ein
Geschlecht gebunden ist, obwohl Buddhaschaft ja gerade alle Dualitäten
überwindet, scheint es für viele Menschen wichtig zu sein, auch
weibliche Figuren zu haben, die die höchsten Ideale des Buddhismus
verkörpern.
In
diesem Raum haben wir die beiden Hauptaspekte von Buddhaschaft,
Weisheit und Mitgefühl, dargestellt durch Manjusri mit dem flammenden
Schwert der Weisheit bzw. durch die für Mitgefühl stehende Grüne Tara.
Ich hätte hier auch zwei andere Figuren hinmalen können, den männlichen
Bodhisattva Avalokitesvara, der für Mitgefühl steht, und die weibliche
Bodhisattva Prajnaparamita, die vollendete Weisheit verkörpert.
Offensichtlich soll durch diese unterschiedliche Belegung ausgedrückt
werden, dass weder Mitgefühl noch Weisheit eine besonders männliche
oder weibliche Eigenschaft sind.
Taras grüne Farbe symbolisiert Handlung und Erfolg und hat auch einen
Bezug zum Luftelement. So wie das Luftelement die grünen Pflanzen
wachsen lässt, was nach dem kalten, dunklen Winter wieder
Frühlingsgefühle aufsteigen lässt, so bringt auch Tara mittels ihrer
erleuchteten Eigenschaften Frische in unser Leben und hilft uns dabei,
uns von der Schwere des Hamsterrades von samsara
zu lösen. Und so wie jeder Hobbygärtner seine Freude hat, wenn saftige
grüne Pflanzen emporragen, ebenso steht auch Taras grüne Farbe für
Erfolg, für Entwicklung, für Wachstum, Freude, Hoffnung, Optimismus.
Dabei hat Tara – wie alle Bodhisattvas einen semitransparenten
Lichtkörper, wunderschön, doch unfassbar, wie ein Regenbogen, eine Fata
Morgana oder das Gespinst einer Illusion.
Während alle anderen Figuren hier mit verschränkten Beinen in
Meditationshaltung sitzen, ist Taras rechtes Bein abgewinkelt, ein
Spotlight beleuchtet ihren rechten Fuß als das entscheidende Detail
ihres Körpers: sie ist bereit, sich in jedem Moment zu erheben und auf
die Wesen zuzugehen, die ihrer Hilfe bedürfen, sei es in praktischen
oder in dharmischen Angelegenheiten. Das korrespondiert mit der Haltung
ihrer rechten Hand, mit der sie die Geste der Freigebigkeit zeigt, sie
bietet damit allen Wesen das an, dessen diese bedürfen, sei es Besitz,
Liebe, Schutz oder der Dharma. Die gleiche Handhaltung finden wir
übrigens in diesem Medotationsraumaum noch einmal, und auch hier bei
einer grünen Figur, nämlich bei Amoghasiddhi, der Figur, die für den Durchbruch zur Erleuchtung, für die Emanzipation des Menschen steht.
Taras linke Hand ist in der Mudra der Drei Juwelen dargestellt. Daumen
und Ringfinger berühren sich, was die Einheit von Weisheit und
Mitgefühl symbolisiert, während die anderen drei Finger gerade
aufgerichtet sind – die Triratna-Mudra, die die Zufluchtnahme zu
Buddha, Dharma und Sangha bezeichnet. In beiden Händen hält Tara
Stängel der Utpalablume, des blauen Lotus. Häufig finden wir daran
verschieden weit geöffnete Lotusse, wobei die Knospe die Buddhas der
Zukunft symbolisiert, die anderen die Buddhas von Vergangenheit und
Gegenwart.
Es fällt außerdem auf, dass Tara mit einem dem damaligen
Schönheitsideal entsprechenden vollkommenen Körper als sechszehnjährige
Frau dargestellt wird, hier steht die körperliche Vollkommenheit
stellvertretend für die spirituelle Vollkommenheit. Tara ist mit
schönem Schmuck behängt, aber ihr wahrer Schmuck sind natürlich ihre
inneren Werte – Ruhe, Gelassenheit, Freundlichkeit, Mitgefühl,
Mitfreude, Weisheit. Die sichtbaren Schmuckstücke stehen für ihre
spirituellen Vollkommenheiten, ihre paramitas, nämlich dana (Gebefreude), sila (Ethik), viriya (Tatkraft), kshanti (Geduld), samadhi (Konzentration) und prajna (Weisheit).
Was wir in diesem Bild nicht sehen können, ist ein akustisches
Phänomen, Tara ist mit drei Silben geschmückt, die Silben die wir heute
hier vor der Meditation schon rezitiert haben, nämlich bei der
Schreibegrüßung: OM – AH – HUM. Om erklingt an ihrem Scheitel-Chakra,
Ah am Hals-Chakra und Hum am Herz-Chakra. Diese Silben stehen für
richtiges Handeln auf der Ebene des Geistes, der Ebene der Sprache und
der Ebene des Handelns. Wir können das bei der Schreinbegrüßung
nachvollziehen, indem wir bei den entsprechenden Silben diese Chakras
mit den gefalteten Händen berühren – an unseren eigenen Körper
natürlich.
Das, was ich eben zur Beschreibung der Abbildung der Tara gesagt
habe, gilt übrigens für alle Bodhisattvas: sie werden immer in einer
ganz bestimmten Art dargestellt, damit diese Symbolik in jeder ihrer
Darstellungen enthalten ist. Natürlich steht jeder/jede Bodhisattva für
alle erleuchteten Qualitäten, jedoch
ist bei jeder dieser Figuren ein ganz besonderer Aspekt betont, bei
Tara eben aktives, praktisch angewandtes Mitgefühl. Neben der Grünen
Tara gibt es übrigens noch zwanzig weitere Tarafiguren, allerdings ist
die Grüne Tara die mit Abstand beliebteste. Als ich der Grünen Tara möglicherweise selbst begegnete:Szene 028