Die erhabenen Geisteszustände
Vortragsreihe „Meditation“ Teil XV
von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt (2012)
zuletzt geändert am 8. Oktober 2019

Ich habe diesen Vortrag „die erhabenen Geisteszustände“ genannt, häufig werden sie von Buddhisten auf Deutsch auch als „göttliche Weilungen“, oder die „Vier Göttlichen“ bezeichnet. Im Einklang mit meinem Lehrer Sangharakshita werde ich sogar von insgesamt fünf erhabenen Geisteszuständen sprechen.

Die Bezeichnung „erhabene Geisteszustände“ oder „göttlichen Weilungen“ sagt, dass es sich um einen Geisteszustand handelt, also eine völlige Ausrichtung unseres Geistes in einen bestimmten Zustand, in einen Empfindens-, Denkens-, Sprech- und Handlungsmodus. Das Adjektiv „erhaben“ sagt, dass es sich dabei um überaus positive Geisteszustände handelt. Etwas vorsichtiger muss man mit dem Adjektiv „göttliche“ sein. „Göttliche“ ist hier als Adjektiv nicht von „Gott“ abgeleitet und schon gar nicht von dem Gott der abrahamitischen Religionen, wie wir ihn vielleicht aus dem Religionsunterricht kennen. „Göttlich“ ist hier eher als ein Synonym für „äußerst positive“ zu verstehen. Das Adjektiv „samma“, das vor den Pfadgliedern des Edlen Achtfachen Pfades, wie wir sie an dem Rad an der Wand hinter Euch sehen, immer vorkommt und z. B. aus vayama „Bemühung“ samma vayama macht, was sowohl Rechte Bemühung, also in richtiger Weise ausgeübte Bemühung, als auch Vollkommene Bemühung heißen kann, ist in etwa gleichbedeutend mit dem, was wir hier „göttlich“ nennen. Dieses Adjektiv wird hier in etwa so verwendet, wie in dem Beinamen der schwedischen Filmschauspielerin Greta Garbo, die auch als „die Göttliche“ bezeichnet wird.

Der Paliausdruck, der für „erhabene Geisteszustände“ verwendet wird ist brahmavihara. Das Wort „brahma“ bedeutet dabei „göttlich“ und vihara ist ein Aufenthaltsort, im buddhistischen Kontext häufig ein Synonym für Kloster. Im Wort brahmavihara ist aber kein physischer Ort gemeint, sondern ein mentaler Zustand.

Und wenn wir uns überlegen, welcher mentale Zustand wohl der Wichtigste ist, der in der Lehre des Buddha angestrebt wird, dann fällt das ganz klar auf, denn es ist eine Geisteshaltung, die wir in einer unserer beiden Meditationstechniken einüben, nämlich metta. Metta ist die grundlegende positive Emotion, die spirituell praktizierende Menschen anstreben. Metta ist vom Wort mitra abgeleitet, das bedeutet Freund. Metta ist also das Gefühl, das wir einem sehr guten Freund oder einer sehr lieben Freundin gegenüber haben.

Allerdings ist dieses Gefühl auf unserer Alltagsebene gewöhnlich ein ausschließendes Gefühl, ein Gefühl, das wir nur wenigen Menschen gegenüber empfinden, während uns die allermeisten Menschen völlig gleichgültig sind und wir manche Leute vielleicht sogar hassen. Nyanatiloka übersetzt in seinem buddhistischen Wörterbuch metta mit Allgüte, was ausdrücken soll, dass wir dabei alle Wesen einschließen und niemanden ausschließen. Das ist das, was z. B. Jesus meint, wenn er nicht nur verlangt „liebe deinen Nächsten“, sondern sogar fordert, man solle auch seine Feinde lieben. Leider steht im Neuen Testament nichts davon, wie wir dieses Kunststück vollbringen sollen. 


Im Gegensatz zu Jesus hat sich der Buddha nicht als Prophet oder Religionsstifter gesehen, sondern als Praktiker, der Menschen, die sich spirituell entwickeln wollten, praktische Anleitungen gab, wie sie das bewerkstelligen könnten. Daher lehrte er die metta bhavana, das ist die Technik, mit der man die Bedingungen schafft, metta, „Allgüte“, zu entwickeln. Der Buddha empfiehlt dabei in fünf Stufen vorzugehen, eine Praktik, die auch wir hier jede zweite Woche üben. In der ersten Phase verwenden wir Worte, Bilder oder Gedanken, die positive Emotionen gegenüber uns selbst erzeugen sollen. Wir nehmen uns – trotz aller unserer Fehler – an und erzeugen Wohlwollen, Zuneigung zu dieser uns nächststehenden Person, zu mir selbst. Es ist genau das, was auch Jesus meint, wenn er sagt „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Wir müssen also zu allererst unser Herz für uns selber öffnen, bevor wir andere mit einbeziehen können. 

In den nächsten drei Phasen der metta bhavana wird die Übung zunehmend anspruchsvoller. In der zweiten Phase versuchen wir die bereits entstandene positive Zuneigung, die Öffnung unseres Herzens, aufrechtzuerhalten und wenden dies auf einen guten Freund oder eine edle Freundin an. In der dritten Phase – und diese ist nochmals wesentlich anspruchsvoller – entfalten wir metta gegenüber einer Person, gegenüber der wir normalerweise weder besondere Zu- noch Abneigung verspüren. In der vierten Phase bemühen wir uns auch einer schwierigen Person mit metta zu begegnen. 

In der fünften Phase schließlich stellen wir uns zunächst noch einmal genau die vier Personen der vergangenen vier Phasen vor und bemühen uns darum, diese in gleichem Maße mit metta zu bedenken; anschließend nehmen wir immer mehr Wesen in unsere Meditation auf, was traditionell als „die Grenzen durchbrechen“ bezeichnet wird, also der Übergang von Wohlwollen oder Güte zu „Allgüte“. Sukzessiv, schrittweise, werden immer mehr Wesen einbezogen, wobei alle empfindenden Wesen gemeint sind. Hierzu gehören auf jeden Fall alle Menschen und Tiere, darüber hinaus aber auch noch Wesen, an die wir selbst glauben oder deren Existenz wir für wahrscheinlich halten, das können Gott oder Götter sein, Engel, Geister, Feen, Extraterrestrische und, und, und. 

Metta ist die grundlegende positive Emotion. Die anderen erhabenen Geisteszustände sind hiervon abgeleitet. Nehmen wir also an, unser sehr guter Freund hätte eine berufliche Qualifikation erfolgreich bestanden, eine Gehaltserhöhung bekommen oder eine neue Liebe gefunden, also irgendetwas Positives erlebt, er wäre also glücklich. Was passiert jetzt mit unserem metta? Nun, wenn unser metta einer glücklichen Person begegnet, so bekommt metta eine etwas andere Qualität, es wird zu mudita, zu Mitfreude. Echte Mitfreude ist dabei ohne jeden Anklang von Neid und Eifersucht, also ohne diese durch Egoismus gefärbten Emotionen, und das bedeutet natürlich, dass mudita schwerer zu erzeugen ist als metta.

Das ist der Grund, warum wir hier niemals die mudita bhavana in Anfängerveranstaltungen üben, sondern immer die metta bhavana. Wenn ihr jetzt aber glaubt, die mudita bhavana hätte die gleichen fünf Phasen wie die metta bhavana, so irrt ihr, die mudita bhavana ist anders aufgebaut. Da die mudita bhavana schwieriger zu praktizieren ist als die metta bhavana bieten wir sie nur Personen mit genügend Erfahrung in der metta bhavana an. Ich meine, man sollte die metta bhavana zeitnah mindestens 100 Mal gemacht haben, bevor man sich an die anderen erhabenen Geisteszustände wagt. Also wenn jemand hier unsere beiden Meditationstechniken erlernt hat und sie, wie ich das empfehle, täglich im Wechsel übt, sagen wir jeweils mindestens eine halbe Stunde, dann hat er in einem halben Jahr 90 Mal die metta bhavana eingeübt. Angenommen aber jemand käme immer donnerstags hierher, würde sonst aber nie meditieren, dann käme er pro Jahr auf 19 metta bhavana,
in fünf Jahren auf 95, allerdings wäre das nicht zeitnah. In diesem Falle würde ich davon abraten, in die anderen brahma viharas einzusteigen. In diesem Fall wäre es zielführender, zunächst einmal eine tägliche Meditationspraxis aufzunehmen und dann zu einem späteren Zeitpunkt damit zu beginnen.

Gut, das war der zweite der erhabenen Geisteszustände, hier traf unser metta auf ein Objekt, auf ein Wesen, das sich in glücklichen Umständen befindet. Nehmen wir hingegen an, unser mettaerfüllter Geist würde sich einem leidenden Wesen zuwenden, dann entstünde Mitgefühl, karuna. Man beachte: ich sprach von Mitgefühl, nicht von Mitleid. Mitleid bedeutet, dass ich mit einem anderen Wesen leide. Dadurch würde statt ein Wesen dann zwei leiden: das wäre kontraproduktiv. Karuna, Mitgefühl, ist etwas ganz anderes. Ich begegne hierbei diesem Wesen mit metta, mit Wohlwollen, sehe aber, dass es leidet und nun öffne ich mich diesem Gefühl, aber nicht, um auch zu leiden, sondern im Wunsch, das Leiden dieses Wesens zu lindern, im Idealfall: zu überwinden. Dazu ist nötig, dass ich mir den Wunsch, dieses Leiden zu überwinden zu eigen mache und – soweit mir das möglich ist – aktiv helfend eingreife. Absolut falsch wäre es nun, wie Pseudobuddhisten das nur allzu gerne tun, achselzuckend zu sagen „Jaja, Leben ist dukkha“, denn das ist alles andere als hilfreich. Vielmehr kommt es darauf an, durch genaues Beobachten, also sati und sampajanna, Achtsamkeit und Wissensklarheit, und durch yoniso manasikara, weises Erwägen, herauszufinden, wie ich diesem Wesen helfen kann. Und ich denke das macht deutlich, wie viel schwieriger die karuna bhavana ist als die beiden vorhergenannten erhabenen Geisteszustände.

Eine vierte erhabene Weilung, die allerdings klassischerweise nicht zu den brahma viharas gezählt wird, ist die bhakti bhavana. Wenn ich mich einem eindeutig spirituell höher entwickelten Wesen mit metta zuwende, so tritt bhakti auf, Vertrauen, Verehrung, Inspiration. Traditionell werden hier die Meditationen über den Buddha genannt, hierhin gehören aber auch Betrachtungen anderer historischer oder mythologischer Figuren, die in Form einer sadhana geübt werden, also zum Beispiel gegenüber einer der Personen auf diesem Inspirationsbaum unser buddhistischen Gemeinschaft Triratna. Die Personen darauf werden übrigens Gegenstand meiner Vorträge im nächsten Halbjahr sein. Und diesen Baum nennen wir Inspirationsbaum, weil er uns inspirieren kann den Pfad zu gehen, diesen Wesen nachzueifern, den Entschluss zu fassen: So will ich auch tun!

Schließlich gibt es noch die Königsdisziplin unter den brahmaviharas, nämlich die upekkha bhavana, die Entfaltung von Gleichmut. Gleichmut darf nicht verwechselt werden mit Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist Wurstigkeit, ist Desinteresse am Wohl anderer Wesen, ist Ausdruck von Egoismus. Gleichmut hingegen ist getragen von metta. Wenn ich irgendein Wesen betrachte, nehmen wir an meinen Schüler XY, und wenn ich das mit metta tue und dann wirklich dieser Person ganz Gewahr bin, dann werde ich seiner in glücklichen und in leiderfüllten Momenten Gewahr sein.

Dieses Glück und dieses Leid entsteht in Abhängigkeit von Bedingungen. Einige dieser Bedingungen sind von ihm verursacht oder mitverursacht, andere scheinen nur von außen zu kommen. Ich empfinde also tiefes Wohlwollen, metta, für diesen Schüler und gleichzeitig sehe ich sein Glück und sein Leiden in Abhängigkeit von Bedingungen, ich empfinde also auch Mitfreude, mudita, und Mitgefühl, karuna, und weiß um die Bedingtheit dieser Freude und dieses Leids und mache dabei keinesfalls die Ungerechtigkeit der Welt verantwortlich oder irgendjemanden zum Sündenbock, denn ich sehe auch deren Handeln in ihrer Bedingtheit. Ich akzeptiere die Dinge wie sie sind, ohne mich zu verweigern, hilfreich einzuwirken, wo immer ich es kann.

Es ist das, was gemeint ist, wenn jemand betet: "Gib mir die Kraft die unerfreulichen Dinge, die ich ändern kann, zu ändern, die Dinge, die ich nicht ändern kann, zu akzeptieren, und die Weisheit, das eine von dem anderen zu unterscheiden." Die upekkha bhavana ist also wieder so etwas, wo der Buddhist aktiv übt, um etwas zu erzeugen, während der Christ darauf hofft, darum bittet, zu Gott betet, dieser möge ihm das senden. Meiner Meinung nach ist der buddhistische Weg zwar nicht einfacher, aber zielführender.


Das also sind die vier oder fünf erhabenen Geisteszustände, die „Unermesslichen“. 

Zum Abschluss noch ein Hinweis. Der erste bezieht sich auf einen Vortrag, den ich hier vor einiger Zeit hielt, als es um die Vertiefungszustände ging. Damals hatte ich gesagt, in der vierten Vertiefungsstufe sind von den sechs Vertiefungsfaktoren nur zwei gegenwärtig, nämlich citt´ekagatta, höchste Konzentration auf das Meditationsobjekt und upekkha, Gleichmut. Aber nicht mehr irgendeine Form von Denken oder von Freude oder Glück wie in den früheren Vertiefungszuständen. Ja, mit der metta bhavana können wir in meditative Vertiefungen kommen, aber niemals in die vierte Vertiefung, denn in der metta bhavana ist immer Freude vorhanden, jedenfalls, wenn wir sie richtig üben. Mit der upekkha bhavana lässt sich auch die vierte Vertiefung erreichen. Der Umkehrschluss, dass sich nur durch die upekkha bhavana die vierte Vertiefung erreichen lässt, ist aber falsch, man kann diese z. B. auch durch die anapanasati, die Atembetrachtung, oder durch die kayannusati, die Körperbetrachtung, erreichen.

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