Die Praxis des Herzens
Vortrag II zum Wesakfest 2013 von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt
am 25. Mai 2013, leicht modifiziert 2019
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich habe heute bereits über die Lehre der Vernunft gesprochen. Ich habe dabei den Achtfachen Pfad erwähnt, den vom Buddha inspirierte spirituelle Menschen gehen. Es ist dieser Pfad, der symbolisch durch das dharma cakra, das achtspeichige Rad der Lehre, dargestellt wird, das die große Wand unseres Meditationsraums ziert. Und ich habe von der zentralen Rolle der Vernunft und des scharfen Verstandes gesprochen, die durch Manjusri, die Figur mit dem flammenden Schwert symbolisiert wird, die neben dem Rad der Lehre dargestellt ist. Manjusri symbolisiert Weisheit. Und ich habe von den Edlen Wahrheiten gesprochen. Wollte man die Lehre des Buddha jedoch auf Weisheit reduzieren, so würde man ihm bitter unrecht tun, denn das wäre nur die halbe Wahrheit.

Und das ist der Grund, warum an dieser Wand unseres Meditationsraumes im Zentrum das Rad der Lehre abgebildet ist und links davon Manjusri. Gleichgewichtig auf der anderen Seite, der rechten Seite, ist eine ebenso wichtige Figur abgebildet, nämlich die Grüne Tara. Tara symbolisiert gewissermaßen die emotionale Seite der Lehre des Buddha, symbolisiert Empathie, eine emotionale Qualität, die es uns ermöglicht, uns in andere Wesen einzufühlen, mit ihnen zu fühlen und dadurch zu einem mitfühlenden Handlungsimpuls zu kommen.

Tara symbolisiert angewandtes Mitgefühl. Dies wird ikonografisch unter anderem ausgedrückt durch die Mudra ihrer rechten Hand, das ist die Geste der Freigebigkeit. Tara verkörpert dabei auch die aktiv handelnde Qualität: sie ist die einzige in unserem Meditationsraum abgebildete Figur, die nicht in Meditations
haltung sitzt: ihr rechtes Bein ist abgewinkelt, denn sie ist gerade im Begriff aufzustehen um denjenigen, die ihrer Hilfe bedürfen, aktiv zu helfen. Und dieses rechte Bein ist auch dadurch fokussiert, dass hier gewissermaßen ein weißes Spotligt darauf gerichtet wird, in der klassischen Ikonografie steht der Fuß auf einer strahlendweißen Blüte. Man kann also einerseits sagen, dass Manjusri für Weisheit steht und Tara für Mitgefühl, man kann es aber auch so verstehen, dass Manjusris Weisheit so etwas wie die theoretische Grundlage ist und Tara die Umsetzung in die handelnde Praxis verdeutlicht.

Allerdings ist das mit der Grundlage und der Ausführung nicht allzu wörtlich zu nehmen. Erinnern wir uns daher daran, was ich im ersten heutigen Vortrag über den Achtfachen Pfad gesagt hatte. Da war ganz viel über Handeln mit Körper, Rede und Geist die Rede, aber die ersten Pfadglieder waren: Vollkommene Vision und Vollkommene Emotion. 

Beide Aspekte gehören untrennbar zusammen, die rationale und die emotionale Seite von uns. Daher geht es in der Lehre des Buddha darum, unseren Geist zu entwickeln. Das Pali-Wort für Geist ist citta. Citta heißt aber nicht nur Geist, sondern auch Herz. In der Lehre des Buddha geht es also darum, beides zu entwickeln, unseren Geist und unser Herz, Weisheit und Mitgefühl, Ratio und Emotio. Beides ist eng miteinander verwoben. Daher kennt die Sprache Pali nur ein Wort für beides: citta

Wer einmal einen Arm gebrochen hatte und die täglichen Verrichtungen mit einer Hand machen musste, weiß, wie wichtig es ist, zwei Arme zu besitzen. Wer nur ein Bein hat, ist bei vielen Verrichtungen behindert. Wie viel mehr gilt das, für Bestandteile, die nicht fast identisch sind, sondern sich gegenseitig ergänzen. Ohne Frauen wäre die Menschheit schon längst ausgestorben, ohne Männer übrigens auch. Gäbe es nur Menschen und Tiere, aber keine Pflanzen auf der Welt, so würde Atemluft und Nahrung fehlen. Wir müssen also diese Dualität anerkennen und gleichzeitig sehen, dass in dieser Dualität kein Gegensatz liegt, sondern eine höhere Einheit. Ein ganzes mit zwei Aspekten.

Wir haben hier also zwei ganz wichtige Aspekte, die einander ergänzen: Rationalität und Emotionalität. Und daher gehört auch zum Dharma, zur Wahrheit, zur Lehre des Buddha, sich beider Seiten bewusst zu sein: links Manjusri, rechts Tara. Das entspricht ziemlich genau dem, was uns ein modernes westliches Erklärungsmodell, das Hemisphärenmodell, lehrt, nämlich dass der Mensch zwei Seiten hat, die den beiden Hirnhälften entsprechen würden. Die linke Hirnhälfte, so sagt dieses Modell, steht für unser waches Bewusstsein, für Rationalität, Analyse, zeitlich lineare und logische Ursache-Wirkungs-Prozesse. Das ist die Manjusri-Seite unseres Hirns, unseres Wissensspeichers. Und so hält auch Manjusri auf der linken Seite unserer Wand das Buch, das Wissenskompendium in der linken Hand. 

Und dann heben wir andererseits unsere rechte Hirnhälfte, diese sei eher ganzheitlich orientiert, denkt bildhaft, ist musisch, kreativ, intuitiv, zeitlos, räumlich, emotional und körperorientiert. Das ist Tara, konsequenterweise rechts abgebildet, mit der Geste der Freigebigkeit dargestellt durch die rechte Hand, und der Hilfsbereitschaft, die sich am Aufstehen mit dem rechten Fuß zeigt.

Zugegebenermaßen gab und gibt es auch im Buddhismus Phasen und Richtungen, die eine der beiden Seiten überbetonen. So hat die nüchterne Analyse des sog. Abhidharma in den Mönchsklöstern des Theravada zu einer einseitigen Betonung des intellektuellen Erleuchtungsstrebens geführt. Hier kam das angewandte Mitgefühl zu kurz. Aber glücklicherweise – oder besser gesagt: konsequenterweise – hat es, wann immer eine Seite zu stark betont wurde, eine Gegenbewegung gegeben. 

Auch als der Buddhismus vor gut 100 Jahren in den Westen kam, gab es den Ansatz, diese Lehre nur mit der linken, der rationalen Hirnhälfte begreifen zu wollen. Theoretische Überlegungen wurden hoch gehalten, aber wo immer der Buddha über mythologische Wesen sprach, wurde das als schmückendes Beiwerk abgetan. In einer späteren Phase, gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde der Buddhismus als eine Art New-Age-Bewegung angesehen, es ging weniger um die Entwicklung des Geistes, die Betonung lag nunmehr auf einer esoterischen Wohlfühlbewegung, dementsprechend hoch im Kurs standen irgendwelche aus der tibetischen oder tantrischen Richtung kommende Praktiken, die übernommen wurden, ohne sich ihrer spirituellen Grundlagen bewusst zu sein.

Sangharakshita, der Gründer der Triratna-Bewegung, der ich angehöre, hat selbst jahrelang unter dieser Einseitigkeit gelitten. Er ist einerseits ein scharf analysierender Denker, andererseits ein kreativer, musischer Mensch, einer der Gedichte schreibt. Doch aufgrund seiner Ordination als Theravada-Mönch wurde ihm immer wieder vorgehalten, dass diese emotionale Seite romantische Gefühlsduselei sei, die es zu überwinden gelte. Er selbst beschreibt das so: „Sangharakshita I“ wollte die Schönheit der Natur genießen, Poesie lesen und schreiben, Musik lauschen, Bilder und Skulpturen betrachten, Gefühle erfahren, im Bett liegen und träumen, Reisen unternehmen und Leute treffen. „Sangharakshita II“ wollte die Wahrheit erkennen, philosophische Schriften studieren und verfassen, die ethischen Vorsätze einhalten, früh aufstehen, um zu meditieren, die Fleischeslust abtöten, fasten und beten.

Sangharakshita beschreibt dann, wie sein zweites Ich, der rein rationale Theravada-Mönch, in heftigen Streit mit dem anderen Ich geriet: Verärgert über die Beeinträchtigungen, die er seitens Sangharakshita I erfuhr, der sich mehr denn je mit Poesie beschäftigte und gerade ein langes Gedicht verfasst hatte, das sich zwar mit Buddhismus beschäftigte, aber letzten Endes eben doch ein Gedicht war, schnappte sich Sangharakshita II die beiden Kladden, in denen sein Rivale alle Gedichte, die er von seiner Abfahrt in England bis zur Mitte ihres Aufenthaltes in Singapur geschrieben hatte, und verbrannte sie.

Doch die Geschichte hatte ein Happy-End, denn unser Ordensgründer wurde sich dann der Notwendigkeit beider Seiten bewusst, er fährt in seiner Beschreibung fort: Nach dieser Katastrophe, die für beide ein heilsamer Schock war, begannen sie, die Einflusssphäre des jeweils anderen zu respektieren, mitunter arbeiteten sie sogar zusammen. Und es gab sogar jene seltenen Momente, in denen es – trotz all der Streitereien miteinander, fast so schien, als könnten sie irgendwann die Ehe miteinander eingehen.

Die Triratna-Bewegung ist eindeutig das Kind dieser Ehe, ist das Vermächtnis von Sangharakshita an uns, ein Vermächtnis dieser Selbstbetrachtung, dieses Erkennens der eigenen Person, einer Reflexion, zu der uns der Buddha immer wieder anhält.


Und wenn ich das betrachte, was wir hier bei Meditation am Obermarkt in den letzten Jahren praktiziert haben, so habe auch ich den Eindruck, dass wir einige Zeit lang die rein intellektuelle Seite zu stark betont haben. Ich kann mir, denke ich, ruhig ein so hartes Urteil erlauben, denn ich bin zugegebenermaßen der Hauptschuldige daran. 

In den letzten Monaten bemühe ich mich, etwas mehr die Herzseite des Wortes citta zu betonen. Ich versuche allmählich auch den Buddhismus der rechten Hirnhälfte zu praktizieren. Zugegebenermaßen gelingt mir das noch nicht allzu gut. Daher wäre es ganz wichtig, wenn sich vermehrt auch Leute in das Projekt „Meditation am Obermarkt“ einbringen würden, die etwas besser mit der rechten Hirnhälfte umgehen können als mir das bislang gelingt.

Veranstaltungen wie dieses Wesak-Fest können Versuche sein, hier zu mehr Ausgewogenheit zu kommen. Eine Sangha, eine Gemeinschaft der Praktizierenden lebt davon, dass man Umgang miteinander pflegt, dass man im Miteinander das Reden und Handeln auf der Grundlage gegenseitiger Empathie pflegt. Das geht in einer Sangha, in einer spirituellen Gemeinschaft von Personen mit einer gleichen Zielausrichtung, besser als im Alltag außerhalb. Wir sollten deshalb diese Chance innerhalb unserer spirituellen Gruppe nutzen. 

Ihr wisst, dass ich unsere Meditationsabende donnerstags und auch die Studiengruppen mag. Was ich aber etwas schade finde ist, dass die meisten Leute kurz vor sieben Uhr am Donnerstag kommen, dann die meiste Zeit in der Meditation schweigend sitzen und zwischendurch einen Vortrag von mir hören. Und kaum ist die Veranstaltung zu Ende läuft ein jedes in eine andere Richtung davon. Natürlich weiß ich, dass es dafür objektive Gründe gibt. Vielleicht kommt man gerade kurz vorher von der Arbeit, muss am nächsten Tag früh aufstehen und hat vielleicht auch noch familiäre Verpflichtungen. Aber ich denke, es gäbe durchaus andere Möglichkeiten, ein Miteinander, eine Netzwerk von mit Körper, Rede und Geist praktizierenden Menschen aufzubauen. Bislang gibt es mir hier bei Meditation am Obermarkt zu viele linke Hirnhälften-Elemente – die ich um Himmels willen nicht missen möchte – aber andererseits zu wenig Tara-Aspekte. Und daher möchte ich an euch appellieren: Lasst 1000 Blumen blühen, lasst 10.000 gute Ideen miteinander wetteifern, um eine lebendige spirituelle Gemeinschaft aufzubauen.

Der Gründer der Buddhistischen Gemeinschaft Triratna hat einmal gesagt, diese Gemeinschaft solle nichts anderes sein als ein spirituelles Netzwerk von Freundinnen und Freunden. Und Ananda, der spirituelle Freund des Buddha, hat einmal voller empathischer Freude zum Erleuchteten gesagt: „Weißt Du Buddha, ich glaube, spirituelle Freundschaft macht das halbe spirituelle Leben aus!“ Der Buddha aber antwortete Ananda daraufhin: „Sag das nicht Ananda, das ist nicht so. Es ist vielmehr so, dass spirituelle Freundschaft das ganze spirituelle Leben ausmacht.“

Daher meine ganz herzliche Bitte an Euch: lasst uns dieses Netzwerk spiritueller Freundschaften aufbauen, bringt die Tara-Aspekte, die Emotionalität, den Buddhismus der rechten Hirnhälfte hier ein. Lasst uns diesen Integrationsprozess, der Grundlage jeden erfolgreichen spirituellen Strebens ist gemeinsam erleben und gemeinsam vollbringen. Ich bin dabei auf euch angewiesen, denn ich bin sicher, ich kann dabei eine Menge von euch lernen, von euch, meinen lieben Lehrerinnen und Lehrern.

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