Dhardo Rinpoche
Vortragsreihe „Inspirationsbaum“, Teil XXI
 von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt
zuletzt geändert am 7. Oktober 2019

 
Schon seit vielen Monaten Jahres erzähle ich euch wöchentlich hier von den Figuren auf dem Inspirationsbaum von Triratna, auf dem es – abgesehen vom Buddha fünf Gruppen von Personen gibt – historische und mythologische. Auf dem von uns aus gesehen rechten Lotus sitzen fünf historische Jünger des Buddha, über fast alle – außer über Mogghalana – habe ich euch schon berichtet. Auf dem linken Lotus sitzen, stellvertretend für die buddhistische Schulrichtung des Mahayana, fünf Bodhisattvas, das sind keine historischen, sondern mythologische Figuren, ich habe euch von dreien davon innerhalb dieser Vortragsreihe bereits erzählt.

Über dem Buddha befinden sich in vier Reihen historische Lehrer, bekannte buddhistische Meister, die sehr inspirierend wirken können. In der unteren Reihe davon sind vier japanische Lehrer, einen davon hat euch Sraddhabandhu im Oktober vorgestellt: Kukai.  In der Reihe darüber haben wir drei chinesische Lehrer, von denen einer, Xuan Zang hier von Dhammaloka im November erläutert wurde. Noch eine Reihe höher sehen wir vier tibetische Lehrer, von denen ich euch zwei, Milarepa und Padmasambhava im Herbst vorstellte. In der Spitze dieser Lehrergemeinschaft schließlich finden wir fünf indische Lehrer, über drei davon sprach ich letztes Jahr, in zwei Wochen werde ich euch Shantideva vorstellen. Und ganz oben finden wir noch einmal 5+1 mythologische Gestalt, deren Fünfergruppe auch hier an der Wand abgebildet ist im Mandala der fünf Sieger und, wenn ich mich recht erinnere, habe ich über zwei davon in dieser Vortragsreihe gesprochen.

Bleibt noch eine Gruppe, eine ziemlich große Gruppe, ganz unten auf dem Bild: die Lehrer der Gegenwart. Hier finden wir neun buddhistische Lehrer aus dem 20. Jahrhundert, von denen nicht alle zu den bekanntesten Lehrern zählen. Der bekannteste buddhistische Lehrer des 20. Jahrhunderts war – ist ! – wohl eindeutig der XIV. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, der hier nicht abgebildet ist. Von diesen neun Lehrern auf dem Bild habe ich euch bislang nur einen vorgestellt, Sangharakshita, den Gründer der buddhistischen Gemeinschaft Trirata, der ich angehöre. Und da es ein Inspirationsbaum unserer Gemeinschaft ist, befindet sich nicht nur Sangharakshita darauf, sondern diejenigen, die ihn wesentlich beeinflusst haben, und das sind seine acht Lehrer. Von einem glaube ich, und ich denke Sangharakshita würde mir da beipflichten, kann man als seinem Hauptlehrer sprechen: Dhardo Rinpoche.

Wie wir auf dem Bild an der Wand unseres Meditationsraumes seh
en können, ist Rinpoche keineswegs eine durch ihren Anblick besonders imposante Persönlichkeit. Was macht dann die Faszination dieses Mannes aus, dessen Asche in vier Kontinenten in Stupas, in buddhistischen Denkmälern, aufbewahrt und verehrt wird? Ich selbst habe bereits drei dieser ihm geweihten Stupas besucht, eine in England, eine in Spanien und eine in Deutschland. Als der Stupa im Sauerland 2011 eingeweiht wurde, sind übrigens zehn Leute von uns hier, von Meditation am Obermarkt, zur Einweihung gefahren.

Sangharakshita und Dhardo Rinpoche schlossen eine enge Freundschaft während ihrer gemeinsamen Arbeit in einer Delegation, welche die indische Regierung anlässlich der 2500-Jahr-Feier des Buddhismus in den fünfziger Jahren nach Delhi eingeladen hatte, der offizielle Name der Delegation war „delegation of eminent Buddhists from the border areas“.

 
Zunächst aber die Frage: was ist eigentlich ein Rinpoche?

Rinpoche [rinˈpotʃe] ist ein tibetischer Ehrentitel, der zumeist für einen Lama oder anderen Würdenträger des Vajrayana verwendet wird. Das bedeutet wörtlich „Kostbarer“. Der Titel ist hauptsächlich für Trülkus (d. h., als Wiedergeburt eines früheren Meisters anerkannte Personen) gebräuchlich, aber auch Äbten und Lehrern, die in diesem Leben besondere Weisheit erlangt haben, kann dieser Titel verliehen worden sein.

Die Bezeichnung „Guru Rinpoche“ (‚kostbarer Guru‘) bezieht sich spezifisch auf Padmasambhava, dem bei der Einführung des Buddhismus in Tibet im 8. Jh. besondere Bedeutung zukommt. Die Bezeichnung „Je Rinpoche“ (kostbarer Meister) bezieht sich auf den großen Reformator Tsongkhapa, der durch seine Bewegung der „Tugendhaftigkeit“ (tib.: dge) die Gründung der Gelug-Schule (tib.: dge lugs) erreichte.

Wie steht Dhardo Rinpoche, der sich in seinen jungen Jahren noch an seine frühere Existenz erinnern konnte, der dieses Vermögen aber bald verlor, dazu, dass er ein Rinpoche ist?

Schon möglich, sagte er, dass er die Inkarnation eines bedeutenden Lamas sei. Er habe sich nie so gefühlt, obwohl in jeder so behandelte. Also bemühte er sich der Rollenerwartung gerecht zu werden und entwickelte Weisheit und Mitgefühl, und so wurde er ein Rinpoche. Als ihn einmal Ordensmitglieder von Triratna besuchten, sagte er ihnen: „Ihr könnt auch Rinpoches werden. Alles, was ihr tun müsst, ist anzufangen mit Weisheit und Mitgefühl zu handeln.“ Was aber bedeutet es, mit Weisheit und Mitgefühl zu handeln?

Sangharakshita erzählt hierzu eine Anekdote. Während ihrer gemeinsamen Zeit in dieser "eminent wichtigen" Delegation 1956/57
wurde die Delegation in einem Programm der indischen Regierung mit Bussen im Land herumtransportiert. Jeden Morgen wurde ein Tempel besucht, alle 57 Delegationsmitglieder opferten dort in einer kleinen Puja, einer Verehrungsfeier, Kerzen und Weihrauch, die sie mitgebracht hatten, am Nachmittag sah der Regierungsplan eine Fabrikbesichtigung vor. Tag für Tag. Eines Tages jedoch wurde ihnen mitgeteilt: „Heute morgen entfällt der Tempelbesuch, statt dessen hat die Regierung eine andere Aktivität vorgesehen.“ Der Bus fuhr also los – und sie landeten wieder bei einem Tempel. Allerdings hatte jetzt niemand Kerzen und Weihrauch dabei, was für traditionelle Buddhisten unwahrscheinlich peinlich ist, denn man besucht keinen Tempel, ohne Kerzen und Weihrauch zu opfern. Alle 57 eminent wichtigen Buddhisten wurden ärgerlich und entwickelten bei dieser Gelegenheit unangemessene Gefühle für die Reiseleitung. Alle außer einem: Dhardo Rinpoche.

Dieser lächelte, dann holte er unter seiner Robe eine Kerze und Weihrauch hervor, so viel zu seiner Weisheit – und es war nicht etwa Altersweisheit, denn er war damals erst in seinen Dreißigern. Rinpoche hatte aber eine sehr weite Robe, und er zauberte nicht weniger als 57 Kerzen und 57 Bündel Weihrauch hervor, einen für jedes Mitglied der Kommission – so viel zu seinem Mitgefühl. 

1918 wird Dhardo Rinpoche in Tibet als Sohn eines Kaufmanns und als 13. Dhardo Tulku geboren. (Die früheren Dhardos waren Äbte einer Nyingma-Klosters, der 12. Dhardo eines Gelugpa-Klosters.) Bereits im zarten Alter von vier Jahren begann Dhardo Rinpoches Tag morgens um 4 Uhr – es ging zur Morgenrezitation. Mit neun Jahren geht es nach Lhasa, wo er in seine Aufgabe inthronisiert wird. Er erhält einen persönlichen Lehrer, der ihn die nächsten 17 Jahre ausbildet, und den er verehrt, trotz dessen Strenge und der Schläge, die er gelegentlich kassiert. 1944 besteht er seine Prüfung, doch jetzt ging es in ein spezielles tantrisches College, wo ihm strenge asketische Praktiken auferlegt werden. Die bekommen ihm gar nicht, er erkrankt so schwer, dass er ins Ausland zur Behandlung muss, nach Indien.

Nach seiner Genesung unternimmt er eine Pilgerreise zu den heiligen Stätten in Bodh Gaya, danach geht er kurzzeitig nach Kalimpong an der tibetischen Grenze, wo sich zahlreiche tibetische Flüchtlinge aufhalten, die er im Dharma unterweist. Anschließend kehrt er nach Tibet zurück und dachte, das wäre es jetzt mit Indien gewesen, denn damals waren Fernreisen nicht üblich. Doch bereits 18 Monate später beauftragt ihn der noch junge Dalai Lama, zurück zu gehen nach Bodh Gaya, denn dort solle eine tibetische Gompa gebaut werden, und dazu bedürfe es eines erfahrenen Lamas zur Überwachung. Also geht er wieder nach Bodh Gaya, wo er für zwölf Jahre bleibt. 


Alljährlich unternimmt er aber eine Fahrt nach Kalimpong, um die tibetischen Flüchtlinge, die immer zahlreicher werden, spirituell zu unterweisen. Im Jahr 1953 kommt ihm der Verdacht, die chinesische Okkupation würde den Dharma vielleicht völlig auslöschen – zumindest den Dharma, den die Tibeter praktizieren. Er überlegt, was seine Möglichkeiten seien, das Überleben des Dharma zu sichern. Ihm fallen zwei Strategien ein, nämlich erstens den Dharma von Tibet in die Welt zu tragen, irgendwo wird es einen Ort geben, wo der Dharma überleben kann. Zweitens dafür zu sorgen, dass die Tibeter in der Diaspora den Dharma bewahren, denn er sah mit Missfallen, wie sich die junge Generation von Tibetern dem weltlichen indischen Verhalten anpasste.

Im Jahr 1954 gründete Dhardo Rinpoche daher eine Schule, die diese Aufgabe wahrnehmen solle, sie trägt bis heute den etwas sperrigen Namen „Indo-Tibet Buddhist Cultural Institute School“ (ITBCI-School). Als zur Einweihung der Schule auch der indische Rundfunk auftaucht und der Reporter ihn fragt, wieso es denn eine eigene indo-tibetische Schule brauche, was denn das besondere Lernziel dieser Schule sei, so antwortete er: „Ziel ist es, dass die Schülerinnen und Schüler innerhalb der zehnjährigen Schule eine einzige Sache begreifen. Wenn wir das erreichen, ist die Schule ein Erfolg.“  Natürlich frug der Reporter nach, was das denn für eine Sache sei, und er erwartete irgendeine abgedrehte buddhistische Aussage. Die bekam er auch: „Unsere Schüler sollen eine Sache verstehen: Acts do have consequences!“ Handlungen haben Folgen.

Das ist in der Tat vielmehr, als die Schüler in der Fachoberschule, in der ich unterrichte, begriffen haben, wenn wir ihnen das sog. Zeugnis der Reife ausstellen. Kalimpong wird für Dhardo Rinpoche zur entscheidenden Station seines Lebens. Hier ist nicht nur die Schule, die er gründete, und in der – Dhardo Rinpoche starb 1990 – im frühen 21. Jahrhundert der 14. Dhardo Rinpoche lernen sollte, dass Handlungen Folgen haben, nein, er traf hier auch jemanden, der für ihn sehr wichtig wurde.

In Kalimpong lebte zu dieser Zeit, in den 50iger Jahren ein junger, knapp 30-jähiger englischer Mönch, der ihn um Belehrungen bat. Rinpoche war davon alles andere als begeistert, denn bis dahin hatte er keinen Europäer getroffen oder auch nur von einem gehört, der die Tiefgründigkeit des Dharma verstanden hatte. Außerdem war dieser Engländer im Theravada orientiert, also im „kleinen, minderwertigen Fahrzeug“, deren Anhänger in Tibet nicht gerade als besonders verständig galten.  Doch schon kurz nachdem sie eine erste Dharmadiskussion begonnen hatten, wurde Dhardo Rinpoche klar, das hier die Lösung seines zweiten Problems war. Der Engländer hatte nicht nur ein tiefgründiges Verständnis des Dharma, er wusste auch die Lehre so zu erläutern, dass sie für Westler kompatibel war. 


Dieser englische Mönch war natürlich Sangharakshita, und Dhardo Rinpoche berichtet über ihn: „Ich hatte niemals einen Schüler wie Sangharakshita. Er war einzigartig darin, dass er von mir etwas erlernte und es sofort mit anderen Worten und anderen Metaphern an Dritte weitergab. Das können nur ganz wenige Menschen, denn die meisten Schüler begreifen gar nicht das, was sie da erlernen, und daher können sie es auch nicht weitergeben.“

Man sieht, Dhardo Rinpoche war ein erfahrener Lehrer mit vielen – sagen wir – mittelmäßigen Schülern. Mit der Flüchtlingswelle aus Tibet wurden die sozialen Zustände für die Tibeter in Kalimpong immer schlechter und die ITBCI-Schule musste ums Überleben kämpfen, denn sie war auf Sponsoren angewiesen. Das änderte sich erst 1985 als der Karuna Trust, eine Hilfsorganisation der Buddhistischen Gemeinschaft Triratna, die finanzielle Unterstützung der Schule sicherstellte. Auf seinem Sterbebett fragten ihn 1990 andere Mönche, woran man denn seine Reinkarnation erkennen könne. Rinpoche sagte: „Der Junge muss die gleichen Qualitäten haben wie ich. Meine Gefühle sind ungewöhnlich – ich verfüge über kontinuierliches Mitgefühl für alle Menschen. Nehmt also nur einen Knaben mit ebendieser Eigenschaft.“

Das wäre jetzt eigentlich ein guter Abschluss meines Vortrages, aber ich möchte euch noch drei Sätze mitgeben, die Dhardos Botschaft an die Menschen sind, also auch an euch!  Diese drei Sätze stehen auf jeder der Stupas von Dhardo Rinpoche in Asien, in Europa, in Amerika und in Neuseeland, jeweils in der Landesprache. Ich habe Dhardo Rinpoches Stupa in Norfolk, England, Hunderte von Male umkreist und sie dabei in Englisch rezitiert. Ich habe Dhardo Rinpoches Rupa in Guhyaloka, Katalonien, 108 Mal umkreist und sie dabei auf Catalan rezitiert. Und ich habe diese Rupa über 100 Mal in Vimaldhatu im Sauerland umkreist und werde sie dieses Jahr wieder umkreisen, im Februar, im Mai, im Juni, im Oktober. Und immer werde ich diese drei Sätze rezitieren, das Vermächtnis Dhardo Rinpoches an die Buddhisten, die sich von ihm inspirieren lassen:

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