Chetul Sangye Dorje Vortragsreihe „Inspirationsbaum“, Teil XXVIII (2013) von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt
zuletzt geändert am 4. Juni 2013
Mein
heutiger Vortrag ist relativ kurz, denn es gibt über Chetul Sangye
Dorje relativ wenig Material. Er ist ein Mann, der keine Bücher
schreibt und nicht die Öffentlichkeit sucht. Man muss vielmehr ihn
suchen, wenn man von ihm etwas erfahren will. Ich habe aber das
Bedürfnis über diesen Mann zu sprechen, der neben Sangharakshita die
derzeit (2013) einzige noch lebende Gestalt unseres Inspirationsbaumes
ist. Außerdem gebe ich diesen Vortrag anlässlich seines Geburtstages,
seines 100. Geburtstages.
Ich
habe seit 1996 sehr viele Vorträge von Ordensmitgliedern des
buddhistischen Triratna-Ordens gehört, aber es ist mir nur einmal
vorgekommen, dass ich Schwierigkeiten hatte etwas zu verstehen, obwohl
der Vortrag in deutscher Sprache war, und das lag daran, dass der
Redner über Themen und Erfahrungen sprach, die deutlich über das hinaus
gingen, was ich bislang erfahren hatte oder intellektuell verstehen
konnte. Ich bin nicht sicher, ob mir das heute noch genauso erginge,
aber damals, es muss etwa 2002 gewesen sein, erkannte ich, dass hier
jemand war, der von Dingen sprach, die mir – noch – verschlossen waren.
Der Redner war Anomarati, damals Vorsitzender des noch jungen Berliner
Zentrums.
Um so erstaunter war ich, noch selbigen Tages zu hören, dass Anomarati
Deutschland verlassen wollte, weil er bei einem Lehrer studieren
wollte, von dem er sicher war, dass ihn dies viel weiter bringen würde,
dieser Lehrer lebte in Nepal und Anomarati war bereit, alle Brücken
hinter sich abzubrechen, um zu diesem Weisen zu gehen, der auch schon
in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einer der Lehrer
unseres Ordensgründers Sangharakshita war und von dem Sangharakshita
1956 die erste tantrische Initiation erhielt. Anomarati verließ Europa
und ging nach Asien um sich vom großen Chetul Sangye Dorje instruieren
zu lassen.
Aber
es gibt auch andere Menschen, die von diesem Tibeter ebenso beeindruckt
waren. 1968 traf der bekannte Dichter, Mystiker und Trappisten-Mönch
Thomas Merton den Dalai Lama und befragte diesen nach der Lehre des
Dzogchen („Große Vollendung“). Der Dali Lama empfahl Merton, sich an
Chetul Rinpoche zu wenden. Merton schreibt über die Begegnung mit
Chetul Rinpoche: „I was profoundly
moved, because he is so obviously a great man, the true practitioner of
dzogchen, the best of the Nyingmapa Lamas, marked by complete
simplicity and freedom…. If I were going to settle down with a Tibetan
guru, I think Chatral would be the one I´d choose.”
Wer
ist diese faszinierende Persönlichkeit, die ganz ernsthaft
praktizierende Menschen in ihren Bann zieht, obwohl er sich selbst
nicht als Lehrer betrachtet?
Chetul
wurde 1913 als Sproß der Abse geboren, einem tibetischen Stamm im Osten
des Landes. Als er 15 war, verließ er seine Familie, um sich der
Meditation zu widmen und spirituelle Lehrer zu suchen, die ihn
weiterbringen würden. Er nahm das „Gehen in die Hauslosigkeit“ so
ernst, dass er sich fortan zu Fuß bewegte, reiten ablehnte und das
Betreten von Häusern, ja sogar von Jurten der tibetischen Nomaden
ablehnte. Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang auch wichtig zu
wissen, dass Chetul „Einsiedler“ heißt oder auch „einer, der alle
Anhaftungen aufgegeben hat“, und in der Tat war er nicht nur ein
wandernder Yogi, er verbrachte auch viel Zeit damit, in den Höhlen
Tibets zu meditieren, und zwar teilweise in jahrelangen
Einzelklausuren.
Als
er 35 war lud der Regent von Tibet – der heutige 14. Dalai Lama war
damals noch nicht inthronisiert – ihn ein, um in Lhasa zu lehren, denn
er genoss bereits damals, 1948, eine landesweite Reputation. In Lhasa
führte er Belehrungen und tantrische Initiationen durch, die mitunter
mehrere Tage dauerten. Selbstverständlich erhielt er von den vornehmen
Tibetern dafür reichhaltige Geschenke, mehr noch als das sonst bei
Initiationen üblich war. Nun war Chetul einerseits ein wandernder Yogi,
der an nichts
mehr anhaftet, andererseits wäre es mehr als nur unhöflich gewesen,
Geschenke abzulehnen, denn das Geben von Dana bedeutet bekanntlich
gutes Karma für den Geber. Also packte Chetul Sanghye Dorje am Ende der
Initaition alle Geschenke in ein großes Leinentuch, machte ein Bündel
daraus und übergab es dem verduzten Regenten Tibets, sprach: „Pass mal
bitte für mich darauf auf“ und setzte seine Wanderungen zu Fuß fort.
Vermutlich wird das Bündel nunmehr seit 65 Jahren in irgend einer
Kammer des Potala-Palastes verwahrt.
Diese
Wanderungen führten den großen Weisen dann durch Tibet, Bhutan, Nepal
und Indien, wo er in Kalimpong Sangharakshita traf, den späteren
Gründer der buddhistischen Gemeinschaft Triratna. Sangharakshita
erinnert sich, dass es alles andere als einfach war, Chetul Rinpoche zu
treffen, da dieser immer am Umherwandern war und niemandem sagte, wohin
er zu gehen beabsichtigte. Dennoch kamen die beiden einige Male
zusammen und Sangharakshita erhielt von Chetul Rinpoche seine erste
Initiation, es war die Einführung in die Sadhana, also die
Visualisierungsmeditation, über die Grüne Tara.
Am Ende dieser Einweihung prophezeite Chetul seinem Schüler, dieser werde ein vihara,
einen „Aufenthaltsort für praktizierende Buddhisten“ schaffen, er sagte
ihm auch, dies werde ein Ort sein, an dem alle drei Yanas blühen
würden, also alle drei Hauptrichtungen des Buddhismus gelehrt und
verehrt würden, dann bekräftigte er diese Aussage, indem er sie spontan
in Gedichtform wiederholte. Anschließend drehte sich der große Weise um
und ging seines Weges.
Chetul
Sanghye Dorje hat immer wieder die Notwendigkeit von Retreats,
zeitweisem Rückzug zum Zwecke der Meditation, betont und er hat auch
mehrere Retreatzentren im Himalaya gegründet, u. a. Pharping, Yolmo und
Darjeeling.
Interessant
finde ich, dass Chetul Sanghye Dorje zwar ein Lama ist, also ein Lehrer
des tibetischen Buddhismus, aber keineswegs ein Mönch
und dass er auch nie einer war. Er ist heute vielmehr verheiratet und
hat inzwischen zwei Töchter, eine davon dient ihm als Übersetzerin.
Ein
besonderes Herzensanliegen ist Chetul Rinpoche der Vegetarismus, er
sagt: „Wenn du zu Fleisch greifst, ist das gegen die Gelübde, die du
ablegst, wenn du dich zu Buddha, Dharma und Sangha bekennst. Denn wenn
du Fleisch zu dir nimmst, nimmst du einem Wesen das Leben. Daher habe
ich das Fleischessen aufgegeben.“ Und Chetul fügt hinzu: „My followers
must never eat meat.“ Was bedeutet: wer Fleisch ist – und sei es auch
nur gelegentlich – kann nicht mein Anhänger sein.
Chetul
Rinpoche erhält auch immer wieder Geldspenden von seinen Anhängern, mit
diesen hat er Tausende von Tieren auf Märkten freigekauft und sie in
die Freiheit entlassen. Er achtet dabei allerdings wohlweislich darauf,
dass er dies nicht wahllos macht. Es muss für ihn möglich sein, die
Tiere in einer Umgebung freizulassen, in der von ihnen keine Gefahr für
das jeweilige Ökosystem ausgeht. Es geht ihm also darum, Tiere in ihre
angestammte Umwelt abzugeben.
Und
das war eigentlich schon alles, was ich euch heute berichten wollte.
Wenn ihr aber selbst nach Chetul recherchieren wollt, werdet ihr
feststellen, dass das nicht ganz einfach ist, da es unzählige
Schreibweisen seines Namens gibt. Außerdem wird sein Name in Taiwan und
den USA missbraucht, dort gibt es Schulen, die sich auf ihn berufen,
aber in keiner Weise von ihm hierzu autorisiert sind. Zu Meditation am Obermarkt