Buddhas Erleuchtung
Mythos oder Wirklichkeit ?
Analyse im Lichte der Psychologie C. G. Jungs (2012)
zuletzt von Horst Gunkel bearbeitet am 8. Oktober 2019

Was Erleuchtung ist, darüber besteht zwischen den Religionen keine Einigkeit. Im Buddhismus wird das als Erleuchtung bezeichnet, was der Buddha in jener Vollmondnacht im Mai vor rund 2500 Jahren erreicht hat, nämlich Vollkommene Einsicht, insbesondere in die drei Wesensmerkmale alles abhängig Entstandenen, nämlich

• dukkha – die Tatsache, dass die Dinge nicht letztendlich befriedigend sind
• anicca – Vergänglichkeit 
• anatta – Wesenlosigkeit

und diese Einsicht erfolgt nicht nur auf intellektueller Ebene, sondern auf einer Weisheitsebene, die den Erleuchteten vollständig verändert, die ihn völlig durchdringt, die dazu führt, dass sein oder ihr ganzes Denken, Reden und Handeln Ausdruck dieser Wahrheit ist. Das ist der Kern von Erleuchtung.

In einer solch nüchternen Beschreibung klingt dieses ungeheuerliche Ereignis banal, wir werden uns seiner Tragweite dann nicht wirklich bewusst. Daher haben alle Religionen Mythen, die ihre zentralen Botschaften überhöhen. Nehmen wir die Religion des Christentums, da kennen vermutlich alle von uns vier große Mythen

• den Schöpfungsmythos, also die Sache mit Adam und Eva
• den Sintflutmythos
• den Geburtsmythos Jesu´, also die Weihnachtsgeschichte
• und den Mythos von der Kreuzigung und Auferstehung des "Heilands"

Das sind schöne Mythen. Das ist große Literatur, das gilt es neidlos anzuerkennen. Das Problem beginnt allerdings dann, wenn uns jemand erzählen will, das sei ein genauer Tatsachenbericht, das müsse alles wörtlich genommen werden. Die Bibel sei schließlich das authentische Wort Gottes! Der Glaube daran Christenpflicht!

So verwandelt man Mythen in Dogmata. So wird aus etwas, was die Menschen inspirieren kann, etwas, weswegen man Menschen verfolgen kann. Glücklicherweise sind die großen christlichen Glaubensgemeinschaften in Deutschland von dieser Auffassung abgekommen. Es gibt jedoch evangelikale Christen, die noch immer dieser mittelalterlichen Auffassung anhängen, und es gibt auch einzelne Christen – ich weiß nicht wie viele – die immer noch dieser vorkritischen Auffassung anhängen. Ein besonders erschreckendes Beispiel ist die frühere hessische Kultusministerin Wolf, die allen Ernstes noch im 21. Jahrhundert die Vorschrift erlassen hat, im Biologieunterricht müsste neben der Evolutionstheorie auch die Schöpfungsgeschichte gelehrt werden, damit kein Widerspruch zwischen den Fächern Religion und Biologie bestünde.

Zum Glück ist die Theologie, wie sie an deutschen Universitäten gelehrt wird, heutzutage eine wirkliche Wissenschaft und weiß zwischen historischen Tatsachen und Mythen zu unterscheiden. Auch im Buddhismus gibt es Mythen. Die beiden bekanntesten sind

• der Mythos von den Vier Ausfahrten und
• der Mythos von der Erleuchtungsnacht

Auch das sind schöne Mythen. Auch das ist große Literatur. Und sie haben sogar noch eine Besonderheit: sie sind augenscheinlich vom Buddha selbst erzählt worden. Der Buddha war ein großer Kommunikator. Er kommunizierte den Dharma auf verschiedene Weise:

1. durch scharfsinnige Analysen
2. durch praktisches Handeln
3. durch Schweigen
4. durch Gedichte, er sprach tatsächlich manchmal in Versen
5. durch Mythen und Symbole.

Dass der Buddha auf so unterschiedliche Weise zu kommunizieren in der Lage war, erwähne ich jetzt nur wegen des letzten Punktes, genauer wegen der Mythen. Oder um ganz genau zu sein wegen eines Mythos`, des Mythos von der Erleuchtung. Ich möchte diesen Mythos heute erzählen und ich möchte ihn untersuchen - untersuchen im Lichte der Psychologie von Carl Gustav Jung. Und ich will vor allem klar machen, dass wir eines nicht machen sollen, nicht machen dürfen: Mythen mit historischen Ereignissen verwechseln, wunderbare Literatur zu Dogmen verkommen lassen. Denn genau das tun leider manche Buddhisten im Westen.

Hier also der Mythos von der Erleuchtung des Buddha, wie dieser ihn selbst darlegte. In diesem Mythos hat Gotama, denn ein Buddha war der Prinz Siddharta Gotama damals noch nicht, während er in Meditationshaltung unter dem Baum der Erleuchtung sitzt, genau vier Begegnungen.

1. Begegnung: Mara

Der
Auftritt Maras (des Bösen), wir können ihn in etwa mit dem Satan (auch eine mythologische Figur!) des Christentums vergleichen. Mara gefiel natürlich nicht, dass Herr Gotama, sich anschickte die Erleuchtung zu erreichen. Also schickte Mara seine Heerscharen, üble Dämonenhorden, ekelerregenden grässliche Gestalten, ins Feld. Dies wird in der buddhistischen Kunst sehr plastisch dargestellt: sie sind teils Mensch, teils Tier, mit grausigen Fratzen und fletschenden Zähnen. Manche sind mit Knüppeln bewaffnet, andere schwingen Messer oder Schwerter; sie werfen Steine, schleudern Speere und schießen Pfeile in Richtung des meditierenden Gotama. Doch alle diese Waffen erreichen Gotama nicht. Sobald die Geschosse die Aura erreichen, die Gotama umgibt, verwandeln sie sich in duftende Blüten, die auf den Meditierenden herabregnen. Gotama aber verweilte mit ruhigem Lächeln in Meditation. 


Daraufhin beschloss Mara eine andere Taktik anzuwenden, und er schickte seine wunderschönen Töchter – ihre Namen sind "Genuss", "Lust" und "Leidenschaft" – und sie tanzen mit all ihrer Verführungskunst nackt vor Gotama, der sie jedoch völlig stoisch ignoriert.

Betrachten wir uns diesen ersten Teil des Mythos, in dem als Widersacher Mara auftritt im Lichte der modernen Psychologie. C. G. Jung spricht von Archetypen, und er benennt vier solche Archetypen, der erste Archetyp ist der „Schatten“, das ist (Zitat Wikipedia), der „dunkle Doppelgänger, der die verdrängte Seite der Persönlichkeit symbolisiert“.

Und was finden wir in dieser dunklen Seite der Persönlichkeit? Es sind Hass und Begierde! Dementsprechende befiehlt dieser Schatten, die negative Seite der Person, über die angreifenden Dämonen, das Symbol des Hasses und über die drei Frauen „Genuss, Lust und Leidenschaft“ als Symbole für Gier, für Verlangen. Wir sehen also, wie im noch unerleuchteten Gotama der Schatten versucht, Macht über die Person zu bekommen, wie Abneigung und sexuelles Verlangen versuchen Einfluss zu nehmen. Beide, Verlangen und Abneigung sind auch die ersten beiden Meditationshindernisse. Und Gotama weiß mit diesen Hindernissen umzugehen. Er übt die Meditation der metta bhavana, die Meditation der liebenden Güte, und dadurch wird alle Abneigung, aller Hass, alle Wut in metta verwandelt, daher verwandeln sich die Geschosse der Dämonen in wunderschöne Blüten, eine ausgezeichnete bildnerische, mythologische Darstellung des Erfolgs der metta bhavana.

Und die auftretenden Tendenzen nach Lust und Leidenschaft? Nun Gotama nimmt sie weder begierig auf noch bekämpft er sie aktiv. Denn wie jeder psychologisch geschulte weiß: was wir bekämpfen, das verstärken wir. Gotama ignoriert sie einfach. Und so bekommt Mara, bekommt der Schatten, keine Macht über ihn. Und wenn wir uns den Mythos von der Erleuchtung, den uns der Buddha selbst erzählt hat weiter anhören, dann werden wir feststellen, dass da noch drei weitere Figuren auftreten. Und wir werden feststellen, dass es in der Tat die drei anderen
Archetypen sind, die C. G. Jung benennt. Sie tauchen sogar in der gleichen Reihenfolge auf wie bei Jung.  Daraus schließe ich, dass entweder der Buddha die 2500 Jahre später erschienenen Schriften Jungs gelesen haben muss (was zugegebenermaßen ziemlich unwahrscheinlich ist), oder dass Jung den Mythos von der Erleuchtung kannte und diesen zur Grundlage seiner zentralen Lehre von den Archetypen machte. Oder aber als dritte Möglichkeit, dass sowohl der Buddha als auch Jung ganz hervorragende Psychologen waren, die aufgrund analytischer Kenntnis des menschlichen Geistes zu den gleichen Ergebnissen kamen, obgleich beide aus völlig anderen Epochen und Kulturen stammen. Sehen wir uns nunmehr also die drei anderen Archetypen C. G. Jungs an, nämlich

• die Anima, also die weiblichen Anteile des eigenen Selbst
• der weise Alte und
• das ideale Selbst bzw. der jugendliche Held

und sehen wir, wie diese vom Buddha in seinem Erleuchtungsmythos dargestellt werden.


2. Begegnung: Die Erdgöttin
 
In dem Mythos von der Erleuchtung gibt sich Mara noch nicht geschlagen. Er weiß, dass es neben Verlangen und Abneigung noch ein drittes Meditationshindernis gibt: viccikitsa, das man mit skeptischer Zweifel, Unentschlossenheit, die Unwilligkeit sich festzulegen oder Mutlosigkeit umschreiben kann. Und Mara – respektive der Schatten – fordert Gotama heraus indem er sagt: „Was bildest Du Dir eigentlich ein, dass Du glaubst, Du könntest hier und jetzt erleuchtet werden? Du, ein ganz gewöhnlicher Mensch. Weißt Du denn nicht, dass dazu eine ganz breite Basis an Ethik, an Tugendhaftigkeit über viele Leben hinweg nötig ist?“

Gotama antwortet ihm: "In meinen bisherigen Leben habe ich alle paramitas, alle Vollkommenheiten, geübt: die Vollkommenheit des Gebens, die Vollkommenheit der Moral, die Vollkommenheit der
Geduld, die Vollkommenheit der Energie, die Vollkommenheit der Meditation und die Vollkommenheit der Weisheit. Ich bin so weit, Erleuchtung zu erlangen." 

Doch damit gibt sich Mara – also der Schatten, der innere Zweifler – nicht zufrieden, er spielt den Anwalt, den advocatus diaboli, der sich mit diesen angeblichen Erinnerungen an frühere Leben nicht zufrieden geben will und verlangt: „Bringe einen glaubwürdigen Zeugen bei, der all das bezeugen kann.“ Er ist sich sicher, dass kein Augenzeuge auftreten kann, der dies für all die vergangenen Jahrhunderte bezeugen kann.

Dann geschieht etwas, was wir an vielen Buddha-Figuren sehen können, an allen Figuren, bei denen der Buddha mit der rechten Hand den Boden berührt, der sog. bhumi-sparsamudra, der Erdberührungsgeste. Der Buddha berührt also die Erde und aus dieser erhebt sich – genau wie Mutter Erda in Wagners Ring des Nibelungen – die Erdgöttin und kein geringerer als unserer aller Mutter, der Planet Gaia legt Zeugnis ab: „Die ganze Zeit über bin ich hier gewesen. Mögen die Menschen kommen und gehen, die Erde bleibt immer bestehen. Ich habe alle seine früheren Leben gesehen. Hunderttausende seiner Leben habe ich gesehen und in allen hat er die Vollkommenheiten geübt. Dieser ist würdig, ein Buddha zu sein."

 
C. G. Jungs Archetyp der Anima verkörpert die weiblichen Aspekte eines Mannes. (Wäre der Buddha eine Frau, dann wären natürlich seine männlichen Aspekte durch einen Animus verkörpert worden.) Und welche andere Frau wäre wohl in der Lage die weiblichen, die mütterlichen Aspekte eines Vollkommenen zu verkörpern, wenn nicht unser aller Mutter, unser Planet, Gaia, die Trägerin der Evolution.
 
3. Der weise Alte

Wenn wir nun zum dritten Archetypen, dem weisen Alten kommen und uns fragen, welcher würdig wäre diese Aspekte des Buddha zu verkörpern, hättet ihr eine Idee? Schauen wir mal.

Nachdem also alle Hindernisse, Verlangen, Abneigung und skeptischer Zweifel, überwunden waren, wurde Gotama, zum Buddha, zum Erwachten, zum Erleuchteten. Aber er stellte fest, dass das, was er erfahren hatte, doch sehr schwierig, sehr komplex, ungemein tiefgründig war, und – so der Mythos – er frug sich: "Diese Wahrheit, diese höchste Realität, die ich entdeckt habe, ist so abstrakt, so schwierig zu erkennen, so erhaben, dass gewöhnliche Menschen, deren Augen vom Staub der Unwissenheit und der Leidenschaft bedeckt sind, sie nicht sehen und wertschätzen können. Deswegen ist es möglicher Weise besser zu schweigen und nicht in die Welt hinauszugehen, um zu predigen."
 

Und nun erscheint natürlich der Archetyp des weisen Alten in Gestalt von keinem geringeren als Brahma Sahampati, der im Glauben der Hindus den Schöpfer verkörpert. Und der erhabene Gott Brahma, trat ehrfürchtig und mit gefalteten Händen vor den Buddha und sprach: "Bitte predige, verkünde die Wahrheit – es gibt Wesen, deren Augen mit nur wenig Staub bedeckt sind. Sie werden sie wertschätzen und ihr folgen." 

Mit seinem Weisheitsauge blickte der Buddha nunmehr weit in das Universum. Er sah alle Wesen als Lotosblumen in verschiedenen Entwicklungsstadien in einem Teich. Lotussamen, die noch ganz unten im Schlamm waren, Lotusknospen, die ins klare Wasser emporragten und solche, die sich vom Licht der Sonne angezogen über die Wasserfläche erhoben. Und er sagte: "Um derer willen, deren Augen mit nur wenig Staub bedeckt sind, die wie halb erblühte Lotosblumen sind, werde ich den Dharma predigen, auf dass er ihnen, der Sonne gleich, zum Aufblühen verhilft."

Der Buddha scheut sich hier nicht, die Schöpfergestalt  ener anderen, den Indern aber wohlbekannten Gestalt zu bemühen. Und das Gleichnis mit dem Lotusteich zeigt folgendes. was unbedingt nötig ist, um Erleuchtung zu erlangen:


Und so begann der Buddzha, den Dharma zu lehren, für die Lotusse unter uns, die nur wenig Staub auf den Augen haben.
 
4. Die Sache mit der Schlange
 
Der Buddha saß noch sieben Wochen, eine heilige Zahl, wie es sich für einen Mythos gehört, unter dem Baum der Erleuchtung. Also von Mai bis Mitte Juli, dem Beginn der Regenzeit. Und dann kommt aus dem Unterholz eine Riesenschlange, der Schlangenkönig Mutschalinda. Er windet sich sieben Mal – wieder die sieben – um den Buddha und schirmt ihn mit seinen sieben (!) Köpfen vor dem Regen ab, auch eine häufig bildnerisch dargestellte Episode.
 

Schließlich legt sich der Regen, die Schlange zieht sich etwas vom Buddha zurück und häutet sich: hervor tritt ein wunderschöner sechzehnjähriger Jüngling, Mutschalinda, der vierte von Jungs Archetypen: das ideale Selbst oder der jugendliche Held.
 

Und natürlich haben wir im Regen den alten Taufritus, wir haben die Schlange, die sich häutet und sich somit transformiert als Symbol für den Neuen Menschen, den Vollkommenen, als Symbol für die Transformation des unvollkommenen Menschen in einen Buddha.
 

Eine Schlange taucht auch in einem anderen Mythos auf, der Geschichte von Adam und Eva, sie symbolisiert Sünde, und auch im Buddhismus symbolisiert die Schlange Hass. Doch diese Schlange hat Metta geübt, sie hat den Buddha beschützt, daher ist es nicht wie im Christentum, dass ihr ewige Verdammnis droht, sondern sie kann sich aufgrund ihrer Taten transformieren, sie wird somit das Symbol des idealen Selbst, des Helden, Mutschalinda steht für die Transformation zur Buddhaschaft.

Und die Schlange verkörpert auch das, was im tantrischen Buddhismus „die Feurige“ genannt wird und bei dem Hindus Kundalini- oder Schlangenenergie. Beides verkörpert die sieben Cakren oder Kraftzentren, die sieben psychischen Zentren, aus denen die Kundalini-Energie aufsteigt.

Und die Verkörperung dieser unbewussten Energien, Mutschalinda, verneigt sich vor dem Buddha, das bedeutet: alle Kräfte des Unbewussten ordnen sich dem erleuchteten Geist unter. Vollkommene Integration, vollkommene Harmonie. Der vollkommene Körper Mutschalindas symbolisiert die vollkommene geistige Einheit.

Die Archetypen haben ihren Zweck erfüllt. Sie waren auf der Ebene des Menschen unsere ständigen Begleiter. Dieser aber, Gotama von Shakya, war jetzt kein Mensch mehr, sondern hatte die nächste Evolutionsstufe erklommen, er war zum Buddha geworden.
 

Dieser Mythos ist die vollkommene mythologisch-psychologische Umschreibung eines sehr, sehr hohen spirituellen Prozesses. Und vermutlich konnte auch nur ein Erleuchteter in der Lage sein, diese dichterische Meisterleistung zu vollbringen.

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