Buddhaghosa
Vortragsreihe „Inspirationsbaum“, Teil IX
bei Meditation am Obermarkt von Horst Gunkel (2012)
letzte Änderungen: 7.10.2019

 
Letzte Woche habe ich euch von Nagarjuna, einem Vertreter des Mahayana berichtet, der die Prajnaparamita Sutren aufgebracht hat, die Sutren der Vollendeten Weisheit. Er hat außerdem an der häufig bloß scholastischen Beschäftigung des Theravada mit dem Abhidharma, also den theoretisch anmutenden Erläuterungen zur Lehre, Kritik geübt. Zeit also für einen Scholastiker des Theravada die Lanze zu brechen!

In der Tat gilt Buddhaghosa heute als der bekannteste Gelehrte des Theravada. Er wurde im 4. Jhd. unserer Zeitrechnung in Ghosa in der Nähe von Bodh Gaya, dem Ort der Erleuchtung Buddhas, als Brahmane geboren. Sein Name ist zwar eine Anspielung auf seinen Geburtsort, bedeutet aber „die Stimme Buddhas“. Er ging dann, nachdem er Zuflucht zu den Drei Juwelen, Buddha, Dharma und Sangha, genommen hatte, nach Sri Lanka, um den Buddhismus im Gewande des Theravada zu studieren. Er lebte zeitweise im Mahavihara, im großen Kloster zu Anuradhapura. Es heißt, dass pali zur lingua franca, zur wichtigsten Sprache des Buddhismus geworden sei, sei im Wesentlichen sein Verdienst.

Buddhaghosa findet sich auf unserem Inspirationsbaum in der Gruppe der fünf wichtigsten indischen Lehrer, genau wie Nagarjuna, von dem wir letzte Woche hörten. Aber während Nagarjuna, der vor allem für die Entdeckung des Unbewussten und seiner inspirierenden Kraft steht, mit Schlangen in seinem Heiligenschein dargestellt wird, steht Buddhaghosa für die Schulung des Bewusstseins, für unseren Geist, daher wird er mit einem gänzlich anderen Attribut dargestellt, mit einem Buch in der Hand, nämlich mit seinem Hauptwerk, dem Visuddhi Magga, dem „Weg zur Reinheit“, dessen Übersetzung ins Deutsche vom ersten deutschen buddhistischen Mönch und späteren Leiter der Pali Text Society, Nyanatiloka, 1927 erschien.

 
Fragt sich: Was soll an einem nüchternen Analysten wie Buddhaghosa denn so inspirierend sein?
 

Nun, ich kann da nur von mir sprechen. Als ich vor 20 Jahren erkannte, dass ich Buddhist bin, pflegte ich die nächsten Jahre ein eifriges Textstudium. Und da im Achtfachen Pfad des Buddha auch Meditation als eines dieser Pfadglieder bezeichnet wurde, ich aber bis dato nur spärliche und wenig nachhaltige Begegnung mit dieser Kunst hatte, versuchte ich aus Büchern Meditieren zu erlernen. Im Laufe der nächsten zwei oder drei Jahre las ich etwa 40 Bücher über Meditation. Ich kann nicht sagen, dass mein Verständnis für diese im Buddhismus doch so hochgeschätzte Tätigkeit dadurch maßgeblich gesteigert wurde. Vieles trug sogar zur Verwirrung bei. Doch im Sommer 1995 las ich in dem Tempel, den ich damals im Garten meines Hauses errichtet hatte, ein Buch, das mir hilfreicher war, als alles vorherige. Sein Titel war „Die Meditation, die der Buddha selber lehrte“, sein Autor ist Amadeo Solé-Leris, ein früherer Dozent der London University und Beamter der FAO, also der Welt-Ernährungs-Behörde. Das Buch fand ich wirklich hilfreich, und es hatte sehr viele Fußnoten. Von diesen bezogen sich die allermeisten auf den Klassiker Visuddhi Magga von Buddhaghosa, den ich mir daraufhin umgehend besorgte.

Dieses 1000-Seiten-Werk wurde mir zur zentralen Beschäftigung für mindestens ein halbes Jahr, es wurde mir zu einer Inspiration. Schon allein die Gliederung des Werkes war von umwerfender Genialität: sila – samadhi – prajna, also Ethik – Meditation – Weisheit. Nichts anderes als der Dreifache Pfad, den der Buddha lehrte.

Ich möchte aber hier auch gleichzeitig davor warnen, jetzt voller Begeisterung dieses Werk zu kaufen und zu denken: das les´ ich jetzt mal.  Ich biete daher jetzt einmal eine Leseprobe aus dem Teil „Meditation“, 13. Kapitel, Abschnitt IV:

(IV) Das "Wissen von der früheren Daseinsform" (pubbenivāsa-ñāna) entsteht bei acht Arten von Objekten: 
1. bei begrenzten;  2. entfalteten,  3. unermesslichen,  4. beim Pfade, 
5. bei vergangenen,  6. eigenen,  7. äußeren und  8. unwirklichen Objekten.
Und in welcher Weise? 

Soweit zur Abschreckung. Man kann ein solches Buch nicht einfach einmal durchlesen. Es ist geschrieben, um von Praktizierenden, in aller Regel von Mönchen, studiert zu werden.

Ich habe mich seinerzeit hingesetzt und es umgeschrieben, jedenfalls die ersten 400 Seiten, es mit Schaubildern versehen, um ein gewisses, wenn auch rudimentäres Maß an Verständnis dafür zu bekommen. Das hat meine Kraft für ein halbes Jahr absorbiert. Danach hat mir ein Freund, der heute im Triratna-Orden als Sraddhabandhu ordiniert ist, ein anderes Buch über Meditation empfohlen, das meinem damaligen Kenntnisstand wesentlich besser entsprach, und das ich noch heute jedem empfehle, nämlich Kamalashilas „Buddhistische Meditation“. Dennoch verehre ich das Visuddhi Magga weiter, denn es ist ein unwahrscheinlicher Quell für Inspiration und ein äußerst hilfreiches Nachschlagewerk.

Zur Entstehungsgeschichte des Visuddhi Magga muss man sagen, dass es scheinbar in weiten Teilen mit einem noch älteren Werk, dem Vimutti Magga, dem „Weg zur Befreiung“, von Upatissa Thera identisch ist, dieser lebte wohl im ersten Jahrhundert u. Z. Allerdings stellt Buddhaghosas Werk nicht nur eine Überarbeitung sondern auch eine Erweiterung dar, weswegen das ältere Vimutti Magga heute im Theravada und im Westen praktisch nicht mehr verwendet wird.

Außerdem war dieses in Singhalesisch geschrieben und ist im Original nicht mehr erhalten, wie dies auch für die meisten Sanskrit-Klassiker gilt, die während der Zeit der islamischen Herrschaft vernichtet wurden. (Vermutlich reagieren die deshalb so allergisch auf Koran-Verbrennungen.) Was allerdings erhalten geblieben ist, ist die chinesische Übersetzung des Vimutti Magga, Nyanatiloka vermutet sogar, dass der Lehrer Buddhaghosas und der Übersetzer des Vimutti Magga ins Chinesische die gleiche Person sind. Dafür spricht zum mindesten, dass beide den Namen Sanghapala tragen.

Wozu diente das Visuddhi Magga aber ursprünglich? 

Nun in Theravada-Klöstern studierte man dieses Werk Buddhaghosas und auch seine Überarbeitungen und Zusammenfassungen früherer Pali-Kommentare auf´s Eifrigste. Es ist falsch zu glauben, dass Mönche den ganzen Tag meditieren. Vielmehr sind sie dem von Buddha empfohlenen Dreiklang der Aufnahme des Dharma verpflichtet, dieser lautet: Hören – Reflektieren – Meditieren, es ist übrigens auch der Titel der Reihe, die ich derzeit in Gelnhausen anbiete. Was bedeutet Hören – Reflektieren – Meditieren?

Nun hören – oder für uns Schriftkundige lesen – bedeutet, dass wir Input bekommen. Dabei ist unsere Art zu hören oder zu lesen gewöhnlich nicht sonderlich hilfreich. Ich habe z. B., als ich zum Buddhismus gekommen war, den Pali Kanon gelesen, die Khuddaka Nikaya, die Sammlung der kurzen Lehrreden, die Majjhima Nikaya, die Sammlung der mittellangen Lehrreden, die Digha Nikaya, die Sammlung der langen Lehrreden, die Anguttara Nikaya, die angereihte Sammlung in 11 Bänden und, und, und. Das ist, so weiß ich aus Erfahrung zu sagen, eine völlig falsche Herangehensweise.

Hören – oder Lesen – darf nur einen relativ kurzen Abschnitt andauern. Selbst meine 20-Minuten-Vorträge hier sind eigentlich schon zu lang. Daher stelle ich sie auch hinterher ins Internet, damit man sie nochmals nachlesen oder anhören kann, ggfs. in Teilen nachlesen oder anhören kann. 

Der nächste und ganz wichtige Punkt ist das Reflektieren. Reflektieren kann man allein oder im Gespräch mit andern. Das ist der Grund, warum wir hier nach meinen Vorträgen immer noch Gelegenheit haben zu diskutieren, das Thema im Gespräch mit anderen zu vertiefen. In unseren Kursen wird da noch viel mehr Gewicht darauf gelegt – und zwar auf beides, auf das Reflektieren im Vorfeld unserer Treffen und auf das Reflektieren zusammen mit anderen.
 

Und genau das ist Gegenstand klösterlichen Lebens. Die Mönche hören Vorträge oder Vorlesungen, z. B. aus dem Visuddhi Magga, dann reflektieren sie alleine darüber, sie reflektieren in Gesprächskreisen, in Kolloquien darüber, sie treffen sich zu Spaziergängen oder in ihren Klosterzellen zum Gedankenaustausch. Und wenn sie den Text dann durch Hören und Reflektieren ganz durchdrungen haben und sich danach in Meditation herniedersetzen, dann wird dies, womit sie sich zuvor beschäftigten – ohne dass in der Meditation darüber nachgedacht wird – in absoluter Ruhe des Geistes im Unterbewusstsein gespeichert, es wird allmählich zu unserer zweiten Natur. Es ist nicht nur in unserem Hirn, sondern es wurde untrennbarer Teil unseres Wesens. Daher lehrte der Buddha den Dreiklang des Lernens: Hören – Reflektieren – Meditieren.
 
Und auch das macht die Faszination aus, die Buddhaghosa seit 1995 auf mich ausübt: er hat diese Methode des Buddha umgesetzt, er hat Hunderttausenden von Mönchen und auch uns das Handwerkszeug dazu gegeben, das Material zum Hören, zum Reflektieren, zum Meditieren. Dies ist ein ungeheurer Schatz, den wir uns zunutze machen können.

Die Frage ist also: Sollten wir, wenn wir ernsthaft den Dharma praktizieren wollen, Werke wie das Visuddhi Magga lesen, reflektieren, darüber meditieren?

Ja und nein. Wichtig ist das Prinzip: Hören (resp. Lesen) – Reflektieren (abwechselnd allein und in Studiengruppen) und Meditieren. Nach diesem Prinzip vorzugehen, ist von elementarer Wichtigkeit. Wir sollten uns aber nicht mit Berufsbuddhisten und Vollzeitmönchen verwechseln. Und nebenbei gesagt: nicht alle Mönche sind willens und in der Lage, diese Texte zu verstehen. Wenn im derzeitigen Theravada vielleicht noch fünf Prozent aller Mönche den Pali-Kanon und die Texte Buddhaghosas in der von mir vorgestellten Art bearbeiten, so ist das viel.

Dennoch können wird den von dem buddhistischen Dreiklang und auch von Buddhaghosas Werk profitieren, Nutzen daraus ziehen, uns spirituell weiter entwickeln. Es ist das der Grund, warum ich die Reihe „Hören – Reflektieren – Meditieren“ anbiete, da bin ich ganz von Buddhaghosa inspiriert. Und es ist etwas, was uns hier in Gelnhausen und generell bei Triratna, wie ich meine, positiv von vielen anderen buddhistischen Gruppen abhebt, wir propagieren, wir folgen der Empfehlung Buddhas, nämlich zu Hören – zu Reflektieren – zu Meditieren. Allen drei Punkten.

Und genau mit dem Abhidharma, dem Ansatz, den Buddhaghosa verfolgte, mit der Analyse der Geistesfaktoren, wie wir sie u. a. im Visuddhi Magga finden, befasste sich daher der bedeutende englische Lehrer Sangharakshita im Jahre 1976 in einem Ordensseminar für erfahrene Ordensmitglieder. Die Unterlagen, die Sangharakshita damals verwandte und auch die wichtigsten Beiträge der Ordensmitglieder dazu wurden Grundlage eine Buches, das 1998  bei Windhorse Publications unter dem Titel „Know your Mind“ erschien. Ich habe innerhalb der buddhistischen Gemeinschaft Tritratna seit vielen Jahren darauf gedrungen, dass das Werk auch auf Deutsch erscheint. Seit zwei Monaten ist es nun unter dem Titel „Herz und Geist verstehen – Psychologische Grundlagen buddhistischer Ethik“ auch auf Deutsch, unter anderem hier bei uns erhältlich. Übersetzerinnen  sind Sucimanasa und Nagadakini, letztere wird uns wohl Anfang nächsten Jahres hier in Gelnhausen besuchen, beraten wurden die Übersetzerinnen von Dhammaloka, der hier im November einen Vortrag über einen anderen inspirierenden Meister halten wird, über – wie könnte es anders sein – Xuan Zang, den Übersetzer der Sanskrit-Texte ins Chinesische.

Aber auch dieses Buch, die psychologischen Grundlagen buddhistischer Ethik ist nichts, was man eben einmal durchliest, auch dies lässt sich nur durch den Dreiklang: Lesen (und zwar Stückchen für Stückchen) – Reflektieren (allein und – ganz wichtig – in einer Studiengruppe) und Meditieren von uns so aufnehmen, dass es uns nachhaltig verändern kann. Ich habe daher vor, eine kleinen Abschnitt daraus – 40 Seiten – mit Interessierten dienstags an sechs Abenden zu studieren, nämlich den Abschnitt über die fünf allgegenwärtigen Faktoren unserer Wahrnehmung.

Dann – so meine ich – würde ich auch Buddhaghosas Anwesenheit in unserer Mitte spüren können, vielleicht sollten wir für den großen Meister des Abhidharma, einen Stuhl an unserem Studientisch bereithalten.

Soweit zu Buddhaghosa – jetzt ist Zeit zum Reflektieren – gemeinsam, im Gedankenaustausch.

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