Atisa und der tibetische Buddhismus
Vortragsreihe „Inspirationsbaum“, Teil XXII
von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt (2013)
 zul. geändert am 9. Oktober 2019


Wenn man vom Buddhismus spricht, denken die meisten Leute im Westen heute an Tibet. Aber das asiatische Land, das dem Buddhismus am längsten Widerstand entgegenbrachte, war nicht etwa eines der damals längst vom Buddhismus durchdrungenen heutigen Länder Indonesien, Usbekistan oder Afghanistan sondern ausgerechnet Tibet. Allerdings hatte es vereinzelt Versuche gegeben, buddhistische Lehren durch engagierte Interessierte in Tibet anzusiedeln, am bekanntesten sind Marpa und sein berühmter Schüler Milarepa, über den ich in dieser Reihe hier schon sprach. 

Und auch die tibetischen Herrscher taten sich schwer, in das rückständigste Land Asiens die buddhistische Lehre zu bringen, erst der dritte königliche Anlauf hatte nachhaltigen Erfolg. Den ersten Anlauf unternahm in der ersten Hälfte des 7. Jhd. Songtsen Gampo, dessen Vater ganz Tibet unterworfen hatte. Gampo fiel die Königswürde nach dem Tod seines Vaters schon mit 13 Jahren zu. Natürlich hatte ein König damals mehrere Ehefrauen: Einheimische, die er sich aussuchte, und ausländische, wenn es die Politik gebot, Nachbarreiche durch Heirat freundlich zu stimmen.

Und genau das war der Weg, auf dem Gampo mit dem Buddhismus in Berührung kam, denn zwei seiner Frauen, die Prinzessinnen von Nepal und von China, waren fromme Buddhistinnen. Gampo war von der Überlegenheit der buddhistischen Religion gegenüber dem tibetisch-schamanischen Bön-Kult beeindruckt und ließ buddhistische Tempel errichten. Allerdings blieben sowohl der Adel als auch das Volk bei dem alten Kult und standen dem Buddhismus mit offener Ablehnung gegenüber, sodass der Buddhismus sich nicht halten konnte, als der König nur 35-jährig verstarb. Es vergingen 100 Jahre bis ein anderer König, Trisong Detsen, im Rahmen seiner Eroberungspolitik
mit dem Buddhismus in Kontakt kam. Tibet war unter ihm zur größten Macht Mittelasiens geworden – und er war sogar mächtig genug die  damalige chinesische Hauptstadt Changan zu besetzen, als sich die Chinesen weigerten Tribut zu zahlen. 

Er, der Machtpolitiker, erkannte, dass eine geistige Großmacht wie der Buddhismus seinem Tibet besser zu Gesichte stünde als der archaische Bön-Kult. Daher lud er den Abt Professor Santarakshita von der weltgrößten Klosteruniversität Nalanda (15.000 studierende Mönche) nach Tibet ein.  Doch, die Dämonen wehrten sich gegen ihn und beschworen heftige Unwetter heraus, wie sie Tibet nie zuvor erlebt hatte, so jedenfalls die Lesart der Bön-Priester. Nach nur vier Monaten musste Santarakshita auf Anraten des Königs Tibet wieder verlassen, nicht ohne ihm einen Tipp zu geben: es gäbe in der Welt nur einen Meister, der es mit dem Bön und der Dickköpfigkeit der Tibeter aufnehmen könne, nämlich den höchst umstrittenen exzentrischen Guru Padmasambhava, von dem ich bei einer früheren Gelegenheit berichtete.

Und wirklich, der äußerst selbstbewusste Guru Padmasambhava, der gern damit kokettierte, er habe größere magische Fähigkeiten als selbst der Buddha Gotama, konnte die magiesüchtige Bevölkerung beeindrucken, sodass der Buddhismus neben dem Bön-Kult zur zweiten Religion Tibets wurde.  Im beginnenden 9. Jhd. jedoch kam König Langdarma nach der Ermordung seines Bruders an die Macht, und Langdarma war der Bön-Priesterschaft und dem Adel verpflichtet. Es setzte eine Buddhistenverfolgung ein, sodass der Dharma nur noch im Verborgenen von einzelnen padmasabhava-buddhistischen Gruppen praktiziert werden konnte. Allerdings muss auch gesagt werden, dass ein buddhistischer Mönch den König schließlich erschoss, um ihn, wie er beim Verhör zugab, „von der weiteren Anhäufung schlechten Karmas zu bewahren“ – nun ja, Verbledung geht mitunter merkwürdige Wege und macht auch vor einer Mönchskutte nicht Halt. Nach Langdarma zerfiel das tibetische Reich.  So war zweimal, einmal im 7. Jhd. unter Songtsen Gampo und dann 150 Jahre später unter Trisong Detsen die Einführung des Buddhismus gescheitert.


Doch im Jahre 1042 nahm zum dritten Male ein bekannter ausländischer Lehrer, Dipankara Srijinana, eine königlich-tibetische Einladung an. Dieser Name ist allerdings so kompliziert, dass man ihm den viel leichter zu merkenden Beinamen Atisa, d. h. „der Hervorragende“, verlieh. Atisa wurde als Sohn einer Adelsfamilie im heutigen Bangla Desh geboren. Und natürlich begann er die Religion zu praktizieren, die seine Eltern hatten, nämlich den tantrischen Buddhismus. Er stellte jedoch fest, dass diese Form des Buddhismus, das Vajrayana, ihn nicht weiter brachte, daher wandte er sich wieder dem Pali-Kanon, also der Literatur des Theravada zu. Und nachdem er diese Lehren durchdrungen hatte, fühlte er ein starkes Verlangen, die dritte Hauptrichtung des Buddhismus, das Mahayana, zu studieren, allerdings gab es dafür in Bengalen und den umliegenden Ländern keine geeigneten Lehrer, also machte er sich zu einer dreizehnmonatigen Reise auf, bis er endlich einen kompetenten Meister in fand – in Sumatra, was ziemlich weit weg ist, ungefähr so weit wie von Gelnhausen nach Mekka – und das war vor 1000 Jahren sehr weit.

Zu dieser Zeit war der König von Westtibet – das frühere tibetische Reich war ja nach Langdarmas Tod zerfallen – von Erpressern entführt wurden, die für seine Herausgabe dessen Gewicht in Gold forderten. Sein Neffe, der inzwischen Regent war, bemühte sich das Gold durch Steuern einzutreiben, doch das war in diesem armen Land schwierig. Schließlich – nach etlichen Jahren – hatte er fast das ganze Gold zusammen, das dem Gewicht des Königs entsprach, jedoch nicht das von dessen Kopf. Da ereichte eine Botschaft des Königs den Hof: „Macht euch keine Sorgen um mich, ich bin inzwischen alt und gebrechlich. Macht euch lieber Sorgen um Tibet, in dem der Dharma nicht existiert. Nehmt das Gold und versucht damit Atisa, den weltbekannten Hervorragenden, nach Tibet zu holen.

Atisa, im warmen, flachen Bengalen zu Hause, war alles andere als begeistert, ins eisig kalte tibetische Gebirge zu gehen, und das mit immerhin inzwischen 60 Jahren. Allerdings beeindruckte ihn die
Haltung des entführten Königs, und daher meditierte er mit seiner Meditationsgottheit Tara, die für aktives Mitgefühl steht, und erfuhr so, dass ihn der Gang nach Tibet zwar ein bis zwei Jahrzehnte seines Lebens kosten würde, er aber dort den Dharma etablieren würde.

Also ging er nach West-Tibet und missionierte dort erfolgreich im königlichen Auftrag, ja er begab sich auch in andere Teile des tibetischen Hochlandes, so nach Zentraltibet, wo Lhasa liegt. Allerdings hatte er in seiner Dharmaverbreitungstätigkeit sogar gegen zwei Seiten zu kämpfen, einerseits natürlich gegen den Bön-Kult, andererseits musste er den teilweise mit bedenklichen Praktiken arbeitenden tantrischen Buddhismus des Padmasambhava zurückdrängen. Atisa stellte die Zufluchtnahme in den Mittelpunkt seiner Lehrtätigkeit und machte wieder klar, dass Ethik die Basis des Pfades sei. Seinen Mönchen ist zwar weiterhin erlaubt, tantrische Studien zu betreiben, aber nur so weit diese nicht gegen den Zölibat verstoßen.

Damit trat er vor allem gewissen erotischen tantrischen Einweihungen entgegen, die Padmasambhava wohl eingeführt hatte. Allerdings gab es auch Mönche, die an den bisherigen Praktiken festhalten wollten, wofür ihr vielleicht ein gewisses Verständnis aufbringen könnt. Diese Mönche organisierten sich in der Schule Nyingmapa, d. h. „Anhänger der alten Schule“, das sind die heutigen Rotmützen, während Atisa als Gründer der Kadampa-Schule (Regelgetreue) gilt, diese (sie trugen gelbe Mützen) ging später in der Gelugpa auf, eine der heutigen vier Richtungen de tibetischen Buddhismus, nämlich derjenigen, der auch der Dalai-Lama angehört. 

Atisa starb nach 13 Jahren in Tibet 73jährig, nicht ohne einen Nachfolger zum geistlichen Nachfolger benannt zu haben – einen Laienbekenner. Und genau das ist einer der Gründe, warum ich Atisa so inspirierend finde. Nicht der Status, ob jemand ordiniert ist oder nicht, ist für Atisa entscheidend, sondern die Frage, ob er ein ethisches Leben führt und geeignet ist, den Dharma zu verbreiten. Ethik als Basis schien im tibetischen Buddhismus vor Atisas Zeit etwas aus
der Mode gekommen zu sein, dabei besteht doch der Dreifache Pfad, den der Buddha gelehrt hat 

1. aus Ethik (als Basis), 
2. aus Meditation, die auf dieser Basis gründet und 
3. aus Weisheit, die nur auf Grundlage dieser beiden entsteht.

Und das ist etwas, was für uns auch heute ganz wichtig ist. Nicht alles, was sich gut anfühlt, ist gut. Gut, d. h. heilsam, zielführend, ist das, was zu unserer spirituellen Entwicklung auf dem Dreifachen Pfad beiträgt.  Und genau in diesem Zusammenhang ist auch Atisas zweites Anliegen zu verstehen, die Zentralität der Zufluchtnahme.  Zufluchtnahme ist nicht, einfach mal die Zufluchtsformel "Buddham saranam gacchami - Dhammam saranam gacchami - Sangham saranam gacchami" zu sagen. Zufluchtnahme ist auch nicht, sich öffentlich als Buddhist/in zu outen. Zufluchtnahme ist es nicht einmal, die gelbe Robe anzuziehen und Mönch zu werden. 

Zufluchtnahme drückt sich vielmehr in Verhalten aus. Und deshalb rezitieren wir bei Triratna nicht einfach die Zufluchtnahmeformel, sondern – ganz in der Tradition Atisas, des Hervorragenden – die Zufluchten und die ethischen Vorsätze im Doppelpack. Und wir rezitieren die Vorsätze sogar zweimal, einmal in der negativen Formulierung auf Pali und einmal in der positiven Formulierung auf Deutsch. Daher möchte ich meinen Vortrag heute mit diesen ethischen Vorsätzen schließen:

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