Vortragsreihe „Meditation“, Teil II
von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt
letztmals geändert am 8. Oktober 2019
Wir
üben hier jedes zweite Mal die Vergegenwärtigungen des Atems. Wer von
Euch den Pfad zur Befreiung, den Pfad der Praktik, wirklich beschreiten
möchte, hat inzwischen eine tägliche Meditationspraxis aufgenommen und
übt dabei mehrmals wöchentlich die Vergegenwärtigungen des Atems.
Manchmal glauben wir, wir würden diese Praxis beherrschen, sie brächte
wirklich nichts Neues mehr, vielleicht erscheint sie uns sogar
langweilig oder macht uns schläfrig, weil zu wenig dabei los ist. Dann,
liebe Leute, macht ihr irgendetwas, aber nicht wirklich
Atem-ACHTSAMKEIT, wobei ich Achtsamkeit fett gedruckt, unterstrichen und
mit Großbuchstaben geschrieben meine. Lasst
uns heute daher noch einmal über diese Praktik sprechen, lasst uns
versuchen, sie tiefer zu verstehen, uns selbst tiefer zu verstehen. Alle
Phänomene in diesem Universum unterliegen sehr ähnlichen
Gesetzmäßigkeiten, die augenscheinlichste davon ist Vergänglichkeit:
die Phänomene entstehen, sie nehmen zu, nehmen wieder ab und vergehen.
Betrachtet man ein Objekt genau, so betrachtet man das Grundmuster
dieses Universums genau. Es gibt eine lange Geschichte, ihr könnt sie
auf unseren Internetseiten nachlesen oder anhören, sie heißt „Wunder –
und Gott“, in der ein Laienanhänger den Buddha um etwas bittet. Darin
taucht ein Mönch auf, der schließlich im Götterhimmel den höchsten Gott
sucht und ihm eine Frage stellt, in der es um Unendlichkeit geht,
letztlich um das generelle Weltverständnis. Und der höchste Gott
verweist dann den Mönch an den Buddha. Dort angekommen fragt er ihn
danach und der Buddha antwortet sinngemäß: „Das Verständnis der Welt
und ihre Überwindung kannst du nirgendwo da draußen finden, du kannst
es nur in diesem klafterlangen Körper finden.“ Das
ist das Ende der Suche nach dem Sinn der Welt. Verstehe wie das
Universum funktioniert, indem du einen Teil verstehst. Dich selbst. Und
da du selbst noch viel zu komplex bist, nimm etwas weniger Komplexes,
einen Teil von dir, deinen Körper. Immer noch zu komplex, nimm eine
körperliche Funktion von dir: deinen Atem, den hast du immer dabei, der
ist immer fühlbar, nimm diesen als Betrachtungsobjekt.
Der
Buddha hat berichtet, dass die Meditation, die er unmittelbar vor
seinem Erleuchtungserlebnis geübt hat, die Atembetrachtung war, eine
etwas ausgefeiltere Variante, als das, was wir hier üben, nicht in vier
Stufen, sondern in sechzehn. Aber die Anzahl der Stufen ist nicht das
Entscheidende. Traditionell wird den Mönchen in buddhistischen Klöstern
sogar empfohlen, nur eine dieser Stufen zu üben, dies ist in unserem
System die vierte, die Betrachtung des Atems an einem Punkt. Wobei
sich die Frage stellt: Warum üben wir hier dann die vierstufige
Variante? Wie ihr sicher inzwischen festgestellt habt, ist die vierte
Stufe unserer Atembetrachtung die schwierigste. Als Sangharakshita, der
Gründer der buddhistischen Bewegung Triratna, der ich angehöre, die
Atembetrachtung als grundlegende Meditationsvariante gelehrt hat, ging
er davon aus, dass die meisten Menschen zu Beginn der Meditation nicht
genügend Konzentration für die Betrachtung des Atems an nur einem Punkt
aufbringen können, daher wird stufenweise darauf hingearbeitet. Warum
aber gerade diese vier Stufen? Nun
in der ersten Stufe zählen wir. Wir zählen nach dem Ende des Ausatmens,
was bedeutet, dass wir zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht mit dem
nächsten Einatmen begonnen haben. Wenn wir diese Anweisung wirklich
genau umsetzen – und das sollten wir, dazu sind diese Anweisungen da –
dann bedeutet das, dass wir achtsam genug sein müssen, den richtigen
Zeitpunkt abzupassen. Das ist bei einem einzigen Atemzug nicht
besonders schwierig, aber wir üben das zehn Minuten lang, um unsere
Konzentration zu schärfen, bzw. um uns unserer mangelnden Konzentration
bewusst zu sein, was idealerweise ein Ansporn zu intensiverer Bemühung
sein sollte. In
der zweiten Phase zählen wir wieder, aber diesmal vor Beginn des
Einatmens. Der Unterschied, den das machen soll, besteht darin, dass
wir nicht mehr den Erfolg nur darin sehen sollen, den richtigen
Augenblick abgepasst zu haben, sondern dadurch soll vielmehr unsere
Achtsamkeit auf den nächsten, den kommenden Atemzug gelenkt werden. Wir
sollen dazu angehalten werden, diesen zu betrachten, wirklich zu
betrachten, sich seiner Qualitäten bewusst zu sein. Wie fühlt er sich
an? Lang oder kurz? Angenehm oder unangenehm? Tief oder flach? Hastig
oder relaxed? Grob oder fein? Wobei nicht wirklich eine Einteilung
hinsichtlich dieser Kategorien gemeint ist, sondern ein Verständnis des Gefühls: Wie fühlt er sich wirklich an? In
den beiden ersten Phasen haben wir das Zählen verwendet, einerseits um
unserem Affengeist, der immer herumhüpfen und mit etwas anderem spielen
möchte ansatzweise Herr zu werden, andererseits um so etwas wie ein
Gerüst für die Atembetrachtung zu haben, einen Krückstock, der uns
hilft hereinzufinden. Idealerweise sollte nunmehr unsere Konzentration
stark genug sein, dass wir in der dritten Phase ohne diese Krücke
auskommen. Wir betrachten jetzt nur noch unseren Atem, unseren ganzen
Atem und seine Interaktion mit dem Körper, wo immer wir diese erspüren
können, wir betrachten den Atemkörper. Die
vierte Phase schließlich ist gewissermaßen die Königsdisziplin – oder
besser die Mönchsdisziplin, denn Könige sind ja gewöhnlich nicht
wirklich diszipliniert. Es ist dies die Phase, die von den Mönchen,
besonders innerhalb der Theravada-Tradition geübt wird. Wir betrachten
den Atem nur noch an einem einzigen Punkt. Der Buddha empfiehlt dazu,
den Punkt, an dem wir die Berührung des einströmenden Atems zuerst
empfinden können, was bei den meisten Menschen an der Innenseite der
Nasenlöcher in der Nähe der Nasenspitze ist. Und er vergleicht den
achtsamen Mönch mit einem Schreinermeister, der ein Brett aus einem
Baumstamm sägt und dabei immer den Punkt in Auge behält, an dem die
Zähne der Säge ins Holz eindringen bzw. wieder heraustreten. Das ist
der Punkt, den er mit Achtsamkeit betrachten muss, um sicher zu
stellen, dass das Brett die richtige Breite hat, hier muss er achtsam
auf jede Unebenheit, auf Veränderungen in der Maserung des Holzes, auf
etwaige Astverhärtungen achten, um rechtzeitig gegensteuern zu können,
damit die Säge ein gleichdickes Brett aus dem Stamm heraussägt. Und
genauso müssen wir mit Achtsamkeit hier auf das Auftreten aller
Hindernisse achten, um die geeigneten Gegenmittel anzuwenden. Diese vier Stufen stehen also für den Prozess der wachsenden Detailtreue bei der Betrachtung unseres Atems. Damit
habe ich einiges über unsere vier Stufen gesagt, etwas das ihr
eigentlich schon seit der Einführung in die Vergegenwärtigungen des
Atems kennen sollten, damals, am ersten Tag als ihr hier auftauchtet,
aber mir schien es besser zu sein, nochmals darauf einzugehen, denn
wenn man etwas nach einiger Zeit wieder hört, erinnert man sich an
Details, die man vielleicht vergessen hat und
man hört es ganz allgemein mit anderen Ohren, nämlich auf der Basis
eines Menschen, der das schon ausprobiert hat, der Erfahrung damit hat.
Worum
es mir aber eigentlich heute geht, ist mit euch zu erörtern: wie
betrachtet man den Atem, wie genau, wie geht das, auf welche Qualitäten
muss ich denn achten? Das ist vielleicht die Frage, die einige oder
vielleicht sogar viele von euch immer einmal wieder beschäftigt. Und
da muss ich gleich vor meinen eigenen Aussagen warnen. Wenn ich oben
gesagt habe: „Wie fühlt er sich an? Lang oder kurz? Angenehm oder
unangenehm? Tief oder flach? Hastig oder relaxed? Grob oder fein?“ dann
ist damit eben nicht gemeint, dass ihr eine Liste von Qualitäten der
Reihe nach abarbeiten sollt. Es geht nicht darum, den Atem zu
etikettieren, ihn zu katalogisieren, zu beschreiben und die
Beschreibung alsdann abzuheften. Es geht nicht darum zu glauben, du
wüsstest jetzt, wie Dein Atem funktioniert. Es geht nicht darum eine
Antwort auf alle diese Fragen zu finden. Völlig verfehlt. Das ist das
Verfahren der materialistischen Wissenschaft. Alles zu vermessen, zu
reglementieren, zu kategorisieren.
Im Senckenbergmuseum in Frankfurt,
dem großen naturhistorischen Museum, findet sich eine umfangreiche
Abteilung mit allen möglichen Arten von Insekten und ihren
unterschiedlichsten Varianten, gemessen, analysiert, kategorisiert, auf
Nadeln aufgespießt und archiviert. Das ist so unendlich traurig. Statt
das Leben zu betrachten, wurde es getötet und aufgespießt. Und genau
das manchen auch wir, wenn wir unseren Atem in dieser Art analysieren.
Er
wird genauso tot wie alle diese Insekten. Wir wollen kein
Leichenschauhaus des Atems, wir wollen seine wahre, lebendige Natur
erleben. Und so wie eine blühende Sommerwiese uns herauslocken kann und
uns aller dieser vielfältigen wunderbaren Wesen, all der herrlichen
lebendigen Natur, der Tausenden von Insekten, alles dessen, was da
kreucht und fleucht frohen Herzens Gewahr werden lässt, wie sie uns die
Schönheit einer Sommerwiese wirklich betrachten lässt, so eben sollen
wir auch der wahren Lebendigkeit unseres Atems, der Teil der wahren
Lebendigkeit von uns selbst ist, Gewahr werden. Und sie nicht
einfangen, aufspießen, kategorisieren und mit einem lateinischen Namen
versehen. Also:
Suche nicht die Antwort: Wie fühlt sich der Atem an? Sondern lebe die
Frage: Wie fühlt sich eigentlich Atem an? Mein Atem. Jetzt. In diesem
Moment. Bei diesem Atemzug. Und eben bei diesem meinem jetzigen
Gefühlszustand. Wie fühlt er sich an. Aber reflektiere
um Himmels willen jetzt nicht während der Meditation, warum sich dein
Atem in bezug auf welches Detail deines Gefühlszustandes jetzt so
anfühlt. Nein, betrachte nur! Erobere dir das fragende Staunen eines
zweijährigen Kindes zurück, das erstmals eine blühende Sommerwiese
betritt, diese Offenheit, diese Rezeptivität. Letztlich
ist das, was wir erreichen wollen, Einsicht. Da steckt das Wort Sicht
drin. Wir wollen sehen, nicht etikettieren, nicht kategorisieren.
Etikette drauf kleben und abstempeln ist etwas für Bürokraten, nichts
für Weise. Einsicht in die Natur der Dinge, Einsicht in ein
vermeintlich so einfaches Betrachtungsobjekt wie unser Atem bedeutet
letztendlich zu sehen, wie der Atem ist, zu sehen, wie die Dinge sind.
Das ist yathabhuta-nana-dassana, Sicht und Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind. Das Gegenteil davon ist avijja, ist
Verblendung, das was uns im Hamsterrad des samsara gefangen hält.
Verblendung ist zu glauben, du wüsstest schon, wie sich der nächste
Atemzug anfühlt. Verblendung kommt von blind sein. Du bist dann blind
für das Gefühl deines nächsten Atemzuges. Und wenn es dir schon nicht
gelingt, Verblendung bei etwas so scheinbar unbedeutendem wie einem
einzigen Atemzug zu überwinden, wie willst du dann jemals deine
Verblendung bezüglich komplexerer Phänomene überwinden, wie willst du
dann jemals umfassende Einsicht erreichen. Es
geht darum zu fühlen, wie sich Atem anfühlt, du arbeitest damit an
deinem Einfühlungsvermögen. Meine liebe Großmutter, war keine studierte
Psychologin, sie hat nur eine einfache zweiklassige Volksschule im 19.
Jahrhundert besucht. Aber sie hat mehr von der Psyche des Menschen
verstanden als eine ganze Klinik von Psychiatern heute. Weil sie
hingesehen hat. „Junge, du musst genau hingucken“, hat sie mich
ermahnt. „Gib doch Obacht, Junge“, pflegte sie mich zur Achtsamkeit
anzuhalten. „Hast Du mich nicht gehört?“ frug sie scheinheilig, wenn
ich wieder irgendeinen ihrer guten Ratschläge „überhört“ hatte. Meine
liebe Großmutter war keine Buddhistin, aber sie war vielleicht
achtsamer als manches ganze buddhistische Kloster zusammen. „Komm
und sieh“ waren die Worte, mit denen der Buddha, Menschen einlud, seine
Lehre auszuprobieren. Er sagte nicht: „Sitz nieder und analysiere!“ auch
wenn das in manchen Theravadakreisen leider so verstanden wird. Er
sagte übrigens auch nicht: „Stell dich hin und beschreibe!“ Was auf ein
weiteres Problem aufmerksam macht. Wenn ich oben gesagt habe:
„Wie fühlt er sich an? Lang oder kurz? Angenehm oder unangenehm? Tief
oder flach? Hastig oder relaxed? Grob oder fein?“ so versucht das, eine
Empfindung in Worte zu fassen, sprachlich zu erfassen. Aber mit der
Sprache ist das so wie mit allem, sie hat einen adinava- und einen
assada-Aspekt.
Der assada-Aspekt ist das Reizvolle, das Interessante,
das Nützliche an einer Sache: Sprache ermöglicht eine Ebene von
Kommunikation, die ohne sie nicht möglich wäre. Mit unserer recht
ausgefeilten Sprache unterscheiden wir Menschen uns, so weit wir das
wissen, von den Tieren. Ich benutze hier die ganze Zeit Sprache, um zu
versuchen etwas aus meinem Geist in euren Geist kommen zu lassen.
Sprache ist eine großartige Erfindung, sie hat ihren
assada-Aspekt, einen Aspekt, der das Wahre, Schöne, Gute aufzeigt. Andererseits
– mit jedem sprachlichen Begriff, den ich hier verwende, enge ich ein.
Worte haben Definitionen, Begrenzungen. Die Wirklichkeit funktioniert
aber so nicht, genau sowenig wie ein wunderbarer Hirschkäfer in einem
lebendigen Mischwald seinem toten aufgespießten Ebenbild im
Senckenberg-Museum gleicht, so wenig gleicht eine Empfindung des Atems
dem Etikett „dieser Atemzug ist grob“. Daher: versucht nicht euren Atem
zu Tode zu analysieren, sondern öffnet euch der phantastischen Vielfalt
des Atems. Und wenn ihr diese phantastische Vielfalt nicht erkennen
könnt, ist das vielleicht so, wie wenn ein Ufo über den Planeten Erde
fliegt und ein Außerirdischer zum ersten Male eine Sommerwiese sieht:
er wird sie nicht empfinden. Geh näher dran! Guck genauer hin! Nimm
den Rat meiner lieben Großmutter an alle Außerirdischen an: „Junge, du
musst genau hingucken!“ oder: „Gib doch Obacht, Mädel!“ Wir
müssen unseren Atem vollen Herzens nicht nur betrachten, sondern auch
empfinden. Mit dem citta. Das schöne Pali-Wort citta bedeutet nämlich
Herz und Geist – beides im poetischen Sinn. Beachtet bitte: citta heißt
nicht etwa „Hirn und Pumpe“, das wäre westlich-materialistischer
Senckenbergianismus, citta heißt „Herz“, citta heißt „Geist“ Und
wenn du dich wieder anschickst, die Vergegenwärtigung des Atems zu
üben, dann stellen dir den Buddha mit seiner freundlichen Einladung
vor: „Komm und sieh“ - oder wahlweise meine liebe Großmutter: „Gib
Obacht, Junge!“ Zu Meditation am Obermarkt