Anfängergeist
Vortragsreihe „Meditation“ , Teil X
von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt (2012)
zuletzt geändert am 8. Oktober 2019
Den
Begriff Anfängergeist verdanken wir der japanischen buddhistischen
Richtung des Zen. Man sagt mitunter auch: Zen-Geist – Anfänger-Geist.
Und das ist keineswegs abwertend gemeint. Es ist vielmehr ein Ziel,
sich den Anfängergeist – das japanische Wort dafür ist shoshin – zu bewahren. Was ist damit gemeint?
Wenn
Menschen zum ersten Mal zu uns hier, zu Meditation am Obermarkt,
kommen, dann haben sie Anfängergeist. Viele Leute, die das erste Mal
hier auftauchen, haben vorher entweder noch gar nicht meditiert oder
nur irgendwo einmal herein geschnuppert. Und dann kommen sie erstmals
hierher und wir zeigen ihnen, wie wir die Vergegenwärtigungen des Atems
in vier Stufen üben. Und wenn sie eine Woche später wiederkommen,
bringen wir ihnen bei, wie man die metta bhavana,
die Meditation zur Öffnung des Herzens, zur Entfaltung positiver
Emotion, übt. Und da das neu für sie ist, gehen sie mit Anfängergeist
daran, mit Neugier, sie wollen etwas Neues entdecken, etwas Neues
ausprobieren, unverbildet, vorurteilsfrei, offen. Aber wenn sie dann
viele Wochen, monatelang, vielleicht jahrelang hierherkommen, dann geht
der Anfängergeist verloren.
Wenn
ein Kind das erste Mal etwas bewusst sieht, sagen wir, wie es schneit,
dann ist es von diesem Erlebnis fasziniert. Es möchte unbedingt hinaus
in den Schnee. Vielleicht stellt es nach einer halben Stunde weinend
fest, dass seine Händchen eiskalt sind, vielleicht lernt es die Freuden
des Schneemannbauens oder des Auf-Dem-
Schlitten-Gezogen-Werdens
kennen, auf jeden Fall ist es ein tolles, überraschendes,
faszinierendes, prickelnd neues Erlebnis. Wenn wir Erwachsenen hingegen
aus dem Fenster blicken und Schneefall sehen, dann stellt sich diese
Faszination häufig nicht mehr ein. Vielleicht denken wir nur: „Morgen
auf der Fahrt zur Arbeit wird es verdammt glatt sein!“ Der
Anfängergeist ist verloren gegangen, wir glauben zu wissen, was das
Auftauchen von Schnee impliziert.
Wenn
ein Kind zum ersten Mal Weihnachten erlebt, die Faszination des
Mysteriums Christkind, das ungewohnte Auftreten eines festlich
geschmückten Weihnachtsbaumes, viele Süßigkeiten, ein weihnachtliches
Festessen und dann die Geschenke, dann bekommt es ganz große Augen,
dann springt das Herz vor Freude schier über, so faszinierend neu und
wunderbar ist das alles. Dreißig Jahre später, dreißig Weihnachten
später, ist Weihnachten vielleicht nur noch Stress: Geschenke kaufen,
Essen vorbereiten, einen Weihnachtsbaum kaufen, die Wohnung aufräumen,
Schwiegereltern besuchen – Weihnachten ist kein Faszinosum mehr,
sondern für viele Menschen das stressigste Ereignis des Jahres. Und die
Suizidrate liegt zu keiner Zeit des Jahres so hoch wie zu Weihnachten.
Ent-Täuschung, Alleinsein, Verlust von Bindungen wird an Weihnachten
viel stärker empfunden, und all das kontrastiert mit den vielen
Hoffnungen, die wir als Kind auf diesen Termin gesetzt hatten. Der
Anfängergeist ist verloren gegangen. Wir hatten Erwartungen, Wünsche,
Projektionen – und wir werden enttäuscht, frustriert.
Und
ganz ähnlich ist es auch mit der Meditation. Wir sind, wenn wir uns das
erste Mal zur Meditation aufs Kissen setzen, gespannt, was diese
unbekannte neue Erfahrung für uns bereithält. Wir sind achtsam,
gespannt, offen: Anfängergeist.
Aber nach Monaten, nach vielen, vielen Meditationssitzungen bemächtigt
sich uns der Eindruck zu wissen, was jetzt gleich passiert. Wir
erwarten unsere alten Bekannten, die fünf Gruppen von Hindernissen. Wir
erinnern uns daran, wie oft wir schon nicht richtig mit ihnen
gearbeitet haben, sondern uns von ihnen haben treiben lassen, vor ihnen
kapituliert haben. Oh nein, schon wieder Vergegenwärtigungen des Atems,
oder: Schreck-lass-nach, wenn ich gewusst hätte, dass der Horst heute
wieder die metta bhavana ansagt, wäre ich nicht gekommen.
Was
ist passiert? Wir haben den Anfängergeist verloren. Wir glauben zu
wissen was passiert. Und genau das passiert dann natürlich auch. Wir
basteln an einer self-fulfilling prophecy, an einer Erwartungshaltung,
die gerade aufgrund dieser Erwartung zwangsläufig auch wirklich
eintritt. Und so verhindern wir zielsicher einen Meditationserfolg.
Glaubt mir, ich weiß wovon ich rede. Ich habe diesen Fehler jahrelang
gemacht. Seit ich jedoch weiß, was Anfängergeist ist, mache ich diesen
Fehler - - - - sagen wir: deutlich seltener.
Hier,
bei Triratna, haben wir zwei Hauptpraktiken: die Meditation der
Vergegenwärtigungen des Atems, also eine Achtsamkeitspraxis und die metta bhavana,
also die Entfaltung von Liebe und Güte. So ist das bei Triratna.
Betrachten wir jetzt abwechslungsweise einmal eine andere, eine ebenso
junge westliche buddhistische Richtung, die in der Tradition des Zen
steht, nämlich den Zen-PeacemakerOrden. Dort gibt es drei Grundsätze,
der zweite ist Gewahrsein, der dritte Liebende Aktion. Das entspricht
genau unseren beiden Hauptpraktiken, der Atemachtsamkeit und der metta
bhavana. Aber an erster Stelle steht im Zen-Peacemaker-Orden noch ein
anderer Grundsatz. Wenn
die Menschen diesen hören, sind sie gewöhnlich ziemlich irritiert. Der
erste Grundsatz des Zen-PeacemakerOrdens ist nämlich: Nichtwissen.
Und
damit ich nicht in den Verdacht komme über eine andere buddhistische
Richtung etwas Ungenaues, etwas Entstellendes zu sagen, möchte ich an
dieser Stelle den Gründer des Zen-Peacemaker Ordens, den früheren
Nasa-Manager und Zen-Priester Bernie Glassman Roshi zitieren. Glassman
erläutert Nichtwissen so:
"Sobald
wir über etwas Bescheid zu wissen glauben, machen wir dadurch einen
anderen Verlauf der Dinge unmöglich. Sobald wir nicht mehr aus dem
Nichtwissen heraus leben, fixieren wir unsere Situation so, dass wir
das unablässige In-Erscheinung-Treten der Dinge und Ereignisse nicht
mehr zu erleben vermögen. Die Dinge geschehen aber und nichts bleibt
so, wie es ist. Indem wir jedoch Vorstellungen darüber hegen, was
unserer Meinung nach geschehen sollte, hindern wir uns daran zu sehen,
was tatsächlich geschieht. Uns entrüstet, wenn unsere Erwartungen sich
nicht erfüllen. Gelingt es uns hingegen, sie loszulassen, befinden wir
uns im Einklang mit dem, was in Erscheinung tritt."
Und
genau das, was Glassman da als Nichtwissen beschreibt, ist das, was im
Zen als Anfängergeist gepriesen wird. Oder um eine andere japanische
bildnerische Darstellung zu verwenden: sei wie eine leere Teetasse. In
eine volle Tasse, kann man keinen Tee einfüllen, das geht nur in eine
leere Tasse. Wenn du also etwas lernen willst, wenn du etwas einüben
willst, wenn du weiterkommen, dich entwickeln willst, dann sei nicht
wie eine volle Tasse, sondern wie eine leere Tasse, voller Erwartung
dessen, was da kommt, und dann nimm den Tee auf – vorurteilsfrei, lass
den Geschmack sich frei entfalten und achte auf diesen. Jeder Tee ist
anders, es gibt so viele Geschmacksrichtungen sei offen, für das Neue!
Dummerweise
ziehen viele Menschen bei der Meditation hieraus falsche Schlüsse. Sie
stellen fest, dass ihnen unsere beiden Meditationstechniken nach
einiger Zeit langweilig vorkommen, also wollen sie andere Meditationen,
vielleicht solche mit Musik, oder mit Mantras, vielleicht auch
Visualisierungstechniken. So gehen sie von einer
Meditationsgruppe zur nächsten Meditationsgruppe weiter und kommen
niemals wirklich tief. Denn immer dann, wenn das oberflächlich Neue
bekannt ist, wenn sie sich darauf besinnen könnten, mehr in die Tiefe
zu gehen, verschwinden sie, um etwas anderes genauso oberflächlich
auszuprobieren. So laufen sie vor ihrer Chance auf Erfolg in der
Meditation zielstrebig davon.
Daher plädiere ich eindringlich dafür, tatsächlich bei unseren beiden
Meditationstechniken zu bleiben, und sie immer neu zu erleben, mit
Anfängergeist, wie es Bernie Glassman nennt: mit Nichtwissen. – Oder,
um ein Wort des Ordensgründers der buddhistischen Bewegung Triratna,
der ich angehöre, zu verwenden: Immer mehr von immer weniger. Das
bedeutet eben nicht heute dies und morgen jenes auszuprobieren, sondern
sich auf wenigen Praktiken zu beschränken, diese aber immer tiefer zu
erforschen, auszukosten, auszuloten, und das geht nur, wenn wir uns den
Anfängergeist erhalten. Dazu fällt mir ein Spruch des bekannten
Zen-Meisters Shunryu Suzuki ein: "Im Anfängergeist gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige."
Wenn Du also glaubst, du wüsstest, wie die metta bhavana
geht, was du darin mit deinem Geist zu tun hast, dann spielst du dich
als Experten auf. Und genau dadurch verbaust du dir die Möglichkeiten,
wirklich Neues auszuprobieren, dich für Neue Erfahrungen zu öffnen,
dich zu entwickeln, dich spirituell zu entfalten, voran zukommen auf
dem Pfad zur Freiheit.
Und nun, zum Schluss, möchte ich noch einmal den Zen-Meister Suzuki zitieren:
"Im
Anfänger-Geist gibt es keinen Gedanken: `Ich habe etwas erreicht.` Wenn
wir nicht daran denken, etwas zu erreichen, nicht an uns selbst denken,
sind wir wahre Anfänger. Dann können wir wirklich etwas lernen. Der
Geist des Anfängers ist der Geist des Mitgefühls. Wenn unser Geist
mitfühlend ist, ist er grenzenlos. Dogen (ein japanische Zenmeister der auf unserem Inspirationsbaum abgebildet ist) betonte
immer, wie wichtig es ist, unseren ursprünglichen, grenzenlosen Geist
wieder zu gewinnen. Dann sind wir zu uns selbst immer wahrhaftig, dann
fühlen wir mit allen Wesen und können wirklich praktizieren. Das ist also das Schwierigste, immer den Anfänger-Geist beizubehalten. Er ist das Geheimnis der Zen-Praxis."
Soweit Suzuki. Mir bleibt nur anzumerken: das ist in der Tat der
Schlüssel zum Erfolg. Mach dir diese Erkenntnis zueigen und – sobald du
sie beherrschst – stehen dir die Tore zu ungeahnten meditativen
Erfolgen offen.
Dranbleiben. Mit Anfängergeist. Dem Schlüssel zum Erfolg.
Zu Meditation am Obermarkt
Zurück zu den Artikeln und Vorträgen
Zu den Audio-Vorträgen