Der zweite Anker
Vortragsreihe „Meditation“, Teil IV von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt (2012)
zuletzt geändert am 8. Oktober 2019
Wenn
wir meditieren, wenn wir zu meditieren versuchen, treten häufig
Hindernisse auf. Ich habe die fünf Gruppen von Hindernissen, die in
Meditation auftreten, die fünf Hindernisse, die schon der Buddha
beschrieben hat, in einem meiner letzten Vorträge benannt. Es sind dies
1. sinnliches Verlangen:
unser nach Ablenkung suchender Affengeist ist geradezu süchtig nach
Sinneneindrücken und versucht bei jeder Gelegenheit, nach
Sinneneindrücken zu greifen; in der Meditation insbesondere nach
Eindrücken von drei Sinnen,
dem Tastsinn – wir empfinden in einem Körperteil ein Gefühl und haben den Wunsch, darauf zu reagieren,
dann dem Denksinn, alle möglichen Gedanken treten auf und versuchen unsere Aufmerksamkeit einzufangen und vom Meditationsobjekt abzulenken, und
dem Hörsinn
– wir sind empfindlicher für akustische Eindrücke als außerhalb der
Meditation, all das läuft unter dem Stichwort „sinnliches Verlangen“.
2. Abneigung,
diese kann sich am Denksinn festmachen, indem wir irgend etwas
ablehnen, egal ob es in der Zukunft liegt, in der Vergangenheit oder in
der Gegenwart, in letzterem Fall also genau in dieser Meditation;
letzteres ist dann gewöhnlich die Abneigung, jetzt zu meditieren, diese
Meditationsform zu praktizieren oder die Abneigung in einer bestimmten
Körperhaltung zu sein und der Wunsch dieselbe zu verändern
3. Unruhe und Besorgtheit,
hier ist der Geist gewöhnlich in der Vergangenheit oder in der Zukunft
gefangen, es gibt aber auch Fälle, indem die Unruhe im Hier und Jetzt
liegt, dann geht es gewöhnlich darum, dass uns etwas an der momentanen
Körperhaltung nicht behagt und wir diese verändern wollen
4. Mattigkeit und Schlaffheit, wir haben zu wenig Energie in unserer Meditation
5. skeptischer Zweifel und Unentschlossenheit, wir wollen jetzt nicht diese Meditation machen und sind unschlüssig, ob uns das alles überhaupt etwas bringt.
Ich
habe in meinem letzten Vortrag diese Hindernisse erläutert und darauf
hingewiesen, dass es wichtig ist, diese Hindernisse, diese Feinde der
Meditation, zu identifizieren. Ich werde in den nächsten Wochen über verschiedene Techniken sprechen, wie man diese Feinde bekämpfen kann. Heute
habe ich vor, über zwei Anker zu sprechen, an denen wir unsere
Meditation fester verankern können, wann immer die Wogen der fünf
Hindernisse unser Schiff der Meditation zum Kentern bringen
wollen. Den
ersten Anker kennen wir schon. Es ist unser Atem. Die Atembetrachtung
dient dazu, unseren Geist zu beruhigen, daher üben wir Atemmeditation.
Die Vergegenwärtigung des Atems kann uns aber auch ansonsten helfen,
uns zu beruhigen. Nicht umsonst heißt es, dass wir, wenn uns etwas
erschüttert, verunsichert, erregt, dass wir dann erst dreimal tief
durchatmen sollen, bevor wir agieren, ganz gleich, ob dieses Agieren
ein Agieren durch Handeln, ein Agieren durch Reden oder ein Agieren
durch Denken ist. Es ist immer gut, zunächst tief durchzuatmen, auf den
Atem zurück zu kommen und so klarer zu werden.
Das Gleiche gilt natürlich auch in unserer Meditation. Wann immer ein
Hindernis auftritt, können wir es dadurch bekämpfen, dass wir zu
unserer festen Verankerung im Atem zurückkommen. Das ist der Grund,
warum ich in geleiteten Meditationen gewöhnlich mit der Anweisung
beginne, erst einige Atemzüge den Atem zu betrachten. Das ist auch der
Grund, warum ich in vielen geleiteten Meditationen die Anweisung gebe,
dass du – was immer ich sage – auf deinen Atem achten sollst. Und das
ist auch der Grund, warum viele geleitete Meditationen den Hinweis
haben: einatmend, weiß ich das und das, ausatmend tue ich dieses und
jenes. Wir können also in jeder Meditation, also auch in der metta bhavana,
auf unseren Atem zurückkommen, wenn ein Hindernis auftritt. Wir
betrachten einfach einige wenige Atemzüge lang den Atem und wenden uns
dann wieder unserem spezifischen Meditationsobjekt zu. Das ist kein
„Verrat am Meditationsobjekt“, denn wir machen das ja nur, wenn ein
Hindernis auftritt und auch nur in der Absicht, das Hindernis
abzustellen. Der Atem ist also unser erster Anker. Im
anapanasati sutta, der Lehrrede, in welcher der Buddha die
Atemachtsamkeit erläutert, bezeichnet er den Atem als Körpergestalter,
weil wir mit dem Atem unseren Körper beeinflussen können, weil wir ihn
also letztlich damit gestalten können. Natürlich
gestalten wir den Körper auch mit anderen Tätigkeiten, zum Beispiel
durch Essen oder durch Trinken, vielleicht auch durch Piercing oder
Frisieren. In der Meditation gestalten wir den Körper aber nur durch
den Atem, denn da essen wir nicht, trinken wir nicht und lassen uns
auch keinen Bolzen durch irgendein Körperteil treiben. Atmen
wir in der Meditation flacher und schneller, dann putschen wir uns auf,
dann bekämpfen wir Müdigkeit. Atmen wir bewusster im Kopfbereich, dann
hat das auch den Effekt, Mattigkeit zu bekämpfen. Atmen wir hingegen
mehr im Bauchbereich, dann bekämpfen wir damit Unruhe und
Aufgeregtheit. Das gleiche gilt, wenn wir langsam und tief atmen. Der
Atem ist also der Körpergestalter.
Ein Grund, warum Menschen mit Übergewicht – wie ich – häufig an hohem
Blutdruck leiden, ist, dass sie aufgrund ihrer Körperfülle gepaart mit
beengender Kleidung und einer Körperhaltung, die den Körper dazu
bringt, beim Einatmen nicht so tief atmen zu können, eben flach atmen
und dadurch ihren Blutdruck unwillkürlich nach oben treiben. Als ich
von dem Satz hörte, dass der Atem der Körpergestalter sei, habe ich
begonnen damit zu experimentieren und festgestellt, dass ich allein
durch verändertes Atmen meinen oberen Blutdruckwert relativ einfach um
30 Punkte und den unteren um 20 Punkte verändern kann. Und einmal mehr
zeigte sich mir, dass der Buddha recht hat: der Atem ist der
Körpergestalter. Im anapanasati sutta
spricht der Buddha aber noch eine zweite Interdependenz an, er sagt
auch, dass der Körper der Geistgestalter sei. Das gilt natürlich auch
in die andere Richtung, daher spreche ich von Interdependenz, nämlich
der Geist ist auch der Körpergestalter. Das ist der Grund für viele
psychosomatische Erkrankungen. Psychosomatische Interdependenz also
Geist-Körper- Interdependenz, heißt übrigens in pali nama-rupa und ist auf dem Bild im Meditationsraum der zwölf zyklischen nidanas,
der Kettenglieder bedingten Entstehens, als viertes dargestellt, worauf
ich heute jedoch nicht näher eingehen möchte, denn unser Thema ist ja
Meditation. Und
in der Meditation haben wir mit einem unruhigen Geist, mit unserem
Affengeist – übrigens in dem Bild der zwölf Glieder bedingten
Entstehens mit Nr. 3 vinnana (Bewusstsein) bezeichnet – zu tun, und Ziel ist es, unseren Affengeist zu beruhigen, aus dem Affengeist einen homo-sapiens-Geist
zu machen, den Geist eines weisen Menschen, in der Meditation also an
unserer Evolution zu arbeiten. Und daher ist die Feststellung aus dem
anapanasati sutta, dass
der Körper der Geistgestalter sei, so wichtig. Und jetzt sollte auch
deutlich werden, warum der Titel meines Vortrages „Der zweite Anker“
heißt. Wir haben nämlich außer dem Atem noch einen zweiten Anker, unser
Schiff der Meditation in den Wogen der Hindernisse fest zu verankern
und vor dem Kentern zu bewahren, und dieser zweite Anker ist der Körper. Ebenso
wie wir in der Meditation immer wieder auf den Atem zurückkommen
können, können wir auch immer wieder auf den Körper zurückkommen. Daher
benennt der Buddha im satipatthana sutta,
der Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit, den Körper als erste
Grundlage, als Fundament für die Achtsamkeit. Und daher ist neben der
Atembetrachtung und der metta bhavana, die unseren Emotionen positiv beeinflussen soll, das sog. body-scanning eine häufig geübte Meditation. Heute geht es mir jedoch nicht um die Übung einer eigenen Meditationsform, eben dem body-scanning,
sondern um die Integration der Körperachtsamkeit in jede beliebige
Meditationspraxis, also z. B. in die Atembetrachtung und die metta bhavana.
Wann immer Hindernisse auftreten, kannst du neben dem Zurückkommen auf
den Atem zur Beruhigung auch auf den Körper zurückkommen. Vergewissere
dich deiner Körperhaltung. Allerdings nicht in dem Sinne, jetzt eine
andere Körperhaltung einzunehmen, das würde ja gerade Unruhe und
Nervosität Vorschub leisten, sondern eben nur, um achtsam zu
sein. Und
damit sind wir dabei zu untersuchen, inwiefern unsere Körperhaltung
unsere Meditation unterstützen kann. Und das wiederum bedeutet, dass
wir vor Beginn unserer Meditation die größtmögliche Achtsamkeit darauf
lenken müssen, eine gute Sitzhaltung zu haben. In
einer guten Sitzhaltung ist der Körper gerade aufgerichtet. Wir sitzen
auf drei Punkten auf, die möglichst weit voneinander entfernt sein
sollten, das gibt uns Stabilität. Die Arme sind so positioniert, dass
der Brustkorb geöffnet ist und ein tiefes Durchatmen möglich ist. Die
Hände liegen auf. Alle unsere Muskeln sind entspannt. Wir haben durch
Polsterung dafür gesorgt, dass keine Druckstellen uns während der
Meditation unnötig behindern. Wir haben durch angemessene Bekleidung,
gegebenenfalls durch Decken, dafür gesorgt, dass unser Atem gut fließen
kann, kein Körperteil unnötig eingequetscht wird und eine der
Meditation zuträglich Temperatur herrscht, also ein kühler Kopf und ein angenehm warmer Rest des Körpers. Ziel
ist es, sowohl relativ schmerzfrei, als auch ganz stabil zu sitzen.
„Sitzen wie ein Berg“ nennen wir das. Ein Berg ist etwas ungemein
Stabiles, er steht felsenfest, unbeweglich. Zwar gibt es hin und wieder
Bergrutsche, aber doch höchst selten. Genau so selten sollten wir uns
in der Meditation bewegen müssen. Wenn
wir in der Meditation also unsere Achtsamkeit auf den Körper richten,
und wenn wir dann sehen, wie unser Körper tatsächlich all diesen
Kriterien entsprechend gut ausgerichtet sitzt, so gibt uns das nicht
nur physische, sondern auch psychische Stabilität. Somit ist der Körper
ein positiver Geistgestalter. Du kannst dich an deiner guten
Sitzhaltung erfreuen. Solltest du feststellen, dass deine Kopfhaltung
etwas suboptimal ist, weil dein Kinn vielleicht etwas zu weit Richtung
Brustbein gesunken ist, wäre es an der Zeit, deinen Kopf sehr langsam
und achtsam wieder in die richtige Haltung zu bringen. Solltest du
feststellen, dass deine Wirbelsäule etwas eingesackt ist und du einen
Rundrücken bekommen hast, so wäre es jetzt an der Zeit langsam und
achtsam den Rücken wieder etwas aufzurichten – und dir zu merken, woran
dieses Zusammensacken gelegen haben kann, vielleicht an einem zu
niedrigen oder zu wenig schrägen Kissen. Dann solltest du die Lehre
daraus ziehen, vor deiner nächsten Meditationssitzung diesen Mangel zu
beheben. Diese
klar aufgerichtete Körperhaltung kannst Du auch dadurch unterstützen,
dass du dir vorstellst, oben an deiner Schädeldecke sei eine Art
Gummiband befestigt, das ganz nach hoch oben zur Decke, vielleicht
sogar zum Himmel geht und das dich in deiner Körperhaltung unterstützt.
Dann sitzt du noch stabiler, du bist dann nicht nur beim Sitzen wie ein
Berg geerdet, verbunden mit diesem wunderbaren Planeten, der all dieses
Leben hervorgebracht hat und sich ständig weiter entwickelt, du bist
auch verbunden mit dem Himmel, mit einem höheren Bewusstsein, du hast
also Wurzeln nicht nur in der Erde, du hast auch Wurzeln im Himmel, und
diese Wurzeln versorgen dich mit den Nährstoffen, die du zum
spirituellen Wachstum brauchst. Damit wirst du mehr und mehr zu einem
himmlischen Wesen. Fest sitzend auf der Erden und verwoben im Himmel,
so doppelt gestützt schreitest du in deiner Meditation voran,
emanzipierst dich mehr und mehr aus der niederen Evolutuion, aus der du
kommst, und richtest dich auf das Ziel der Höheren Evolution aus, auf
spirituelles Wachstum, auf Vollkommenheit, auf Buddhaschaft. Ähem.
Zurück auf die Erde und zu meinem Vortrag. Vermeide nach Möglichkeit
andere als die genannten Bewegungen, also die des Kinnaufrichtens und
des Rückenstraffens. Sitze also wie ein Berg und hample nicht wie ein
Affe. Lass dein Affengeist nicht deinen Körper gestalten – denn du
brauchst keinen Affenkörper. Lass vielmehr deinen Körper – durch Sitzen
wie ein Berg und durch die Wurzeln im Himmel – deinen Geist gestalten,
deinen Geist ruhig und achtsam werden, denn du brauchst den Geist des homo sapiens sapiens,
wenn du dich weiter entwickeln möchtest, wenn du evolvieren möchtest,
wenn du dich auf der Evolutionsachse zwischen Affe und Buddha, dem
Vollkommenen, in Richtung auf den Letztgenannten hinbewegen möchtest. Was
ist aber, wenn da ein unschönes Gefühl ist, nehmen wir an ein Jucken an
der Nase oder eine Druckstelle am Bein? Nun das erste, was du machen
musst, ist Feststellen, dass da ein Hindernis ist. Also: da ist Greifen
nach Sinnenseindrücken in mir, gepaart mit Abneigung gegen diese
Empfindung. In leichten Fällen tritt nun der Rumpelstilzchen-Effekt
ein: das Hindernis, der „Dämon“ ist erkannt und benannt, der Dämon kann
verschwinden. In
vielen Fällen ist er aber hartnäckiger als Rumpelstilzchen und tut es
nicht. Dann akzeptierst du einfach, dass er da ist. Also: da ist ein
Jucken in der Nase oder eine Druckstelle am Bein – und das ist in
Ordnung. Du hast einen Körper, also gibt es auch Körperempfindungen,
manche sind angenehm, manche unangenehm. So ist das eben. Und dann
wendest du dich wieder deinem Meditationsobjekt zu. Manchmal
meldet sich die Empfindung jetzt aber sehr hartnäckig, so hartnäckig,
dass sie dich von deinem Meditationsobjekt ablenkt. Dann solltest du
auch das akzeptieren. Wenn die Empfindung stärker ist als dein
Meditationsobjekt, dann mache sie eben zu deinem Meditationsobjekt.
Betrachte die Druckstelle am Bein mit Achtsamkeit. Erforsche dein
Gefühl dort ganz genau: wie fühlt es sich an? Ist es ein pochendes
Gefühl, ist es ein taubes Gefühl, ein kratzendes Gefühl ein kribbelndes
oder was auch immer. Sei ganz achtsam! Erforsche die Qualität dieses
Gefühles in allen Nuancen. Und achte auch darauf, wie sich das Gefühl
verändert. Ändern sich die Schattierungen dieser Nuancen? Ändert sich
die Intensität dieses Gefühles? Viele derartige Empfindungen nehmen
zunächst zu und dann wieder ab, schließlich verschwinden sie. Und dann kannst du wieder zum ursprünglichen Meditationsobjekt zurückkehren. Was
ist aber, wenn der Schmerz nicht nachlässt, wenn er immer stärker wird,
wenn er sich in Richtung unerträglich verändert? Nun dann solltest du
zunächst die Bedingungen untersuchen, aufgrund derer diese Empfindung
entstanden ist. Was an deiner Sitzhaltung, an deiner Kleidung hat diese
Empfindung entstehen lassen. So kannst du daraus lernen, dich vor der
nächsten Meditation so zu setzen, dass dieses Gefühl nicht mehr
entsteht. Und wenn du das herausgefunden hast, dann überlege dir, wie
du deine Sitzhaltung möglichst mit wenig Aufwand so verändern kannst,
dass du in eine Haltung kommst, bei der das Problem beseitigt ist, ohne
dass ein anderes entsteht. Sei dir also der Risiken und Nebenwirkungen
deiner kommenden Bewegung bewusst. Und wenn du ganz sicher bist, welche
Körperveränderung das gewünschte Resultat haben wird, dann warte bis
zum nächsten Schlagen der Meditationsglocke, um sie auszuführen. Auf
diese Art machst du auch den Schmerz zu deinem Lehrmeister. Also
vergiss nicht, dich bei deinem Schmerz zu bedanken, dass er dir die
Möglichkeit gegeben hat, etwas zu lernen. Um
es noch einmal knapp zusammen zu fassen: wann immer dein Schiff der
Meditation in Seenot ist, bringe es in die schützende Bucht deiner
Achtsamkeit und setze ein oder zwei Anker. Deine beiden Anker sind die
Atemachtsamkeit und die Körperachtsamkeit. Und wann immer die
schützende Bucht der Achtsamkeit und zwei starke Anker vorhanden sind,
kann kein Schiff in Seenot geraten.