Wie ich einmal starb?
Vortrag von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt
am 9. Juni 2016

Der Anfang dieser Geschichte spielt im Jahre 1996. Ich war noch nicht allzu lange auf dem Pfad unterwegs, den der Buddha aufgezeigt hatte, und ich war erst seit einigen Monate bei der Buddhistischen Gemeinschaft Triratna. Es war mein zweites Retreat, es dauerte 14 Tage und fand im Sauerland statt, im Retreatzentrum Kühhude. Bodhimitra leitete das Retreat und wir wussten, dass die nächste Übung wieder einmal die metta bhavana sein sollte. In dieser Übung erzeugt man liebevolle Zuneigung und Wohlwollen in fünf Phasen. In der ersten Phase für sich selbst, in der zweiten für einen guten Freund, dann für eine neutrale Person und anschließend für eine Person, die man eigentlich ablehnt. Zum Abschluss sendet man diese positive Energie allen Wesen im ganzen Universum zu.

Wir hatten diese Meditation schon mehrfach geübt, und mir gingen allmählich die Freunde und die Feinde für die zweite bzw. vierte Phase aus. Also überlegte ich mir schon vor der Meditation, wen ich in den einzelnen Phasen mit metta, mit wohlwollender Empathie, bedenken könnte. Und da ich inzwischen der Auffassung war, dass ich und der/die/das andere nur Illusionen unseres Denkens seien, kam ich auf eine ganz besondere Idee. Ich hatte mich ja im Laufe meines Lebens entwickelt. Manche dieser Entwicklungsstufen waren mir aus heutiger Sicht genauso fremd wie andere Personen. Warum sollte ich nicht in allen Phasen der metta bhavana mich selbst nehmen? Mich in verschiedenen Phasen meines Lebens. Ich war jetzt vierundvierzig Jahre alt, also im fünften Jahrzehnt meines Lebens. Und ich nahm mir vor, in der ersten Phase mich in meiner damaligen Ausprägung als einer, der in den 90er Jahren den Pfad des Buddha geht, in meine Meditation zu nehmen, dann in der zweiten Phase den politisch engagierten Aktivisten der 80er Jahre, anschließend den Stenografie-Funktionär der 70er Jahre, in der vierten Phase dann den Schüler im Gymnasium der 60er Jahre und schließlich Horst im Kindergarten der 50er Jahre.


Ich setzte mich also in Meditation, Bodhimitra schlug den Gong und die Meditation begann. Es war eine sehr angenehme Meditation, zunächst entwickelte sich alles so, wie ich es erwartet hatte. Inzwischen war ich in der vierten Phase, die der schwierigen Person vorbehalten ist, und war mit diesem pubertierenden Jugendlichen Horst mitten in den sechziger Jahren.


Bodhimitra schlug abermals den Gong und ich wollte mich gerade anschicken, ins Jahr 1957 einzutauchen und im Kindergarten zu erscheinen, da löste sich die Meditation von der Planung. Ich war noch jünger. Meine Mama hatte die kleine Zinkbadewanne, die max. 30 Liter fasst, auf zwei der alten Küchenstühle mit den dunkelgrünen Sitzflächen gestellt und ich saß darin. Sie forderte mich auf, herauszukommen, ich aber bat, noch kurz drin bleiben zu dürfen, was mir zugestanden wurde, aber nur sehr kurz. Dann ging es heraus.


Meine Mama hielt mir ein großes Handtuch hin und ich hielt mich vorsichtig bei Heraussteigen an der nur 30cm hohen Seitenwand der Wanne fest, um auf das schmale Stück Sitzfläche des Stuhls zu klettern, das von der kleinen Wanne nicht bedeckt war, dahinter gähnte der Abgrund, eine tiefe Schlucht von der Sitzfläche des Stuhls bis gaaaanz weit unten auf den mit Linoleum belegten Küchenfußboden.


All das klingt alles andere als spektakulär, doch das erstaunliche war: diese Küche kannte ich nicht. Ich hatte vor dieser Meditation keinerlei bewusste Erinnerung an diese Küche. Dieser Raum war nämlich nur eine Küche bis Anfang 1953, kurz nach dem Tod meines Großvaters wurde die provisorische Küche meiner Eltern aufgelöst und danach die Küche meine Großmutter in der gleichen Wohnung benutzt. Ich muss also damals jünger als zwei Jahre gewesen sein. Und diese märchenhafte Erfahrung während meiner Meditation versetzte mich selbstverständlich in großes Staunen. Und ich war mit dem Staunen noch keineswegs fertig, als Bodhimitra die Glocke zum Ende der Meditation dreimal schlug und wollte am Ende dieser Zeitreise gern noch etwas in der wunderbaren Welt des Jahres 1953 verweilen, in die ich so unverhofft gekommen war.


Doch da geschah etwas noch Merkwürdigeres, der Automatismus, der bei der Rückführung von den 60er Jahren eingesetzt hatte, und der mich statt ins Jahr 1957 auf eine Zeitreise ins Jahr 1953 versetzt hatte, schlug erneut zu.


Die Bäume waren noch kahl, aber es war kein Winter mehr, noch frisch ja, aber nicht mehr so kalt. Wir gingen zu Fuß durch eine landwirtschaftlich genutzte Gegend in einer deutschen, nicht bewaldeten Mittelgebirgslandschaft. Wir mieden die Dörfer und versuchten uns nach Westen durchzuschlagen. Unsere Kleidung war inzwischen schäbig und verschmutzt und wir stanken auch ziemlich. Es war schließlich ein verdammt langer Marsch. Zwar war der Rucksack inzwischen ziemlich leer, aber das Gewicht des Maschinengewehrs drückte heftig. Wir versuchten uns nach Westen durchzuschlagen, dorthin, wo angeblich die Front sein sollte und wo wir erwarteten, keine Front mehr zu finden. Wenn wir die ersten amerikanischen Fahrzeuge hören würden, so hatten wir verabredet, werfen wir die MGs weg und nehmen das weise Tuch aus dem Rucksack, um uns zu ergeben. Endlich in Gefangenschaft! Endlich Friede!


Wir waren eigentlich nur noch zwei MG-Schützen, der junge Mann, vielleicht 19 oder 20 Jahre alt und ich, mehr als doppelt so alt. Und dann waren da noch einige Leute bei uns, darunter auch Zivilisten. Ich weiß nicht mehr, wie viele wir waren, aber auf jeden Fall kaum mehr als zehn. Darunter auch ein alter Mann, der ein Kleinkind trug, und eine Frau, vermutlich seine Tochter oder Schwiegertochter, die Mutter des kleinen Kindes, bei ihr war auch noch ein etwas größeres Kind. Warum wir zusammen waren, als wir nach Westen flohen, weiß ich nicht, vielleicht hatten die Zivilisten einfach Angst und fühlten sich sicherer in der Begleitung deutscher bewaffneter Soldaten. Aber wir alle wussten, dass wir auf Nebenwegen nach Westen wollten, zum Ami.


Unsere MGs hatten wir vorsichtshalber nicht weggeworfen, denn wir waren ja Deserteure und als solchen drohte uns natürlich die Erschießung, wenn wir einer Patrouille oder einem überzeugten Nazi über den Weg liefen. Der junge Mann und ich hatten abgesprochen, dass wir, sollten Kettenhunde auftauchen, so nannten wir die deutschen Feldjäger, die in Doppelstreifen mit Krädern unterwegs waren um Deserteure aufzuspüren, dass wir dann selbstbewusst auftreten würden, von einem schriftlichen Befehl sprechen würden, den Feldjägern das Dokument überreichen und sowie diese dadurch abgelenkt waren, blitzschnell unsere Waffen nehmen und sie erschießen würden. Das war zwar nicht allzu moralisch. Aber es war Krieg und es galt unser Leben und das des kleinen Trupps zu retten.


Also schritten wir wachsam voran und bemühten uns, allen Fahrzeugen und Dörfern auszuweichen. In diesem Moment kamen aus dem Seitental rechts in ungefähr drei km Entfernung zwei Tiefflieger. „Deckung“, rief ich, und wir sprangen in die Straßengräben, in der Hoffnung von den Tieffliegern nicht erspäht zu werden. Ich auf der linken Seite des Weges, der Junge auf der rechten Seite. Ich drehte mich um, auch die anderen waren in Deckung gegangen. Ich spähte rasch nach den Fliegern, da ertönt plötzlich MG-Feuer rechts neben mir. Dieser Idiot hatte doch tatsächlich das Feuer eröffnet, ich wollte ´rüberspringen und ihm das MG entreißen, doch da drehten die beiden Tiefflieger schon bei und kamen auf uns zu. „Verdammte Scheiße“, rief ich. Es blieb nichts anderes übrig, als dass ich den linken unter Feuer nehme und er den rechten. Tiefflieger sind zwar im Vorteil, aber ganz aussichtslos ist es nicht. - ROT.


Das letzte, was ich sah, war: ROT. Alles rot.


Ich saß wie geschockt auf meinem Meditationssitz in Kühhude und Tränen liefen in Windeseile über meine Wangen, aber ich hatte keine Zeit zu versuchen, diese äußerst verstörende Situation zu bewältigen, denn die Zeitreise ging weiter.


Wir fuhren aus der Stadt heraus. Wir standen dicht gedrängt auf der Ladefläche eines LKW und hatten unsere Spaten dabei, vor uns LKWs mit Männern, hinter uns LKWs mit Männern. Manche hatten Hakenkreuzfahnen dabei, manche Gewehre. Wir hatten Spaten.

„Absitzen!“ ertönte das Kommando als unser Laster hielt. Unser Ziel war noch ein ganzes Stück von dieser Ausfallstraße aus der Stadt entfernt und ging über eine gepflasterte Straße durch den Wald. Tausende von Menschen waren unterwegs, natürlich alle in Reih´ und Glied.

Ein Lied!“ kam der Befehl und wir sangen, ließen den Wind kalt über den Westerwald pfeifen. Aber es war in Wirklichkeit nicht kalt, es war ziemlich warm, es war schließlich Sommer. Dann sahen wir vorn links unser Ziel, das Reichsparteitagsgelände. Wir mussten warten bis wir an der Reihe waren. Es hatte etwas Komisches: jetzt, da nicht mehr marschiert wurde, standen Dutzende, fast schien mir, als seien es Hunderte von Männern am Straßenrand an den Bäumen und pinkelten, es wirkte absurd. Aber dann ging ich auch, schließlich würde die Veranstaltung an die vier Stunden dauern, in denen wir zunächst aufzumarschieren und dann stillzustehen hatten.


Es bemächtigte sich meiner ein merkwürdiges Gefühl, als wir auf das imposante Gelände aufmarschierten. Ich mochte die Nazis nicht. Ihr aggressives, selbstherrliches Auftreten und ihr Kommandoton liefen meinem Empfinden eigentlich immer zuwider. Aber hier entstand plötzlich etwas anderes, ein seltsames Gefühl von Größe, von erhabenem Aufbruch, von Bedeutung. Diese Inszenierung auf dem Zeppelinfeld hatte etwas von phantastischer Größe, die monumentalen Bauwerke, die Marschmusik, die Fahnen, der Aufmarsch, alles folgte einer gigantischen Choreografie. Und ich war Teil davon. In diesem Moment fühlte ich mich nicht mehr fremd, ich empfand mich als Teil des großen, starken deutschen Volkes, das im Aufbruch war, dem ihm gebührenden Platz in der Weltgeschichte einzunehmen. Es war, als wäre ich eine Stimme in einem gewaltigen Chor oder ein Ton in der Monumental-Inszenierung einer Wagner-Oper. Ich spürte, wie diese kolossale Ergriffenheit auch die anderen Menschen beherrschte. Es war, als wäre ich eine aufblühende Schlüsselblume auf einer unendlichen Wiese inmitten Millionen anderer Schlüsselblumen, die von einer strahlenden Sonne in den Frühling geführt wird. Und zum ersten Mal frug ich mich, ob das wirklich die Magie war, die vom Führer ausging, der hier auftreten sollte. Es war fast, als erwarteten wir die Niederkunft Gottvaters auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg.


Hier standen wir, Tausende, Abertausende, Zehntausend, gefühlt sogar Hunderttausende, klein wie Ameisen, um ihm zu huldigen, dem Führer. Ein Volk! Ein Reich! Ein Führer! Heil! Wir die Ameisen – er, die Lichtgestalt.


Und dann war es endlich so weit. Der Badenweiler Marsch erscholl, und von ganz rechts bewegten sich einige winzig kleine Figuren auf der gigantischen Zeppelintribühne entlang. Doch genau in dem Moment, der eigentlich als Höhepunkt der Inszenierung gedacht war, stellte sich bei mir eine abgrundtiefe Ernüchterung ein. Dieser kleine komische Mann da vorn und alle seine aberwitzigen Witzfiguren um ihn herum waren genau so gelenkte Statisten einer Choreografie. Sie waren genau so Gefangene einer Inszenierung, die sie zwar selbst mit initiiert hatten, aber zu deren Gefangenen sie geworden war. Aber das sind meine Worte jetzt, die versuchen das Gefühl, das sich meiner damals bemächtigte zu beschreiben. Was ich wirklich dachte, war ein ernüchternd einfacher Satz: „Der Führer ist eine Ameise. Der Führer ist auch nur eine Ameise!“ Das war die nüchterne Erkenntnis eines einfachen Mannes damals auf dem Zeppelinfeld während des Reichsparteitages der NSDAP.


Und genau im Moment dieser ernüchternden Erkenntnis zog mich der große Mahlstrom der Zeitreise aus Nürnberg weg und an meinen Arbeitsplatz. Ich hatte gerade meine Tagesarbeit erledigt, die Lohnzettel für die Lohnabrechnungen am morgigen Freitag so weit fertig gemacht, wie das heute möglich war, das Grundbuch abgeschlossen und die Buchungen fein säuberlich mit Tinte auf den Konten eingetragen. Ich packte meine metallene Brotdose in meine abgewetzte Aktentasche, deren Henkel abgerissen war, und die ich daher schon seit Jahren unter dem Arm tragen musste. Auch die Thermoskanne kam in diese Tasche hinein, nachdem ich den letzten Tropfen aus dem Deckel, der als Trinkgefäß diente, ausgeschlürft und die Kanne sorgsam zugeschraubt hatte.


An der Tür drehte ich mich – wie üblich – ein letztes Mal für diesen Tag um, um mich zu vergewissern, dass ich alles ordentlich hinterließ: die Schreibutensilien lagen ordentlich im rechten Winkel zur Schreibtischkante, die Schreibtischtür, hinter der sich die Handkasse verbarg, sorgsam abgeschlossen, so wie jeden Tag. Ja, ich konnte herunter-gehen. Mein Büro lag im Obergeschoss. Im Erdgeschoss und auch gut der Hälfte des Obergeschosses waren die Werkstätten. Die Fahrzeuge gelangten über eine geschwungene Rampe nach dort oben, dies war eine großer Autohof. Ich gelangte unten auf den Hof, einige Fahrzeuge standen noch herum, der Boden war aus festgefahrenem schwarzen Sand, wobei die Farbe wohl durch das Öl hervorgerufen wurde, nach dem es überall roch.


Wenn es, wie an diesem Tag, regnerisch war, schimmerten die Pfützen auf den Schlaglöchern des Hofes schillernd von Öl. Ich zog den Kragen meines Sakkos hoch, es war novemberlich kalt und garstig-regnerisch. Mein Blick schweifte wie immer über den Hof und das Werkstattgebäude auf dem in einer albern-unmodernen Schrift der Name der Firma prangte, diese Schriftart war bestimmt noch nie modern gewesen, vermutlich eine ziemlich dilettantische Arbeit aus der Gründungszeit der trotz der wirtschaftlichen Lage inzwischen prosperierenden Firma.


Und auch ein letztes kleines Ritual zog ich, wie jeden Tag, durch. Ich ging auf die rechte Seite des Werkstattgebäudes, wo ein Rohr aus dem Boden kam und an der Mauer aufwärts führte. Hier war ein klobiger Wasserhahn, an dem ein langer Schlauch für die Fahrzeugwäsche angeschossen war. Wie jeden Tag klemmte ich meine Aktentasche zwischen die Beine, damit sie nicht auf dem öligen Boden stand, nahm mit der linken Hand das Endstück des Schlauches, drehte mit der rechten den Hahn auf und ließ dann Trinkwasser in meine rechte Hand laufen, das ich zum Munde führte. Genau vier Mal, wie jeden Tag. Dann drehte ich den Wasserhahn ab, wischte mir den Mund mit dem rechten Sakkoärmel trocken und legte das Endstück des Schlauches, der aufgerollt war, wieder über den Hahn, musste ja alles seine Ordnung haben.


Ich verließ das Firmengelände, ging rechts der Straße entlang. Es war bereits dunkel und die Gaslaternen waren an. Nach etwa 200 m gelangte ich an die breite Allee, die Reichsstraße 3, überquerte diese unweit der Autoampel, in der Zeiger auf das rote oder grüne Feld zeigten, und ging noch die wenigen Schritte zu dem Mietshaus, in dem wir wohnten. Ich schloss die Haustüre auf, ging die Treppe ins Dachgeschoss hoch, vierte Etage und schloss nunmehr die linke Tür auf, wie jeden Tag.


Ah, pünktlich wie immer! Und das Essen ist auch gleich fertig“, das war die Stimme von Rehlein, meiner Frau. Sie stand am Herd, wie sich das gehörte. Ich umarmte sie von hinten, gab ihr einen Kuss auf die Wange und versuchte in den Topf zu schauen. „Riecht lecker“, sagte ich.

Naja, Linseneintopf mit Kartoffeln“, klärte Rehlein mich auf. „Aber ich war beim Metzger und habe für fünf Pfennig Wurstenden geholt, dann schmeckt´s doch gleich viel herzhafter.“

Du bist ein Schätzchen, Rehlein.“
Und du, Bärchen,“, kam die Antwort, „kannst schon mal Brot aufschneiden.“

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Jemand berührte mich an der Schulter. Verstört öffnete ich die Augen. Dhammaketu war das, sonst war niemand mehr im Meditationsraum. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, stand etwas ungelenk auf.

Ist alles in Ordnung, Horst?“ Ich nickte.

Möchtest du darüber sprechen?“
Nein, danke, Dhammaketu, ich kann nicht darüber sprechen. Vorläufig nicht. Vielleicht viel später einmal, in zwanzig Jahren, oder so.“

Dhammaketu nickte. Dann gingen wir schweigsam ins Hauptgebäude, an diesem warmen Sommertag des Jahres 1996.
EPILOG
Natürlich habe ich mich damals und auch später immer wieder einmal gefragt, ob das reale Erinnerungen waren oder einfach meine Phantasie. Ich bin nicht wirklich zu einem Ergebnis gekommen. Ich glaube auch nicht, dass das nötig ist, vielleicht ist es nicht einmal hilfreich. Aber ich möchte doch einige dieser Überlegungen hier auch anführen.

Die Szene in der Küche des Jahres 1953 kann real gewesen sein. Diesen Raum gab es, warum dies plötzlich auftauchte und nicht die Szene, die ich eigentlich als Hintergrund meiner Meditation nehmen wollte, weiß ich nicht. Hier scheint ein unbewusster Mechanismus gegriffen zu haben.


Für die Kriegsszene spricht, dass ich als Teenager öfter aus unerklärliche Gründen vom Krieg träumte, und in mindestens einem Traum war ich auch mit so einer Gruppe von Leuten unterwegs und hatte mich von der Truppe abgesetzt. Auch kamen in meinen Träumen häufig kleine Flugzeuge am Himmel vor, die entweder abstürzten oder aus denen Feuer züngelte. Gegen die Echtheit dieser Szene spricht, dass es natürlich eine Menge von Kriegsfilmen gibt. Ich habe zwar früher nur selten welche gesehen, und wenn, dann Antikriegsfilme, aber natürlich können da Versatzstücke im Unterbewussten hängen geblieben sein. Wenn ich mich recht erinnere, steht die Farbe rot, auch am Ende des Filmes „Wem die Stunde schlägt“, in dem Ernst Hemingway seine Erlebnisse im spanischen Bürgerkrieg beschreibt.

Lange Zeit hat mich vor allem die Szene auf dem Reichsparteitag beschäftigt. Da gab es nämlich ein ziemlich verstörendes Ereignis etwa fünf bis zehn Jahre vor dieser Meditation. Ich war damals mit meiner Familie im Wohnmobil unterwegs. Wir waren auf der Rückreise von einem Urlaub auf dem Balkan und wir wollten eine Stelle zum Übernachten in Nürnberg suchen und dort noch irgendwo zu Abend essen. Und am nächsten Tag nach hause zurück zu fahren.

Aber wir hatten uns ziemlich verfahren und nichts Passendes gefunden, in Wirklichkeit waren wir auf einer Ausfallstraße au Nürnberg heraus. „Dreh halt um,“ schlug die Mutter meiner Kinder vor.

Ich aber sagte: „Warte mal, hier kommt mir etwas bekannt vor!“ Ich sagte das, obwohl ich noch nie im Leben hier war. „Wir müssen da links ab“, erklärte ich bestimmt, Angelika sah mich skeptisch an. Es ging kerzengerade durch ein Waldstück.

Das hat keinen Sinn, dreh um“, sagte Angelika. „Nein“ erwiderte ich, dort von kommt eine Kreuzung und dort ist ein großer Landgasthof und davor müsste es genügend Parkraum geben.“

Jetzt erst tauchte vorn eine Kreuzung mit einer Ampel auf – und tatsächlich, dort war ein großer, Landgasthof, der offensichtlich schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte.

Und gleich nach dem Waldende links gibt es einen großen Parkplatz“, prophezeite ich Angelika weiter. Ich bog links ab – tatsächlich ein riesiger Parkplatz – und dahinter das Reichsparteitagsgelände. Ich hielt und stutzte, wie von einer fernen Erinnerung berührt, als ich das monumentale Bauwerk erstmals in diesem Leben sah. Und Angelika sah mich an wie einen Geist, ihr Blick verfinsterte sich. Wir haben beide niemals darüber gesprochen.

Natürlich kann es sein, dass mich diese Szene innerlich so berührt hat, dass sie Ursache des Auftretens des Reichsparteitagsgeländes in meiner Meditation viele Jahre später war. Das wäre eine logische Erklärung. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn die Szene in Nürnberg erst nach meiner Meditation war. War sie aber nicht.

Es gibt da allerdings noch diese andere Szene in dem Autohof einer mir damals nicht bekannten Großstadt. Und das hat mich wirklich erschüttert. Es war im Jahr 2004 oder 2005, also rund zehn Jahre nach der Meditation. Ich lebte inzwischen in Frankfurt und hatte mich gerade bei CarSharing angemeldet. In unmittelbarer Nähe meiner Wohnung, die sich in der Habsburgerallee befand, sollten zwei Fahrzeuge von stattmobil, dem CarSharing-Unternehmen stehen. Ich ging dorthin, in die Rhönstraße. Es gab zwei Einfahrten zu dem Innenhof. Rechts stand das CarSharing-Auto.

Irgend etwas berührte mich merkwürdig. Irgend etwas erinnerte ich an... ja woran eigentlich. Ich war doch noch nie in meinem Leben hier. Ich drehte mich zum Innenhof: eine große Autowerkstatt, sie hatte Ähnlichkeit mit etwas... Und diese merkwürdig geschwungene Rampe, mit der Autos in die obere Etage der Werkstatt fahren konnten, wo hatte ich das denn schon gesehen? Mein Blick war jetzt oben am Gebäude angekommen, bei der Aufschrift: Ostend-Garage. Eine merkwürdige mir bekannt vorkommende Schrift. Einzelne, metergroße Buchstaben in einer Schrifttype die noch nie modern gewesen war, sie sollte irgendwie Zukünftiges ausdrücken, sah aber doch irgendwie unbeholfen gestrig aus.

Und in diesem Moment stand vor meinem geistigen Auge das Bild aus meiner Meditation auf, das Bild, als ich mich beim Abschied, wie jeden Tag noch einmal umdrehte. Der Boden war nicht mehr voller schwarzem öligen Sand, er war jetzt betoniert. Der Rest sah genauso trostlos aus wie damals. Ich schaute unwillkürlich auf die rechte Seite des Gebäudes, wo ich damals die vier Schluck Wasser getrunken hatte, konnte aber dort nichts erkennen, ein Kleinlaster stand davor. Ich umschritt ihn: tatsächlich, ein aus dem inzwischen betonierten Boden herausragendes Rohr, an dessen oberen Ende genau dieser altertümlich Wasserhahn befestigt war. Nur der Schlauch war nicht mehr dran.

Als ich diese Erinnerung Ende Februar aufschrieb, entschloss ich mich noch einmal nach Frankfurt zu fahren, ich wollte mir das noch einmal ansehen, wollte es auch zur Illustration dieses Bericht mit einem Foto unterlegen. Am Montag, dem 29. Februar 2016 war ich dort. Leider ist die Werkstatt inzwischen abgerissen. Das Vorderhaus mit den beiden Einfahrten steht noch, doch dahinter werden gerade neue Wohn-gebäude hochgezogen, Lofts. Die Ostend-Garage ist weg. Seit diesem Tag bei dem CarSharing-Auto neige ich dazu, diese Zeitreise in meine Meditation des Jahres 1996 für real zu halten. Aber wirklich sicher bin ich mir nicht.

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