Warum wir es nicht alleine schaffen.

Die Bedeutung von Sangha und Gesellschaft für spirituelles Wachstum

Vortrag von Dr. Sven Lohrey bei Meditation am Obermarkt am 12. Mai 2016

Einleitung: War der Buddha ein Einzelgänger?

Beim Lesen einer Biografie des historischen Buddha Sakyamuni bin ich neulich über eine Stelle aus dem Khaggavisana Sutta gestolpert, eines der ältesten Suttas, das uns heute noch erhalten ist. Darin beschreibt der Buddha, wie die Sakyaputras, die Söhne des Buddha, leben sollen – und zwar „allein wie ein Rhinozeros-Horn“, wie ein Elefant mit massigen Schultern, der seine Herde verlässt und wie es ihm gefällt durch den Wald streift. Er geht sogar noch weiter: Auch nur vorübergehende Befreiung vom Leiden sei nicht möglich für jemanden, der sich an Gesellschaft erfreut.

War der Buddha also ein Einzelgänger? Er selbst scheint zumindest die Einsamkeit des Dschungels und die Stille der Naturschreine dem Trubel der Städte vorgezogen zu haben und schwärmte noch kurz vor seinem Tod von den wunderschönen Landstrichen, die er auf seiner Wanderschaft besucht hatte: „Schön gelegen, Ananda, ist Vesali, schön gelegen der Udener Park, der Garten der Gotamiden, der Siebenmangohain, der Hügel mit dem Vielblätterlaub, das Grabmal an der Sarandada, der Pavaler Baumfrieden". Wer selbst schon einmal in Indien war oder für längere Zeit in einer Großstadt gewohnt hat, wird ihm das nicht übelnehmen.

Überleitung: Das wahre Individuum

Aber heißt das wirklich, dass wir nur dann effektiv praktizieren können, wenn wir uns zurückziehen und in einer Hütte alleine in der Wildnis leben? Natürlich nicht. Dieser Eindruck entsteht nur, wenn wir die Aussagen des Buddha zu wörtlich nehmen – eine Gefahr, der wir immer wieder begegnen werden bei dem Versuch, einen Zustand zu realisieren, der sich in Worten einfach nicht ausdrücken lässt. Worum es dem Buddha geht ist vielmehr unsere innere Haltung im Bezug auf Gruppen. In seinem Austausch mit den verschiedensten spirituellen Gruppen des alten Indien hatte Siddhartha Gautama schon bevor er zum Buddha wurde erkannt, welch starken Einfluss die ungeschriebenen Normen und Regeln einer Gruppe, oft festgelegt durch deren Gründer, auf die Sichtweisen der Gruppenmitglieder hatten. Der Wunsch, dazuzugehören, Anschluss und Selbstbestätigung zu finden, war oft sehr viel größer als das Bedürfnis, zur Wahrheit vorzudringen.

In Sangharakshitas Worten geht es darum, ein wahres Individuum zu werden – frei vom Bedürfnis, durch die Zugehörigkeit zu Gruppen seine eigene Unsicherheit zu reduzieren oder sein Selbstbild aufzuwerten, mit der Fähigkeit, eigenständig zu denken und zu entscheiden, selbst wenn alle anderen das Gegenteil machen. In anderen Worten, gegen den Strom zu schwimmen, wenn es nötig ist. Interessanterweise braucht man aber genau dafür andere Menschen. Dessen war sich auch der Buddha sehr bewusst.

Die Bedeutung der spirituellen Gemeinschaft

Der Pali-Kanon ist voll von Lehrreden, die die Bedeutung der spirituellen Gemeinschaft hervorhebt, also einer Gemeinschaft, die im Gegensatz zu einer Gruppe ein freier Zusammenschluss von Menschen ist, die wahre Individuen sind oder werden wollen. Der Buddha hielt seine Schüler an, sich regelmäßig und in großer Zahl zu treffen und in einem berühmten Dialog mit Ananda beschreibt er Freundschaft als die Gesamtheit des spirituellen Lebens. Warum Gemeinschaft und Freundschaft so wichtig für spirituelles Wachstum sind, wird jedem klar sein, der selbst praktiziert. Im Austausch mit spirituellen Freunden können wir unser eigenes Verständnis des Dharma überprüfen und vertiefen; sie helfen uns durch persönliche Krisen, inspirieren und bereichern unsere Praxis durch ihre Erfahrungen und weisen uns auf ethische Verfehlungen hin – somit haben sie direkten Einfluss auf alle drei Säulen des buddhistischen Pfads von Ethik, Meditation und Weisheit.

Darüber hinaus ermöglicht eine spirituelle Gemeinschaft aber noch etwas viel fundamentaleres: Sie bietet einen Kontext für den absoluten Kern unserer spirituellen Praxis – nämlich Zufluchtnahme zu den drei Juwelen – Buddha, Dharma und Sangha. Nun denkt ihr vielleicht, wieso brauche ich denn jemand anderen, um Zuflucht zu nehmen? Zufluchtnahme wird doch immer als individueller Akt beschrieben, für den nur ich selbst die Verantwortung übernehmen kann? Schließlich kann mir ja niemand sagen, wie oder zu was ich Zuflucht nehmen soll! Das stimmt auch, aber Zufluchtnahme in der Vertraulichkeit unseres eigenen Geistes und Herzens bleibt eine Vorstellung, ja eigentlich kaum mehr als ein Traum, solange wir ihr keinen Ausdruck verleihen. Erst wenn wir unsere Zufluchtnahme mit anderen teilen und diese von anderen wahrgenommen wird, wird sie auch real, objektiv und wirklich Teil unserer Persönlichkeit. Das setzt natürlich voraus, dass diese anderen unsere Zufluchtnahme auch wirklich erkennen können und ernst nehmen – und das werden sie nur dann können, wenn sie selbst genau dasselbe anstreben und mindestens genauso effektiv praktizieren wie wir. Mit diesem Grundprinzip von gemeinsamem Ausdrücken und Wahrnehmen von Zufluchtnahme steht und fällt Triratna wie auch jede andere spirituelle Gemeinschaft.

Die Bedeutung der Gesellschaft, in der wir praktizieren

Lasst uns unseren Fokus nun aber noch mehr ausweiten. Einige von uns haben sicher schon sehr positive Erfahrungen als Teil einer spirituellen Gemeinschaft gemacht – aber wie sieht es mit der weiteren Gesellschaft aus? Genau so, wie wir als einzelne Personen durch ein Missverständnis von wahrer Individualität, einer Verwechslung von Individualität mit Individualismus, schnell die Verbindung zur spirituellen Gemeinschaft verlieren können, so kann eine spirituelle Gemeinschaft als Ganzes auch schnell die Verbindung zur Gesellschaft verlieren, innerhalb derer sie existiert.

Wenn wir etwas genauer hinschauen, werden wir feststellen, dass eine Trennung von Gesellschaft und spiritueller Gemeinschaft oder Individuum faktisch unmöglich ist. Denkt einfach nur mal darüber nach, wie ihr heute zu Meditation am Obermarkt gekommen seid. In Autos über Straßen, in Zügen auf Schienen – und nichts davon habt ihr selbst hergestellt. Dasselbe gilt für die Wohnung oder das Haus, in dem ihr wohnt, die Kleidung an eurem Körper und das Essen, das ihr zu euch nehmt. Wir nehmen all das oft als gegeben und selbstverständlich hin und reagieren erst, wenn etwas fehlt. Wenn eine Baustelle dort ist, wo vorher eine Straße war, wenn der Zug unpünktlich ist, und so weiter.

Natürlich gilt das auch für Beziehungen. Auch spirituelle Freundschaft kann man irgendwann als selbstverständlich ansehen, mir ist das selbst passiert. Erst nachdem ich die spirituelle Gemeinschaft im Buddhistischen Zentrum in Birmingham für einen längeren Zeitraum verlassen hatte, zum Beispiel beim Besuchen meiner Eltern oder Freunde in Deutschland, ist mir aufgefallen, welch positiven Kontext sie eigentlich darstellt und wie wenig ich mir das bewusst vor Augen führe. Ähnliches passiert immer wieder nach intensiven Retreats, wenn ich zurückkehre zu meinem Alltag und meinen Routinen.

Nicht, dass wir das aus Böswilligkeit tun – so funktioniert unsere Wahrnehmung einfach. Negative Reize sind viel salienter, werden länger erinnert und emotional intensiver wahrgenommen als positive Reize. Evolutionär mag das durchaus sinnvoll für unser Überleben sein; aus spiritueller Sicht ist es allerdings ein großes Problem, da diese Mangelhaltung zu emotionaler Verarmung führt und uns daran hindert, Freundschaft, Mitgefühl, liebende Güte und andere positive Zustände zu kultivieren.


Dankbarkeit als Schlüssel zu Weisheit

Was können wir also tun, um der Mangelhaltung in uns zu begegnen? Wir können aktiv Dankbarkeit entwickeln. Eine Möglichkeit ist Reflexion. Im „Juwelenornament der Befreiung“ schreibt Gampopa klar und deutlich: „Liebe und Mitgefühl für alle fühlenden Wesen entsteht aus der Reflexion darüber, welche Unterstützung wir von anderen erhalten haben“. Im Mahayana entwickelt sich bodhicitta, das Streben nach Erleuchtung, aus der Reflexion, dass alle Lebewesen einmal unsere Mutter oder unser Vater waren und ihr Leben für unser Wohl gegeben haben, was wirklich ein sehr kraftvolles Bild ist. Nach seiner Erleuchtung dachte der Buddha darüber nach, wem er denn seine Erkenntnis mitteilen könnte, wer ihn wohl verstehen würde. Seine früheren Lehrer waren alle tot und viele Menschen nicht willig, seine Einsicht anzunehmen. Schließlich erinnerte er sich an die fünf Mönche, mit denen er asketische Praktiken geübt hatte. Aber er dachte nicht daran, wie sie ihn zurückgewiesen und verlassen hatten, nachdem er, dem Tode nahe, wieder begonnen hatte, mehr zu essen. Stattdessen reflektierte er darüber, wie sie ihm geholfen hatten, ihn unterstützt hatten. Er fühlte Dankbarkeit, woraus wiederum Mitgefühl für diese fünf Mönche entstand, so dass er sich entschloss, seine Einsicht mit ihnen zu teilen.

Eine andere Möglichkeit, Dankbarkeit zu kultivieren, ist natürlich Meditation. Besonders bietet sich hier die mudita bhavana, die Kultivierung von Mitfreude, an. In dieser Meditation kultivieren wir zunächst metta, liebende Güte, und richten unsere von metta durchströmte Achtsamkeit dann auf die guten Qualitäten anderer Wesen: Auf Eigenschaften, die wir an ihnen schätzen, Verhaltensweisen, die wir bewundern und allgemein all jene Aspekte, die uns inspirieren. Automatisch entsteht Dankbarkeit und ein Gefühl von Glück, diese Person zu kennen. Wenn wir über Beziehungen hinausgehen wollen, können wir uns auch an der Sechs-Elemente-Praxis versuchen, die uns verdeutlicht, wie wir selbst in Abhängigkeit von den Elementen Erde, Wasser, Feuer, Luft, Raum und Bewusstsein entstehen und vergehen. Wenn wir die Einsicht wirklich zulassen, dass jede einzelne Zelle unseres Körpers in Abhängigkeit von Bedingungen entsteht, die völlig außerhalb unserer Kontrolle liegen, dann erscheint die Idee eines separaten Selbst plötzlich ziemlich abwegig – und wieder entsteht Dankbarkeit.

Dankbarkeit wird so zum Schlüssel, zur Bedingung für die Entstehung von Weisheit. Wenn wir Dankbarkeit empfinden, ist das ein Zeichen dafür, dass sich unsere Illusion eines fixen, unabhängigen Selbst aufzulösen beginnt. In Sangharakshitas Worten beginnen wir, emotionale Entsprechungen für unser intellektuelles Verständnis der Realität zu finden. Ist dieser Prozess abgeschlossen, sind wir erleuchtet.

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