...nichts
als die Wahrheit!
Vortragsreihe „Das Gute Leben“ Teil IX (2013)
von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt, Gelnhausen
zuletzt bearbeitet 2019
Liebe
Freundinnen und Freunde, in unserer Reihe „Das Gute
leben“
befassen wir uns mit den ethischen Vorsätzen, die der Buddha
empfiehlt. In der Vergangenheit haben wir uns mit den ersten drei der
fünf Vorsätze beschäftigt, in denen es um unser Verhältnis zu
Gewalt, zu Eigentum und zu Sinnenlust ging. Diesen drei war
gemeinsam, dass es um körperliches Handeln ging. Beim vierten
Vorsatz, mit dem wir uns heute und nächstes Mal befassen werden,
geht es um Handeln auf der sprachlichen Ebene und heute ganz konkret
um den Umgang mit der Wahrheit. Beim nächsten Mal werden wir uns
dann damit zu befassen haben, worauf wir – neben der Wahrheit –
beim Reden noch achten sollten.
Heute
also der Vorsatz, der auf Pali heißt musavada
veramani sikkhapadam samadiyami,
auf Deutsch: Ich nehme mir vor aufzuhören, die Unwahrheit zu sagen.
Und wie wir wissen, gibt es all diese Vorsätze nicht nur in der
negativen Formulierung, sondern auch in der positiven, und hierbei
rezitieren wir diesen Vorsatz üblicherweise mit „mit ehrlicher und
wahrhaftiger Sprache läutere ich meine Rede“.
Es
stellt sich also die Frage, warum sollen wir eigentlich nicht die
Unwahrheit sagen? Diese ethischen Empfehlungen machen ja nur dadurch
Sinn, wenn durch ihre Nichtbeachtung andere Wesen geschädigt werden.
Worin liegt also der Schaden bei der Lüge?
Der
Schaden liegt darin, dass ich versuche jemanden zu täuschen. Und
warum tue ich das? Nun, ich tue es vermutlich, weil ich mir so
erhoffe, einen Vorteil auf Kosten eines Dritten zu bekommen. Wenn
mich meine Mutter also vor sechzig Jahren fragte: „Horst, warst du
etwa wieder am Kühlschrank und hast in die Butter gebissen?“ Und
wenn ich dann verneinte, so tat ich das wohl, weil ich einem Tadel
oder einer Strafe ausweichen wollte und hoffte, der Verdacht würde
dann auf jemanden anderen fallen.
Genau
wie bei den vorigen drei ethischen Empfehlungen auch, geht es also
darum dem egoistischen Impuls, mir einen Vorteil auf Kosten anderer
zu verschaffen, nicht nachzugeben und damit das Glück und das
Wohlergehen der anderen genauso hoch einzuschätzen, wie mein
eigenes. Auch diese Handlungsempfehlung ähnelt der des Christentums,
denn im Dekalog, den sog. Zehn Geboten heißt es: „Du sollst kein
falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten“ (im Exodus –
oder 2. Buch Mose – 20,16).
Man
könnte sogar der Auffassung sein, dass das mosaische Gebot klarer
sei, denn wenn es darin heißt „wider Deinen Nächsten“, dann
wird der Wunsch des Nichtschädigens deutlicher, als es in der
Formulierung des Buddha der Fall ist.
Allerdings
sind die buddhistischen Formulierungen bewusst unscharf gehalten,
damit wir genau reflektieren können, ob wir nicht vielleicht gegen
den Sinn des Gebotes verstoßen. Als ich noch klein, dumm und
katholisch war, hätte ich in dem Beispiel mit dem Butterbiss nämlich
argumentiert, dass ich gar kein falsches Zeugnis wider meinen
Nächsten abgelegt hätte, schließlich habe ich ja nicht gesagt:
„Nein, Mama, ich war´s nicht, es war der Papa.“
Das
wäre in der Tat ein falsches Zeugnis wider meinen Vater, also zu
seinem Nachteil gewesen – wenn es meine Mutter geglaubt hätte,
natürlich nur. Ich fühlte mich also als kleiner, dummer Katholik
durchaus im Recht: ich habe gegen niemanden falsches Zeugnis
abgelegt, mir aber erst einmal den Vorteil verschafft, nicht der
mütterlichen Strafverfolgung anheim zu fallen. Und wenn ihr nun
behauptet, so verquer würde niemand denken, dann muss ich euch
leider sagen: genau so habe ich damals gedacht und mich damit voll im
göttlichen Recht gesehen. Und ich gehe davon aus, dass viele
Menschen ähnlich denken, wenn sie es auch nicht so deutlich
aussprechen würden. Wir neigen dazu, uns Ausreden vor unserem
eigenen Gewissen auszudenken.
Ehrliche
und wahrhaftige Sprache aber war es nun wirklich nicht, wenn ich den
Butterbiss ableugnete. Man verstößt offensichtlich immer dann gegen
den Vorsatz, ehrlich und wahrhaftig zu sprechen, wenn man versucht,
einen anderen Eindruck zu erwecken, als es den Tatsachen entspricht.
Das entspricht im Übrigen sehr genau der angelsächsischen
gerichtlichen Eidesformel, bei der der Zeuge schwört: „die
Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ (the
truth,
the
whole
truth
and
nothing
but
the
truth)
zu sprechen.
Ich
finde diese Eidesformel sehr bemerkenswert. Neben der Wahrheit, auf
die der Zeuge vereidigt wird, wird nämlich der Deutlichkeit halber
auf die „reine Wahrheit“ „the
whole truth“
verwiesen, der Zeuge wird also auch ermahnt, nichts zu verschweigen.
Diese Verpflichtung auf die „volle Wahrheit“ ist übrigens das
gleiche, was in der buddhistischen Formel mit dem Hendiadyoin
„ehrlicher und wahrhaftiger“ ausgedrückt werden soll. Wichtig
ist also auch, dass der Sinn nicht durch Weglassen verzerrt wird.
Ich
kann mich sehr genau daran erinnern, dass ich als Politiker mir
vorgemacht habe, immer die Wahrheit gesprochen zu haben, allerdings
habe ich häufig Tatsachen, die meiner Argumentation widersprachen,
weggelassen, schließlich wollte ich dem politischen Gegner keine
Steilvorlagen geben. Das ist der Unterschied zwischen Wahrheit und
„voller Wahrheit“ und das kann mitunter ganz schön entstellend
sein.
Ich
möchte ein Beispiel aus der in solchen Fällen immer wieder gut ins
Bild passende BILD-Zeitung für eine solche Vergewaltigung der
Wahrheit durch Weglassen zur Illustration erwähnen. Die Bildzeitung
versuchte häufig, den früheren SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert
Wehner, der vor 1942 tatsächlich einmal der KPD angehörte, als
Kommunisten und Steigbügelhalter des Kommunismus zu denunzieren. So
zeigte sie einmal ein Bild, auf dem Wehner zusammen mit
DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker abgebildet war, beide saßen
zusammen am Tisch und lachten herzlich.
Die
beabsichtigte Wirkung war wohl: da sitzt dieser Kommunistenfreund
Wehner beim Honecker und sie lachen sich eins vor Freude, weil Wehner
wieder einmal die Bundesrepublik an die DDR verriet.
Das
Bild war völlig echt, nichts war retuschiert, es zeigte die
Wahrheit, aber eben nicht die volle Wahrheit, jene volle Wahrheit,
die sich bei jenem Treffen am 31. Mai 1973 in Schorfheide unweit von
Berlin abgespielt hatte. Der rechte Teil des Originalfotos war
nämlich abgeschnitten; auf dem Originalfoto saß dort auch noch
Wolfgang Mischnick, der Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag.
Die Wahrheit war also: der liberale Mischnick und der Sozialdemokrat
Wehner verhielten sich in dieser Sache völlig gleich.
Das
ist also der Unterschied zwischen der Wahrheit und der „vollen
Wahrheit“. Nur allzu gerne manipulieren wir die Wahrheit durch
Weglassen wesentlicher Informationen.
Eine
ganz ähnliche Tendenz verfolgen wir, wenn wir zur Wahrheit alles
Mögliche hinzufügen, um sie so zurechtzubiegen, damit sie uns in
den Kram passt. Wir bauschen zum Beispiel etwas auf, das uns in
besserem Licht dastehen lässt oder übertreiben die
Unzulänglichkeiten anderer.
Auch
hier eine kleine Anekdote aus meiner politischen Zeit, diesmal war
ich nicht Täter sondern gewissermaßen Opfer. Meine kleiner Sohn kam
damals ganz verstört von der Schule heim und fragte mich was, ich
denn „wieder angestellt hätte“. Andere Kinder hätten in der
Schule erzählt, in der Zeitung habe gestanden – das müssen sie
wohl über die Gespräche ihrer Eltern so mitbekommen haben - „ich
sei der schlimmste Mensch, der jemals in diesem Landkreis gelebt
habe“.
Man
kann mir sicher viel vorwerfen, aber das scheint mir doch leicht
übertrieben. Und es zeigt auch, wie durch solche Art von
Übertreibungen Leiden verursacht werden, denn meine Kinder fühlten
sich damals in ihrem sozialen Umfeld isoliert, waren sie doch die
Kinder von „so einem“. Wie das auf die Kinder gewirkt hat, wird
deutlich wenn man berücksichtigt, dass mein Sohn wenige Wochen
später – es war während des ersten Irakkrieges – bei einem
Anruf geschockt war, denn mein Sohn Sydney glaubte, der Anrufer sei
Saddam Hussein und wollte mich sprechen: „Daddy“, so fragte er
mich, „Warum hast Du denn ausgerechnet den
zum Essen eingeladen?“
Auch
wenn das jetzt lustig klingt, so zeigt es doch, welche Probleme und
Nöte Übertreibungen erzeugen können. Was muss in einem
siebenjährigen Kind vorgehen, wenn es aufgrund von
Presseübertreibungen glaubt, sein Vater kooperiere mit jemanden, der
damals in der Presse als Weltfeind Nr. 1 galt? (Die Wahrheit war,
dass ein Fraktionskollege, der mich anrief, sich mit seinem Namen
meldete: Ender Hussein.)
Die
Verwendung ehrlicher und wahrhaftiger Sprache ohne Beschönigung und
ohne Übertreibung ist also das, was der Buddha seinen Laienanhänger
empfiehlt.
Ein
besonders problematischer Begriff ist der Ausdruck „Notlüge“,
denn ohne die Not, dass einem die Wahrheit zu unbequem ist, würde
niemand lügen. Der Begriff „Notlüge“ ist also ein typischer
Versuch der Rationalisierung, mit dem man versucht, sich eine Ausrede
zu verschaffen.
Dabei
möchte ich es für heute bewenden lassen, obwohl ich vermute, dass
es nunmehr heftige Diskussionen geben wird, ob nicht eine Lüge in
bestimmten Fällen sinnvoll sei. Das Lieblingsbeispiel in dieser
Diskussion ist, was man macht, wenn der Verfolgte nach links
abgebogen ist und die verfolgende Gestapo fragt: wohin ging der
Verfolgte?
Bei
solchen Fragen geht es letztlich um eine Güterabwägung, ob es nicht
auch noch höhere Güter gäbe als die Wahrheit, und ich denke, dass
wir alle in dem Gestapo-Beispiel der Auffassung sind, die Lüge sei
das kleinere Übel. Sie ist das ganz sicher, denn hierbei wird
eindeutig nicht aus egoistischen Motiven gehandelt. Wann immer wir
aber aus egoistischen Motiven handeln und sich dadurch ein Nachteil
für Dritte ergibt, dann lebt man nicht das Gute. Offensichtlich, so
sieht man aber an diesem Beispiel, gibt es neben der Wahrhaftigkeit
noch weitere Sprachvorsätze, die Sinn machen.
In
meinem nächsten Vortrag werde ich noch auf mehrere weitere Aspekte
der Sprachvorsätze eingehen, die der Buddha lehrt, also welche
Eigenschaften unsere Rede außer der Wahrhaftigkeit noch gerecht
werden sollte.
Zu Meditation am Obermarkt
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