Stress
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Vortrag von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt, Gelnhausen (2013)
Vortragsreihe „Das Gute Leben“, Teil VII
Zuletzt bearbeitet 2020
Liebe
Freundinnen und Freunde, vor einigen Wochen hat hier Nirmala über
den dritten ethischen Vorsatz gesprochen. Ich möchte heute hier zum
gleichen Thema sprechen, aber einen gänzlich anderen Vortrag halten.
Nicht etwa, weil ich Nirmalas Ansicht nicht teile, nein, im
Gegenteil, ich kann jede der Aussagen seines Vortrages voll und ganz
unterschreiben, und ich bin froh, dass Nirmala diesen Vortrag so
gehalten hat, denn damit hat er einen Teil dieser Thematik in einer
Weise abgedeckt, die sicher besser war als das, was ich dazu hätte
sagen können.
Wenn
ich heute hier erneut über das dritte sila sprechen möchte, dann
weil ich es aus einem gänzlich anderen Ansatz heraus tue. Und das
beginnt damit, dass ich den Paliausdruck "kamesu michacchara
veramani sikkhapadam samidiyami" anders übersetze als er. Nicht
dass die Übersetzung, die Nirmala verwendet hat, falsch wäre, nein,
traditionell wird dieser Vorsatz übersetzt mit "Ich nehme
Abstand von sexuellem Fehlverhalten" und genau das ist auch die
Thematik, die in den traditionellen Kommentaren zu diesem Vorsatz
erörtert wird.
Wenn
man sich jedoch an den Wortlaut des Palitextes hält, so steht da
ganz eindeutig: "Ich nehme Abstand vom falschen Umherwandeln in
der Sinnenwelt." Sexualität gehört ganz eindeutig zur
Sinnenwelt, und wenn wir von "Sinnlichkeit" oder von
"sinnlicher Liebe" sprechen, dann geht es dabei ganz
eindeutig um Sexualität und Erotik. Das ist ganz klar ein wichtiges
Thema, "let's talk about sex" verspricht immer
Aufmerksamkeit.
Ich
möchte hier heute über einen weniger prickelnden Aspekt von
falschem Umherwandeln in der Sinnenwelt sprechen. Und ich möchte
außerdem als allererstes eine Anleihe bei unseren Brüdern und
Schwestern von der christlichen Fakultät machen. Bei denen gibt es
ein Gebot, das lautet: "Du sollst nicht begehren deines Nächsten
Weib." Und Jesus hat diesen Spruch auch erläutert, er soll
gesagt haben: "Wahrlich, ich sage euch, wer seines Nächsten
Weib begehrlich betrachtet, hat mit ihr im Geiste die Ehe schon
gebrochen" (Mt 5,28). Also nicht erst der Vollzug des
Geschlechtsaktes wird von Jesus als Sünde betrachtet, sondern
bereits der Gedanke daran. Und es gibt noch ein christliches Gebot,
das diesem sehr nahe kommt: "Du sollst nicht begehren deines
Nächsten Hab und Gut." Hierbei geht es offensichtlich nicht um
Sex und Eifersucht, sondern um Besitz und Neid.
Nun
könnte man fragen: was gehen uns die Gebote der Christen an? Meine
Antwort auf diese Frage wäre: Wenn der Buddhismus nicht zu
mindestens gleichwertigen ethischen Lösungen kommt, ist er
überflüssig, dann wäre es besser, in der christlichen Tradition zu
praktizieren.
Aber
wenn ich diese beiden christlichen Gebote betrachte, dann fällt auf,
dass beide beginnen mit "du sollst nicht begehren...." -
und das bringt mich ganz schnell zum Buddha zurück. Bekanntlich ist
das Begehren eines der drei Grundübel, die der Buddha nennt; die
anderen beiden sind Hass und spirituelle Unwissenheit.
Ja,
im Buddhismus kommt dem Begehren sogar noch eine mindestens ebenso
zentrale Rolle zu wie die ebengenannte, nämlich in der vielleicht
wichtigsten Botschaft des Buddha, in den Vier Edlen Wahrheiten; ich
nenne hier die ersten drei davon:
-
letztlich
erzeugt alles Weltliche Stress
-
diesen
Stress können wir überwinden, wenn wir seine Ursache beseitigen
-
die
Ursache all' unseres Stress liegt im Begehren.
Der
Buddha diagnostiziert also eine Krankheit, die uns alle befallen hat,
diese nennt er "dukkha",
eine der Übersetzungen von dukkha ist Stress. Wie ein guter Arzt
entscheidet sich der Buddha, der sich übrigens nicht als
Religionsstifter, sondern als Therapeut verstanden hat, nicht für
ein Kurieren am Symptom, sondern für die Ausmerzung der Ursache
dieser Krankheit. In der Vierten Edlen Wahrheit bietet er schließlich
die Therapie an - auf die werde ich jedoch heute nicht eingehen. Ich
möchte vielmehr untersuchen, ob er mit dem Zurückführen der
Krankheit Stress auf Begehren Recht hat und weiterhin möchte ich
untersuchen, woher Begehren kommt.
Die
Erläuterung steht hier an der Wand, im Rad des Lebens, in der Kette
der zwölf Glieder abhängigen Entstehens. Bild fünf zeigt uns ein
Haus mit fünf Fenstern und einer Tür, es steht für unser
sinnliches Wahrnehmen - wenn man so will, für Sinnlichkeit - die
Fenster stehen für die Eingabeeinheiten der Wahrnehmung, also für
Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Fühlen, die sechste Öffnung,
die Tür, steht für die Zentraleinheit unserer Wahrnehmung, für das
Denken.
In
Abhängigkeit von diesen Sinnen und einem mit diesen Sinnen
erkennbaren Objekt kommt es zu Kontakt mit diesem Objekt, zu phassa,
dargestellt durch die beiden Personen auf Bild 6, die in Kontakt
miteinander sind. Unmittelbar im Zusammenhang mit diesem Kontakt
entsteht in uns eine Empfindung, vedana
auf Bild 7, die entweder positiv oder negativ ist, möglicherweise
auch neutral.
Meist
reagieren wir auf diese Empfindung entweder mit Abneigung, Ablehnung,
Wegstoßen, nämlich dann, wenn sie negativ ist, oder aber mit
Verlangen, Begehren, Habenwollen, nämlich dann, wenn die Empfindung
positiv ist. Dieses Begehren wird in Bild 8 als tanha
(wörtlich: Durst) bezeichnet, dementsprechend wird es bildnerisch
als Biertrinker dargestellt. Und dieses Begehren führt dann in Bild
9 zu upadana,
Ergreifen und Festhalten, dargestellt durch eine Person, die Früchte
pflückt und sie in einem Behälter speichert.
In
diesem Modell kommt all' unser Stress aus der Tatsache, dass auf
vedana tanha folgt, Verlangen, Begehren, Durst, und dies wiederum zu
Ergreifen und Anhaften führt.
Ich
werde dieses Schema jetzt exemplarisch an drei unterschiedlichen
Beispielen durchspielen: einem Sexualpartner, einem Haus, einem
Beruf. Alle diese drei Dinge erscheinen - oder erschienen - uns
irgendwann im Laufe dieses Lebens erstrebenswert; das ist kein
Wunder, denn wie alle Phänomene haben sie einen assada-Aspekt,
einen angenehmen Aspekt. Schon der Gedanke an einen Sexualpartner
bringt uns kurzfristig prickelnde Gefühle und - wenn wir eine feste
Beziehung anstreben - mittel- oder langfristig so etwas wie
Sicherheit, hoffen wir. Das eigene Haus verspricht Geborgenheit,
Selbstverwirklichung, Wohlstand und Sicherheit. Der Beruf verspricht
Einkommen, Sozialprestige, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und
Sicherheit. Das alles ist der assada-Aspekt, der Teil des Phänomens,
der uns im Moment des Begehrens so erstrebenswert erscheint; ebenso
erstrebenswert wie dem Biertrinker auf Bild 8 unser Abbildung das
Bier - aber nur allzu gern verdrängen wir in diesem Moment den
adinava-Aspekt
(beim Biertrinken die Tatsache, dass es Geld kostet, dick macht, uns
dumme Sachen anstellen lässt und zum Kater führt).
Sehen
wir uns das im ersten Beispiel an: schon das Anstreben einer neuen
Beziehung hat in vieler Hinsicht Stresscharakter (wie soll ich mich
verhalten? wird die Anbahnung der Beziehung von Erfolg gekrönt
sein?) Außerdem kostet dies Zeit, die man vielleicht für
sinnvollere Dinge verwenden könnte, möglicher-weise kostet dies
auch Geld (Friseur, outfit etc.) In diesem Augenblick sind wir aber
noch bereit, diesen Stress in Kauf zu nehmen - Hormonstau und/oder
Suche nach Geborgenheit respektive Romantik.
Ich
denke wir alle kennen auch aus leidvoller Erfahrung den Stress, der
in einer Beziehung auftritt und vermutlich auch den, der am Ende
einer Beziehung vorhanden ist. Hinterher haben wir dann die
Verblendung, beim nächsten Mann bzw. der nächsten Frau würde alles
anders.
Wohlgemerkt:
ich leugne nicht die assada-Qualitäten, die angenehmen Seiten der
Beziehung, sondern ich betrachte hier gezielt die adinava-Seite, den
stresserzeugenden Anteil der Sache. Ich denke, jede/r von uns kennt
solche Stresssituationen bei sich aus eigener Erfahrung und jede/r
kennt eine andere Person, bei denen sich das noch stressiger
darstellte. Ein Beispiel dafür ist meine Mutter, die daran
zerbrochen ist, dass ihre Beziehung zu meinem Vater 1958 durch dessen
Tod endete. Sie hatte sich 15 Jahre zuvor bewusst für meinen Vater,
einen mehrfach behinderten Kriegsblinden entschieden, und ihren
Lebenslauf, ihre gemeinsam Karriere auf ihn und ihre Beziehung
aufgebaut. Die vermeintliche Sicherheit dieser Beziehung hat der
Krebs von einen auf den anderen Tag zerstört und es folgten acht
schwarze Jahre für sie, für meine Schwester und für mich.
Kommen
wir zum nächsten Beispiel: das eigene Haus - der Traum jedes
Bausparers. Neben den assada-Qualitäten gibt es auch hier massenhaft
adinava-Elemente, die Stress verursachen: Stress mit Handwerken,
Stress mit und infolge der Finanzierung, Stress mit Schäden am Haus
und, und, und...
Auch
der Beruf, der uns einstmals als Inbegriff für Erwachsensein,
Selbstständigkeit, finanzieller Unabhängigkeit, Einkommen,
Sozialprestige und Selbstverwirklichung galt, hat, wie wir alle
inzwischen gemerkt haben auch eine ganze Menge an
adinava-Bestandteilen.
Ich
möchte an dieser Stelle an eine Kollegin erinnern, deren Ehe
zerbrochen ist, der Mann ist auf und davon, die jedoch ein Haus und
zwei Kinder hat, dazu noch ihren Beruf. Ihre Kinder sollten es einmal
besser haben, daher das Haus, wegen dem sie leider nicht auf die
volle Stelle verzichten konnte, wie sie glaubte, denn das Haus war
noch längst nicht abbezahlt, sie fiel dann in der Schule ein halbes
Jahr aus - Stress, burn-out, inzwischen ist eines ihrer Kinder
drogenabhängig - die Mutter hatte ja nie Zeit, war immer im Stress,
die Kollegin ist ein zweites Mal für ein halbes Jahr wegen burn-out
in einer Klinik. Und warum? Unmittelbar wegen drei Ursachen: ihrer
Beziehung, ihrem Haus, ihrem Beruf, den drei Dingen die sie - der
Sicherheit wegen - anstrebte. Der Buddha würde hier nicht nur auf
diese unmittelbaren Ursachen verweisen, sondern er würde die
Ursache, die hinter allen dreien steht, benennen, und das ist das
Begehren.
Woher
kommt unser Begehren? Es kommt daher, dass bei einem Kontakt - z. B.
mit einer Werbebotschaft - die Empfindung "angenehm"
aufsteigt. Unser Fehler ist, uns nicht nur des angenehmen Gefühls zu
erfreuen, sondern Begehren zu entwickeln (den assada-Aspekt
gegenüber dem adinava-Aspekt
aufgrund der angenehmen Empfindung über zu bewerten). Und genau das
ist falsches Umherwandeln in der Sinnenwelt!
Es
ist unser Reagieren im Reiz-Reaktions-Schema, es ist das, was wir
evolutionsbedingt aus dem Tierreich mitbringen. Wenn wir uns von dem
falschen Umherwandeln in der Sinnenwelt befreit haben, wenn wir nicht
mehr blind wie die Person auf Bild 1 (also verblendet) auf jeden Reiz
reagieren, sondern achtsam und wissensklar reflektiert und kreativ
handeln, dann wandeln wir nicht mehr falsch in der Sinnenwelt umher.
Dann entscheiden wir uns rational und emotional bewusst.
Möglicherweise für die Beziehung, für das eigene Haus, für den
Beruf. Aber wir können nicht mehr enttäuscht werden, da wir uns
nicht mehr getäuscht haben. Dann haben wir begonnen, ein wahrhaft
bewusstes Leben zu führen, möglicherweise - dann wenn wir ethische
Aspekte berücksichtigt haben - sogar ein spirituelles Leben zu
führen, dann haben wir den Absprung geschafft vom Hamsterrad des
Lebens und haben begonnen den spirituellen Pfad zu gehen, den ich
hier an der Wand gelb dargestellt habe. Dann winkt in einiger
Entfernung der Zwischenstopp sukha
- Glückseligkeit - und wenn wir bereit sind den Pfad immer weiter zu
gehen - letztlich Weisheit, Einsicht, Befreiung, Erleuchtung.
Und
der erste Schritt, den wir heute - und alle Tage! - in dieser
Richtung gehen können, ist aufzuhören mit dem falschen Umherwandeln
in der Sinnenwelt. Oder, wie es in der positiven Formulierung dieses
Vorsatzes heißt, uns durch Stille, Schlichtheit und Genügsamkeit zu
läutern.
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