Das
Nehmen von Nichtgegebenem
Vortrag von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt, Gelnhausen (2013)
Vortragsreihe „Das Gute Leben“, Teil V
Zuletzt bearbeitet 2020
Wir
kommen nun in unserer Reihe „Das Gute Leben – Ethik im
Buddhismus“ zum zweiten Vorsatz, er lautet: „Adinnadana
veramani sikkhapadam samadiyami“
und das heißt auf Deutsch „Ich nehme Abstand davon, Nichtgegebenes
zu nehmen.“ Dass damit gemeint ist, es sei gut, nicht zu stehlen,
ist nur allzu offensichtlich. Das wäre die ganz enge Auslegung. Aber
jeder dieser Vorsätze ist ein ganzes Übungsfeld. Und wer wirklich
das
„Gute
leben“
praktiziert, der wird allmählich in immer subtilere Formen des
ethischen Praktizierens vordringen.
Nicht
dass man von Anfang an alle diese Feinheiten berücksichtigen muss,
aber je mehr sich unsere Praxis auf dem Edlen
Dreifachen Pfad,
den der Buddha lehrte, verfeinert, desto genauer werden wir auch
gewillt sein, diese Vorsätze zu Praktizieren. Und die erste Stufe
dieses Dreifachen Pfades ist nun einmal Ethik, die zweite und dritte
Stufe sind Meditation bzw. Weisheit. Wir werden aber in diesen beiden
aufbauenden Stufen nur wirklich weit kommen, wenn wir die erste
Stufe, Ethik, als Fundament bestens ausgebaut haben. Und daher
bleiben praktizierende Buddhisten nicht bei der engen Auslegung
stehen, dass es genügt nicht zu stehlen, nein, mit dem „Nehmen von
Nichtgegebenem“ ist weit mehr gemeint.
Auch
im Deutschen kennen wir die Redensart, dass jemand einem „die Zeit
gestohlen hat“. Wenn jemand die ganze Zeit auf dich einredet und
dabei nur Sachen erzählt, die dich nicht interessieren, dann stiehlt
er dir die Zeit. Vielleicht bist du höflich und unterbrichst ihn
nicht, das ist völlig in Ordnung. Ziel eines Buddhisten ist es nicht
andere zu bekehren, sondern sich selbst zu entwickeln. Unsere Aufgabe
ist es also, achtsam darauf zu sein, wann wir uns anschicken jemand
anderem die Zeit zu stehlen. Und dann eben unser Verhalten zu ändern.
Ganz
eng verwandt mit dem Zeitdiebstahl ist auch der Energie-Vampirismus.
Manche Menschen beeinflussen uns so, dass sie einem die Energie
entziehen wie ein Vampir das Blut. Das tun zum Beispiel notorische
Bedenkenträger. Ich habe einmal im Internet nachgesehen, was dort
unter Energievampirismus steht und gefunden: „Dementsprechend
gibt es verschiedene Sorten von Vampiren. Die meisten von ihnen
versuchen unsere Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie ständig
beleidigt, liebesbedürftig, kränklich und unglücklich sind. Viele
von dieser Sorte füllen die Wartezimmer der Ärzte. Andere erheben
Machtansprüche über unsere Entscheidungen und versuchen uns zu
überzeugen, dies und das für sie zu erledigen, ihnen oder uns
selbst etwas zu kaufen, und sind wütend oder verzweifelt, wenn wir
uns ihrer charismatischen Ausstrahlung nicht beugen. Wieder andere
versuchen in unsere Persönlichkeit einzudringen, um uns Angst,
Zweifel oder Misstrauen einzuflößen, ob es um eine Beziehung geht,
oder um eine Person, oder sogar um unsere eigenen Fähigkeiten.“
Ich
möchte dieses Thema hier nicht vertiefen, wichtig ist in unserem
Zusammenhang nur zu begreifen, was man unter „Nehmen von
Nichtgegebenem“ versteht.
Ein
anderes Thema ist das, was neudeutsch Landgrabbing heißt. Bei
Wikipedia findet man dazu: „In
den vergangenen Jahrzehnten wurde der Landerwerb in
Entwicklungsländern in erster Linie durch private Gewinnmotive
geprägt. Meist lag der Schwerpunkt auf hochwertigen
landwirtschaftlichen Export-produkten (sog. Cash Grops), nicht auf
der Erzeugung von Grundnahrungsmitteln. Später begannen Regierungen,
Land im Ausland zu erwerben, diesmal mit dem Ziel der
Ernährungs-sicherung der eigenen Bevölkerung, insbesondere seit der
Nahrungsmittelpreiskrise 2007, oder um nachwachsende Rohstoffe zur
Produktion von Biokraftstoff anzubauen. Vor allem Länder mit knappen
Land- und Wasserressourcen und ausreichendem Kapital, wie z. B. die
Golfstaaten, sind heute bedeutende Akteure auf diesem Markt. Hinzu
kommen Länder mit großen Bevölkerungen wie Gina, Südkorea und
Indien.“
Ich
würde sogar so weit gehen zu sagen, dass jeder Privatbesitz von Land
auf dem Nehmen von Nichtgegebenem beruht. Denn das Land, der Grund
und Boden, stand ursprünglich allen Wesen gemeinsam zur Nutzung zur
Verfügung, zunächst Pflanzen, dann Tieren, zuletzt einer Spezies,
die immer noch mehr Tier ist als wahrhaft menschlicher Mensch. Der
Buddha hat das ganz radikal gesehen, er hat deswegen auf allen
Privatbesitz, auch auf die Königswürde über den Kleinstaat Shakya
verzichtet und ist als Wanderer umher gezogen. Er hat die Natur, in
der er lebte mit anderen Menschen, Tieren und Pflanzen geteilt,
anstatt sie auszubeuten.
Auch
der große buddhistische Kaiser Ashoka
im 3. Jhd. vor unserer Zeitrechnung hat sich darum bemüht, die
private Annexion zu Lasten Dritter zurückzudrängen. Es wurden in
dieser Zeit Wälder, Haine, Erholungsgebiete angelegt, die von allen
Menschen und Tieren genutzt werden konnten, ohne sie auszubeuten. Wer
Hunger hatte, konnte dort Früchte zum sofortigen Verzehr entnehmen,
aber es war nicht gestattet, z. B. die Haine zu roden, das wäre
Nehmen von Nichtgegebenem gewesen.
Hier
wurde erstmals in der bekannten Geschichte eine staatliche Politik
von Nachhaltigkeit gemacht. Letztendlich ist der Gedanke von
Nachhaltigkeit nichts anderes als das Nichtnehmen von Nichtgegebenem.
Nachhaltigkeit bedeutet, nicht das (Natur-) Kapital auszubeuten,
sondern nur von den Erträgen zu leben. Der vom deutschen
Forstwissenschaftler Carl von Carlowitz 1713 in seinem Werk
„Silviculutura oeconmica“, also ökonomische Waldwirtschaft
geprägten Begriff bedeutet – ich zitiere Wikipedia:
„Nachhaltigkeit
ist ein Handlungsprinzip zur Ressourcen-Nutzung, bei dem die
Bewahrung der wesentlichen Eigenschaften, der Stabilität und der
natürlichen Regenerationsfähigkeit des jeweiligen Systems im
Vordergrund steht.“
Unser
Leben heute ist alles andere als nachhaltig. Wir verbrauchen in einem
einzigen Jahr so viele fossile Brennstoffe, wie dieser Planet in
einer Million Jahren erzeugt hat. Und es wäre töricht zu glauben,
diese Bodenschätze wären uns von Gott oder wem auch immer gegeben,
um sie jetzt zu verbrauchen. Tatsache ist, dass dieser Planet
ursprünglich wüst und leer war. Die moderne Wissenschaft hat
nachgewiesen, dass die Erdatmosphäre ursprünglich so
zusammengesetzt war, wie die Atmosphäre unseres Bruderplaneten Mars,
nämlich etwa 0,1 % molekularer Sauerstoff O2,
den wir zum Leben brauchen, aber ca. 95% Kohlendioxid, eine für
Menschen und Tiere absolut tödliche Mischung. Die Evolution auf
unserem Planeten hat mehr als drei Milliarden Jahre gebraucht für
den Prozess, den man wissenschaftlich „terra-forming“ nennt, also
der Umwandlung der Atmosphäre durch Pflanzen in eine Luft, die für
Tiere und Menschen verträglich ist, zu einer Formierung von Terra,
einem Planeten, der unser aller Heimat ist, der unsere große Mutter
ist.
Heute
ist der Anteil an molekularem Sauerstoff auf der Erde nicht mehr 0,1%
sondern rund 21%, der Anteil von Kohlendioxid ist von 95% auf weniger
als 0,1% zurückgegangen. Die gewaltigen Mengen an Kohlenstoff wurden
von Pflanzen absorbiert und in deren Verrottungsprozess in Moore, in
Torf, in Kohle, in Öl und in Gas umgewandelt. Dieser
Umwandlungs-prozess dauert Hunderte von Millionen Jahren. Aber seit
200 Jahren sind wir Menschen dabei, diesen Prozess des terra-forming
wieder rückgängig zu machen. Jedes Jahr emittieren wir so viel
Kohlendioxid, wie in einer Million Jahre in fossilen Energiespeichern
eingelagert wurde. Dies ist das absolute Gegenteil von
Nachhaltigkeit, es ist Nehmen von Nicht-gegebenem. Dieser Planet hat
uns Tieren und Menschen eine Atmosphäre geschaffen, die immer
weitere Evolution, die Tiere, Menschen und sogar Buddhaschaft, also
Vollendung der Evolution, möglich machte, wir aber sind dabei, diese
in Milliarden von Jahren geschaffenen optimalen Bedingungen zu
ruinieren.
Ein
Mensch, der naturnah lebt, emittiert im Jahr etwa 430 kg
Kohlendioxid. Selbst wenn er kulturbedingt – also durch Heizung,
Mobilität usw. – etwa das Fünffache davon emittieren würde, so
lehrt uns die Naturwissenschaft, könnte die Mitte dieses
Jahrhunderts erwartete Bevölkerung von 9 Mrd. Menschen nachhaltig
leben. Ein Deutscher jedoch emittierte, so eine Untersuchung aus den
90er Jahren, nicht diese gerade noch verträgliche Menge von 2,3 t
Kohlendioxid pro Jahr, sondern 16 t, also so viel als hätten wir
sieben Planeten zur Verfügung. Allein für den Verkehrsbereich, also
für die in den meisten Fällen verbrennungsmotorgestütze Mobilität,
wurden pro Jahre 4,4 t pro Bundesbürger emittiert, also etwa doppelt
so viel, wie für alle Verbrauchsbereiche gerade noch zuträglich
wäre. Und es soll nur niemand sagen, seitdem wäre der
Benzinverbrauch rückläufig. Denn bereits damals waren die
Emissionen pro Deutschen aus KFZ-Nutzung bei 1,4 t, die aus
Flugverkehr bei über 2 t, und genau dieser hat seither stark
zugenommen.
Mit
anderen Worten, wann immer wir ins Auto steigen wollen, wann immer
wir die Heizung aufdrehen wollen und insbesondere wann immer wir ein
Flugticket kaufen wollen, sollten wir des Vorsatzes „Adinnadana
veramani sikkhapadam samadiyami“, „Ich nehme mir vor, vom Nehmen
von Nichtgegebenem Abstand zu nehmen“ eingedenk sein und überlegen, ob dies denn wirklich nötig ist.
Ich
weiß, dass ich das Thema „Nehmen von Nichtgegebenem“ damit bei
weitem nicht umfassend behandelt habe. Ich weiß auch, dass ich unser
Konsumverhalten hierbei sehr einseitig auf zwei chemische Elemente
und deren Zusammensatzung, auf Sauerstoff und Kohlenstoff reduziert
habe. Selbstverständlich gilt Ähnliches für viele andere Bereiche.
Jeder dieser fünf silas, jeder dieser fünf ethischen Vorsätze, die
der Buddha empfiehlt, ist ein ganz weites Übungsfeld. Aber ich
hoffe, ich habe ein paar Gedankenanstöße dafür geliefert, was
Nehmen von Nicht-gegebenem, was Verpflichtung zu Nachhaltigkeit,
bedeutet.
Wann
immer wir unseren Geldbeutel aufmachen oder die Kreditkarte zücken,
entscheiden wir mit, wie sich unser Planet entwickelt, stimmen wir
finanziell über Nachhaltigkeit oder Nehmen von Nichtgegebenem ab.
Wir
müssen dabei nicht wie Diogenes
in der Tonne, wie der amerikanische Philosoph Thoreau
im Wald oder wie der Buddha auf den Straßen Indiens leben. Aber wir
müssen auch nicht so unachtsam leben, wie es offensichtlich der
durchschnittliche Deutsche tut. Der Buddha empfiehlt den Mittleren
Pfad. Und dieser Mittlere Pfad, das ist der Pfad der Nachhaltigkeit,
der Pfad des Lebens im Einklang mit der Natur, mit unserer Mutter,
mit dem Planeten Erde. Und damit wir das nicht vergessen, damit wir
das immer vor Augen haben, ist dieser wunderbare Planet, der höchste
Evolution bis zur Vollkommenheit, bis zur Erleuchtung, bis zur
Buddhaschaft ermöglicht, hier im Meditationsraum an der Wand hinter
mir abgebildet.
Damit
wir diese Verpflichtung zu Nachhaltigkeit nie vergessen.
Zu Meditation am Obermarkt
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