Zwei Arten von Meditation

Vortragsreihe Meditation - Teil XI
von Horst Gunkel bei der Buddhistischen Gemeinschaft Gelnhausen - 2012


Liebe Freundinnen und Freunde, Buddhismus ist – ich zitiere – „eine Art spiritueller Autoerotizismus“. Das klingt (a) gut, (b) buddhismuskritisch und (c) intellektuell. Kennt ihr einen deutschen buddhismus-kritischen Intellektuellen, dem ihr diesen Satz zutraut? Dieser Satz wurde 1998 so von Josef Kardinal Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., gesagt.

Erotizismus klingt irgendwie geil. Es geht dabei offensichtlich um etwas, das einen in eine Art Begeisterung, Verzückung, Ekstase, orgastischen Taumel versetzen kann. Autoerotizismus ist dann das gleiche, aber man macht es allein, in seinem stillen Kämmerlein, wo Autoerotik wohl hingehört. Soweit klingt es erst einmal etwas diffamierend. Aber Ratzinger ist kein grobschlächtiger Demagoge, sondern ein scharfzüngiger Intellektueller. Er nennt diesen „Autoerotizismus“ spirituell, d. h. er verkennt keineswegs die darin wohnende Spiritualität. Und er schränkt seine Aussage weiter ein, indem er sagt. es seine „eine Art“ von spirituellem Autoerotizismus, also so etwas Ähnliches wie spiritueller Autoerotizismus.

Einmal davon abgesehen, dass Ratzinger hier übersieht, dass eines der drei zentralen Elemente des Buddhismus die Sangha, die Gemeinschaft der Praktizierenden ist, scheint für ihn das Wesentliche zu sein, dass man sich in sein stilles Kämmerlein zurückzieht und dort allein etwas macht, das einen in Verzückung versetzt. Damit ist ganz offensichtlich Meditation gemeint. Und damit sind wir bei unserem Thema.

Als ich hier vor einem Jahr einen Vortrag unter dem Titel „Das zuckersüße Leben der Buddhisten“ hielt, ging es in etwa um solche Erfahrungen in der Meditation. Ich habe damals einige Begriffe erläutert, die einem auf dem spirituellen Pfad und in der Meditation begegnen, sie sind hier hinter mir aufgelistet: pamojja (Freude), piti (Verzückung) – da sind wir offensichtlich beim Autoerotizismus -, passadhi (Zur-Ruhe-Kommen) und sukha (Glückseligkeit), und das ist genau das Wort, von dem das deutsche Zucker abgeleitet ist, das englische sugar oder das türkische seker, wie in seker bayrami, dem islamischen Zuckerfest am Ende des Fastenmonats Ramadan – auch hier wieder süße Spiritualität.

Und in der Tat können alle diese freudigen Gefühle durch die Meditationen, die wir hier einüben, durch die Vergegenwärti-gungen des Atmens und die metta bhavana, die Meditation zur Entfaltung von positiver Emotion, erreicht werden. Diese beiden Meditationsformen werden üblicherweise in eine der beiden Hauptrichtungen der Meditation, nämlich in die Gruppe der samatha-Meditation eingeordnet. Samatha ist nach dem Buddhistischen Wörterbuch von Nyanatiloka: „`Ruhe, Gemüts-ruhe` und damit ein Synonym für Sammlung (samadhi), Ein-spitzigkeit des Geistes (citt´ekagatta) und Unzerstreutheit (avikkhepa).“ Das ist das Ziel unserer Meditation, die wir hier machen: nicht mehr zerstreut sein, gesammelt sein, konzentriert sein.

Und je besser uns das allmählich gelingt, desto eher kommen wir in die Zustände von pamojja, von Freude, und von piti, von Verzückung. Wäre das das Ziel des Buddhismus, dann wäre der Buddhismus in der Tat eine Art spiritueller Autoerotizismus. Zugegebenermaßen ist genau das eben beschriebene, nämlich
das was die meisten Menschen, die hierher kommen, von Meditation erwarten. Diese Menschen kommen wegen der Meditation, nicht wegen des Buddhismus. Und das ist auch in Ordnung. Schließlich heißt das hier nicht „Buddhismusschule am Obermarkt“ sondern „Meditation am Obermarkt“. Wer hier nichts anderes will, als Gemütsruhe, positive Emotionen, Freude, Verzückung und zuckersüße Glückseligkeit erreichen, der ist hier richtig, das kann man hier erreichen – wie ihr allerdings inzwischen gemerkt habt, nicht von jetzt auf gleich, aber immerhin durch regelmäßige Praxis, am besten durch tägliche Meditation in einer unserer beiden Meditations-techniken, einer wöchentlichen Meditationssitzung mit anderen und einem monatlich Gespräch mit einer in Meditation erfahrenen Person.

Aber damit ist man keine Buddhistin, kein Buddhist. Jemand, der sich zum Buddhismus bekennt, setzt die drei sog. Juwelen des Buddhismus, d. h. den Buddha, das Ideal, dem Buddhist/ innen nacheifern, den Dharma, also die Lehre des Buddha, und die Sangha, also die Gemeinschaft der diese Lehre Praktizieren-den, in den Mittelpunkt seines Lebens. Und Buddhistinnen oder Buddhisten streben diese eben genannten Ziele, also Freude (pamojja), Verzückung (piti), Beruhigung (passadhi), Glückseligkeit (sukha) und Sammlung (samadhi) nicht als Endziel an, sondern als Etappenziele. Ihr seht hinter mir diese Liste mit Begriffen, da sind sie mit den Ziffern 15 - 19 bezeichnet. Der spirituelle Pfad, den Buddhist/ innen gehen wollen, geht aber von Punkt 13 bis Punkt 24. Und der Rest des Pfades ist mit Sicherheit kein spiritueller Autoerotizismus, sondern Einsicht, vipassana. Und wenn ich von zwei Arten von Meditation sprach, dann sind das eben samatha-Meditation, also Meditation zur Entfaltung von Gemütsruhe, und vipassana-Meditation, Meditation zur Entfaltung von Einsicht in die wahre Natur der Dinge.

Was ist die wahre Natur der Dinge? Es ist etwas, das man nicht durch bloßes Denken - also intellektuell - erfassen kann. Und genau hier unterscheiden sich die einzelnen Religionen voneinander.

In allen höher entwickelten Religionen gibt es aber etwas, das einen mit dem höchsten Ziel in Kontakt bringt, mit dem höchsten Ziel vereint, mit dem, was die Theologie das Numinose oder das Transzendente nennt. In den theistischen Religionen ist das Gott. Und diese Praktiken werden in den theistischen Religionen von denen eingeübt, die bereits die Gemütsruhe erreicht haben und nun bereit sind, sich dem Transzendenten zu öffnen. Das sind im Judentum die Vertreter der Kabbala, im Islam die Sufis und im Christentum die Mystiker.

Ich möchte einige bekannte christliche Mystiker und Mystikerinnen nennen, weil diese Namen uns sicher bekannter sind als die Vertreter anderer Religionen: Origines, Thomas von Aquin, Franz von Assisi, Hildegard von Bingen, Meister Eckhard, Ignatius von Loyola, Martin Luther, der frühere UN-Generalsekretär Dag Hammerskjöld, Dietrich Bonhoeffer, Anselm Grün, Dorothee Sölle, Carl Friedrich von Weizsäcker und Willigis Jäger, letzterer übrigens ein Benediktinermönch, der Buddhismus-Lehrer ist.

Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich behaupte nicht, dass das Ziel aller Religionen das Gleiche sei. Das Ziel ist bei aller methodischen Nähe und Überschneidungen in der spirituellen Praxis verschieden. Alle theistischen Religionen sind auf die Nähe zu Gott ausgerichtet. Der Buddhismus hält Gott für eine Projektion menschlichen, unerleuchteten Geistes. Sein Ziel kann daher nicht eine größere Nähe zu Gott oder eine (ich zitiere) „heilige Hochzeit zwischen Seele und Gott bzw. Christus“ sein, wie es Saskia Wendel 2004 in ihrem Buch „Christliche Mystik“ nennt und auch keine Vereinigung des atman mit dem brahman, also das, was die Hindus anstreben. Das Ziel des Buddhismus ist esbodhizu erreichen, also Erwachen, Erleuchtung, Einsicht in die Natur der Dinge.

Was das ist, kann man zwar mit Worten annäherungsweise beschreiben, aber man kann es nicht wirklich begreifen, das geht nur durch die Erfahrung in vipassana-Meditation. Mit Worten beschrieben sind es drei Erkenntnisse, nämlich
Dann bleibt doch die Frage: warum üben dann Buddhistinnen und Buddhisten in den meisten buddhistischen Schulrichtungen, unter anderem hier bei Triratna, eigentlich samatha-Meditation und nicht gleich vipassana? Nun, die Entfaltung von Gemütsruhe ist die Grundlage. Erst wenn wir eine ausreichende psychische Stabilität erreicht haben, sind wir in der Lage, Erkenntnisse, die wir in vipassana erreichen, nicht schockierend zu finden. Wenn ich zuvor gesagt habe, zu Einsicht gehört die Erkenntnis, dass alles prozesshaft und ohne festen Wesenskern ist, dann sind das für uns erst einmal Worte.

Wenn wir das wirklich erfahren, wirkt es auf uns schockierend, denn es bedeutet letztendlich, dass das „Ich“ eine Illusion ist. Das klingt jetzt nicht schockierend, denn es sind nur Worte, keine Erfahrungen. Wenn wir hören, dass in Afghanistan bei einem Anschlag fünf Menschen getötet worden sind, sind das für uns auch nur Worte, obwohl wir wissen, dass das Menschen wie du und ich sind. Das Getötetwerden zu erfahren ist hingegen etwas ganz anderes. Also: intellektuelles Verstehen und Erfahren sind zweierlei. Und vipassana lässt uns die Wahrheit erfahren.

Manche buddhistische Richtungen nennen die Art, wie sie praktizieren, übrigens vipassana-Meditation. Das heißt aber nicht, dass dort keine samatha-Meditation geübt wird. Diese Schulen benennen sich vielmehr nach ihrem Ziel: Einsicht.

Und wenn ich oben gesagt habe, ich zitiere mich jetzt selbst: „die Meditationen, die wir hier einüben, also die Vergegenwärtigungen des Atmens und die metta bhavana, ... werden üblicherweise in … die samatha- Meditation eingeordnet“, so ist das richtig, daher können sie auch von Meditierenden jeden Glaubens geübt werden. Sie dienen der Entfaltung von Achtsamkeit (die Vergegenwärtigungen des Atmens) und von Positivität und Freundlichkeit (die metta bhavana), also Dinge, die von allen Menschen guten Willens unabhängig von ihrer religiösen Einstellung als hilfreich empfunden werden.

Dass wir diese beiden Meditationen hier üben, hat jedoch auch noch eine zweite Bedeutung, man kann aus ihnen auch Einsichtspraktiken machen. In der metta bhavana ist das Ziel gleichstarkes metta für uns selbst, für den guten Freund oder die gute Freundin, für eine neutrale Person, für eine Person, mit der wir Schwierigkeiten haben, und letztendlich für alle Wesen zu empfinden. Dies dient dazu, unseren Egoismus zu bekämpfen, und damit die Mauern zwischen mir und meinem Nächsten, zwischen „Ich“ und „Ander“ einzureißen.

Und in den Vergegenwärtigungen des Atems kann uns bewusst werden, dass uns nichts gehört. Das Luftelement, das wir so nötig zum Atmen brauchen, gehört uns nicht, es muss von draußen kommen, und wir können es nicht festhalten. Das Erdelement, also das Stoffliche, das wir mit unserer Nahrung aufnehmen und in unseren Muskeln verbrennen, d. h. oxydieren und dann als CO2 ausscheiden, gehört uns ebenso wenig, da ist kein Atom in dir, das schon vor zehn Jahren in dir war, nur beständiges Kommen und Gehen. Das, was du für dich hältst, für deinen Körper, existiert so nicht, es ist nur ein Prozess aus Nicht-Ich-Elementen. Das Wasserelement, das du aufgenommen hast, weil es für dich lebenswichtig ist, atmest du mit jedem Atemhauch aus, auch hier gibst du beständig ab und nimmst ersatzweise beständig Nicht-Ich-Elemente auf. Und das Hitzeelement, das in dir ist, deine Körpertemperatur von 36o, die deutlich höher ist als die einer Leiche, geht mit jedem Atemzug weg, du gibst Wärme ab, die dir in Form von Brennstoff, also Nahrung wieder zugeführt werden muss.

Alle die genannten Prozesse sind verwoben: Nahrungsauf-nahme und CO2-Abgabe, Getränkeaufnahme und Ausatmen von Feuchtigkeit, Verbrennung der Nahrung und Abgabe von Wärme und CO2, Luftelement, Erdelement, Wasserelement, Hitzeelement, alle vier klassischen Elemente verknüpft im Atem, von dem jeder Atemzug einmalig ist, Kommen und Gehen, Nehmen und Geben - und dabei Verbindung mit allen anderen Wesen: die Luft die jetzt in deiner Lunge ist, war heute schon in jedem von uns anderen, sie war auch schon in Vögeln, Hunden, Katzen und Ratten Gelnhausens, und sie war in der Vergangenheit schon in deinen Eltern, in den Nazis, in Kaiser Barbarossa, Jesus, Buddha und den Dinosauriern – und natürlich immer wieder in Pflanzen, die freundlicherweise, das CO2 vom Kohlenstoff befreit haben und uns animalischen Wesen molekularen Sauerstoff zur Verfügung stellten – das was ich für mein „Ich“ halte ist nur ein Prozess, der aus lauter Nicht-Ich-Elementen besteht.

Zusammenfassend kann man also sagen: es gibt zwei Arten von Meditation. Die samatha-Meditation kann uns zu einem gesunden, glücklichen menschlichen Wesen machen, das durch regelmäßig richtig geübte Meditation Freude, Verzückung, Ruhe, Glückseligkeit und konzentrierte Sammlung erleben kann.

Das ist in Ordnung, auch wenn Kardinal Ratzinger es als „eine Art spirituellen Autoerotizismus“ bezeichnet. Wer darüber hinaus weiter machen möchte, den Pfad, den der Buddha lehrt, bis zum Ende, bis zu bodhi, bis zum Erwachen, bis zum Nirwana gehen möchte, ist herzlich eingeladen das zu machen. Du musst dich auch jetzt nicht entscheiden, ob du Buddhist/in werden möchtest oder „nur“ ein spiritueller Autoerotiker, wie es Ratzinger nennt. Der Gründer der buddhistischen Bewegung Triratna nennt das übrigens ein gesundes, glückliches menschliches Wesen, was irgendwie positiver klingt.

Du bist hier gern gesehen, egal wie weit du den Pfad beschreiten möchtest, das erste Wegstück bis samadhi, bis zu wirklicher, tiefer Meditation, ist eh´ bei beiden Zielen das Gleiche.


Zu Meditation am Obermarkt

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