Habe ich aufgehört Leben zu nehmen?
Vortrag von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt, Gelnhausen (2013)
Vortragsreihe „Das Gute Leben“, Teil III

zuletzt geändert  Oktober 2019

Teil 1 - Pānātipātā veramaṇī sikkhāpadaṃ samādiyāmi

So heißt es in den Zufluchten und Vorsätzen, die wir hier häufig rezitieren, es ist der erste Vorsatz, zu Deutsch: „Ich nehme mir vor aufzuhören Leben zu nehmen.“


Bereits vor zwei Wochen habe ich darauf hingewiesen, dass es im Buddhismus keine Gebote gibt, da es keinen Gebieter gibt. Daher heißt es nicht: „Du sollst nicht töten!“

Was es vielmehr gibt, sind Vorsätze. Und der oben zitierte Vorsatz ist der erste und wichtigste, es ist der Vorsatz, in dem es um Gewaltfreiheit geht. Das Töten ist die heftigste Form von Gewalt. Und wenn wir diesen Vorsatz fassen, dann ist das ein ungeheuer weites Übungsfeld, denn man kann einen solchen Vorsatz enger oder weiter fassen. Dazu werde ich heute einige Gedanken beisteuern.

Das christliche Tötungsverbot aus dem Dekalog, den Zehn Geboten, scheint absolut zu gelten. Wie wir wissen, erlauben jedoch christliche Organisationen – den Gebieter interpretierend – Ausnahmen. Es gilt nicht gegenüber Tieren, es gilt nicht im Krieg und auch die Todesstrafe wird von vielen christlichen Organisationen als legitim angesehen. 

Anders im Buddhismus. Hier gibt es nicht nur keinen Gebieter, es gibt auch keine Organisation, die sich ein Interpretationsmonopol anmaßen kann. Dieser erste Vorsatz ist – genau wie alle anderen auch – eben in erster Linie ein Vorsatz und kein Gebot. Er ist aber doch noch etwas mehr als ein Vorsatz, er ist sogar ein ganzes Übungsfeld. Das heißt wir können mit den ziemlich offensichtlichen Dingen anfangen und uns dann allmählich immer subtileren Aspekten dieses Vorsatzes widmen. Wir können uns entwickeln. Der Buddhismus ist letztlich nichts anderes als ein Angebot sich zu entwickeln, sich spirituell zu entwickeln, auf der Stufenleiter der spirituellen Evolution allmählich voranzuschreiten. Und dabei muss jeder einzelne seinen, jede einzelne ihren eigenen Weg gehen. 

Wenn ich über die ethischen Vorsätze spreche, werde ich allerdings häufig missverstanden. Nehmen wir den Titel dieses Vortrages, er lautet: „Habe ich aufgehört Leben zu nehmen?“ das frage ich mich in der Tat. Ich frage es laut und denke laut darüber nach. Wenn ich z. B. sage, dass ich Vegetarier bin, werde ich ganz häufig missverstanden. Meine Gesprächspartner beteuern dann in der Regel, dass sie selbst auch nur ganz wenig Fleisch essen. Oder sie versuchen sich mir gegenüber zu rechtfertigen. Dabei habe ich von ihnen gar nichts verlangt. Das einzige, was ich möchte, wenn ich über dieses Thema spreche, ist Anregungen zur Reflexion zu geben.

Ich spreche also hier nur über mich. Was ich tue, warum ich es tue und warum ich es für richtig halte. Ich sage niemandem, was er oder sie tun soll. Ich fände es allerdings gut, wenn andere Menschen darüber nachdenken und möglicherweise zu ähnlichen Überlegungen, ähnlichen Maßnahmen hinsichtlich der Umsetzung dieses Vorsatzes kommen.

Ursprünglich war ich, wie fast alle von uns, kein Vegetarier. Ich fand es vielmehr ganz normal Tiere zu essen. Meine Sozialisationsinstanzen, nämlich meine Eltern, mein Umfeld, die katholische Religion in der ich aufgezogen wurde, die Schule, alle hielten das für normal. Und ich auch.

Als ich ungefähr 20 Jahre alt war, also zu Beginn der siebziger Jahre, wurde ich durch eine Bürgerinitiative auf das Problem der Hühnerhaltung in Legebatterien aufmerksam. Das fand ich sehr schlimm. Noch immer war die Tötung von Tieren für den menschlichen Konsum für mich normal, aber das systematische Quälen von Tieren, nur um ein Ei etwas billiger produzieren zu können, schien mir eine Perversion des Denkens und des Handelns zu sein. Hier wurde das Leiden von unzähligen Wesen für einen winzigen finanziellen Vorteil in Kauf genommen.

Ich habe daraus zwei Konsequenzen gezogen: erstens habe ich keine Eier mehr gegessen, von denen ich vermuten konnte, dass sie aus der tierquälerischen Massentierhaltung kommen, zweitens habe ich das Problem in Gesprächen thematisiert, und zwar in der Hoffnung, mehr Menschen davon zu überzeugen, auf den Konsum solcher Eier zu verzichten und auch um dazu beizutragen, gesellschaftlichen Druck auszuüben, dass diese Praxis verboten wird.

Auf diesem Stand der Einübung des buddhistischen Vorsatzes, den ich damals übrigens noch gar nicht kannte, denn ich wusste schlicht nichts vom Buddhismus, blieb ich mehr als ein Jahrzehnt stehen.

Im Jahr 1983 hat mich eine junge Frau, die damals in der gleichen Umweltschutzorganisation wie ich engagiert war, nämlich bei ROBIN WOOD, auf die Probleme der Nutztierhaltung insgesamt aufmerksam gemacht, also darauf, wie tierquälerisch diese sei, wie viele Nahrungsmittel für die sog. Veredlung der Nahrung verwendet würden, also dass vier bis zwölf Kalorien pflanzliche Nahrung aufgewendet werden müssten, um nur eine einzige Kalorie tierische Nahrung zu erzeugen, was Ursache für die Hungernöte in der Welt sei, außerdem über die Trinkwasserbelastung durch Gülle, über die Gefahr der Überdüngung der Meere dadurch, dass diese Gülle über die Bäche und Flüsse bis in die Ozeane weitergeleitet wird, über das Waldsterben, das in einigen Ländern (z. B. in Holland) in erster Linie auf die Tierhaltung zurückzuführen ist, darauf wie viele menschliche Krankheiten auf die tierische Ernährung zurückzuführen sind und, und, und. 

Ich war damals Anfang 30 und Lehrer. Franziska, die mich darüber aufklärte, war damals gerade einmal 19 Jahre jung und Schülerin. So wurde die Schülerin zu meiner Lehrerin. Wir haben ein ganzes Wochenende miteinander diskutiert. Und ich nahm den Vorsatz an, kein Fleisch aus der tierquälerischen Massentierhaltung mehr zu essen. Dadurch ging mein Fleisch- und Wurstkonsum um etwa 85 % zurück. Ich aß – hin und wieder – weiterhin Wild, Schaf, Fisch und gelegentlich, ziemlich selten, holte ich auch etwas Fleisch oder Wurst bei einem Biobauern, bei dem ich wusste, wie diese Tiere gehalten wurden. Auch diese Phase hielt etwa zehn Jahre an.

Zu Beginn der neunziger Jahre wurde ich Buddhist. Ich übte die metta bhavana, metta, Wohlwollen, Freundlichkeit, Zuneigung, Empathie für alle fühlenden Wesen. In der gleichen Weise, wie ich leben und nicht getötet werden wollte, so geht es auch allen anderen fühlenden Wesen. Was lag da näher, als Vegetarier zu werden? Es war die völlig logische Konsequenz, wenn ich nicht einen geringen zusätzlichen Lustgewinn meinerseits vor das existentielle Recht anderer auf Leben setzen wollte. Wenn ich nicht die Übung von metta auf dem Kissen durch mein tägliches Handeln pervertieren wollte.

Es hat mich dann aber ziemlich betroffen gemacht als ich gesehen habe, wie viele andere Buddhisten damit umgehen. So war ich z. B. unmittelbar nachdem ich zum Buddhismus gekommen war, in Ladakkh, in Nordindien, einer mehrheitlich buddhistischen Region. Die Leute dort haben es sich einfach gemacht mit dem Vorsatz: „Ich nehme mir vor aufzuhören Leben zu nehmen“, sie haben nicht selbst geschlachtet, sondern haben das die moslemischen Metzger machen lassen. Somit würden sich die Moslems schlechtes Karma machen, und sie selbst wären fein heraus.

Das ist natürlich Selbstbetrug, denn Ursache dafür, dass diese Moslems so viele Tiere schlachteten, war natürlich die Nachfrage der Buddhisten. Und nicht anders ist es in der Marktwirtschaft immer: die Nachfrage bestimmt das Angebot. Je weniger Fleisch nachgefragt wird, desto weniger wird geschlachtet, desto weniger Tiere werden in schrecklichen Bedingungen gehalten.

Als ich dann im Jahr 1995 erstmals bei einer buddhistischen Feier war, in Langenselbold im Wat Puttabenjapon, habe ich festgestellt, dass die vielen Thai-Frauen, die mit ihren deutschen Ehemännern da waren, bergeweise Fleisch mitgebracht haben, tatsächlich waren unter anderem zwei riesige Platten mit Hunderten von Hähnchenbeinen da. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Die Hühnerhaltung war schließlich mein erster Schritt Richtung Vegetarismus zwanzig Jahre zuvor – und diese Leute wollten einfach nicht sehen, was sie da machen. Gleichwohl hatten sie vorher – sogar schön melodisch – rezitiert hatten: „Pānātipātā veramaṇī sikkhāpadaṃ samādiyāmi“. Das war in meinen Augen Verblendung par excellence. Da wusste ich, dass das nicht die buddhistische Sangha sein kann, die ich suchte.

Ich bin stattdessen zu einer kleinen Gruppe in Frankfurt zur Meditation gegangen. Dort brachte dann eine Frau eine riesige Packung Schokoküsse mit. Diese Süßigkeit besteht zum größten Teil aus Hühnereiweiß, und das wird von der Industrie scheinbar ökonomisch rational dort gekauft, wo die Eier am billigsten sind. Als ich davon nicht essen wollte und darauf hinwies, ich wolle nicht die tierquälerische Massentierhaltung unterstützen, wurde ich als Miesmacher bezeichnet. Dabei hatte ich niemandem Vorschriften gemacht, sondern nur, nachdem ich gefragt wurde, warum ich nicht davon esse, gesagt, warum ich nicht davon esse.

So ging meine Suche nach einer Sangha, wo die metta bhavana nicht nur auf dem Kissen, sondern auch in der Praxis geübt wird weiter. Anfang 1996 bin ich zum ersten Mal bei einer Veranstaltung der Buddhistischen Gemeinschaft Triratna gewesen, das war im Ruhrgebiet in Essen. Und siehe da: es gab ein rein vegetarisches Buffet. Nach diesen mehrfachen Enttäuschungen zuvor, war ich darüber richtig froh. Einer der Ordensmitglieder, Shantipada, den ich daraufhin ansprach, hat darauf hingewiesen, dass es im Triratna-Orden selbstverständlich sei, vegetarisch zu leben, als Konsequenz aus dem Vorsatz, kein Leben zu nehmen.

Und kurz darauf sprach ich auch mit einer jungen Ordensfrau, mit Jayachitta. Im Gespräch habe ich auch erwähnt, dass ich keine Eier esse, von denen ich nicht weiß, wie sie produziert werden. Jayachitta bestärkte mich darin und wies – wohl weil ich auch damals schon ziemlich rundlich war – darauf hin, es sei gut keine Eier und auch keine Schokolade zu essen. 


Auf letztere Idee war ich noch gar nicht gekommen und fragte sie daher, warum denn dieses. Und sie erläuterte mir, dass die meisten Rinder wegen der Milchhaltung in tierquälerischer Gefangenschaft gehalten würden, daher sei sie Veganerin. Bis dahin hatte ich das irgendwie für ungesund gehalten. Aber diese Frau sah nicht nur toll aus, sie war das blühende Leben – und sie war so unwahrscheinlich positiv. Sie war mir schon am Morgen aufgefallen wegen ihrer ungemein großen positiven Ausstrahlung und ihrer Heiterkeit. Keineswegs griesgrämig und verbiestert, wie ich mir solche „Asketen“ vorgestellt hatte.

Nach meiner Großmutter und der Schülerin Franziska, von der ich oben berichtet habe, war Jayachitta die dritte Frau in meinem Leben, die mich ethisch erfolgreich angestuppst hat. Ich habe daraufhin fünf Jahre konsequent vegan gelebt. Inzwischen erlaube ich mir, wenn ich unterwegs bin, zum Beispiel mit Freunden in eine Gaststätte gehe, auch etwas mit Käse zu essen, eine Pizza vielleicht, oder auch eben jetzt auf einer Wanderung in Bulgarien, denn gewöhnlich ist es in Restaurants kaum möglich, vegan zu essen. Hier zu Hause aber lebe ich konsequent vegan.

Ich weiß, dass das nicht hundertprozentig konsequent ist. Ich bin nicht perfekt. Aber ich beackere das Übungsfeld: Pānātipātā veramaṇī sikkhāpadaṃ samādiyāmi. Ich möchte damit – so gut mir das unter den gegebenen Umständen und im Rahmen meiner Unzulänglichkeiten derzeit machbar erscheint – „das Gute leben“.

Nicht weil es ein Gebot ist. Das ist es nicht. Auch nicht etwa nur weil der Buddha diesen Vorsatz empfohlen hat. Sondern weil ich einsehe, dass das für die Welt besser ist und weil es hilft, unnötiges Leid von fühlenden Wesen zu verhindern.

Ich möchte diesen Vortrag beenden, indem ich mein Lieblingsmantra rezitiere: Sabbe satta sukhi hontu
Mögen alle Wesen glücklich sein!

Zu Meditation am Obermarkt

Zurück zu den Artikeln und Vorträgen