Kisagotami
eine Geschichte aus dem Pali-Kanon, den ältesten buddh. Schriften
erzählt von Horst Gunkel
(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2015-01-28

Zur Zeit, da der Buddha in Nordindien lebte, gab es in einer Familie, die den gleichen Familiennamen wie der Buddha hatte – Gotama -, ein Mädchen, das spindeldürr war, daher nannten die Leute sie Kisagotami, „die Dürre der Gotamas“. Nun war damals "schlank" keineswegs das Schönheitsideal, denn schlanke Mädchen galten als krankheitsanfällig und als kaum in der Lage Kinder aufzuziehen, wenn sie einst verheiratet waren. Man kann sagen, dass das Wort „Kisagotami“ eher ein Schimpfwort als ein Spitzname war. Und so wurde das arme Mädchen häufig von anderen Kindern mit ihrem körperlichen Mangel aufgezogen.

Auch als das Mädchen in die Pubertät kam, änderte sich ihr Körperbau nicht wesentlich. Sie hatte kleine Brüste und schmale Hüften, also ein sehr enges Becken, das kaum als tauglich angesehen werden konnte, ein Kind zu gebären. Nach damaliger Ansicht war sie ganz einfach hässlich. So nimmt es nicht Wunder, dass kein junger Mann sich für sie zu interessieren begann und – was damals noch viel wichtiger war – die Eltern keines jungen Mannes hielten sie für heiratsfähig oder ehewürdig.

Kisagotami hatte inzwischen schon das zwanzigste Lebensjahr erreicht, war mithin ein spätes Mädchen. Sie war auf dem besten Wege, eine alte Jungfer zu werden. Ihre Eltern sahen mit Unbehagen, dass diese Tochter ihnen wohl weiter auf der Tasche liegen würde, anstelle einen angesehenen Kaufmann oder Handwerker zu heiraten, der später sie, die altgewordenen Eltern, versorgen konnte. Allerdings hatten Kisagotamis Eltern noch mehrere andere Kinder. Aber während die jüngeren Schwestern schon jungen Männern aus gutem Hause versprochen waren, hielt niemand „die Dürre der Gotamas“ für eine wirkliche Frau. Kisagotami spürte die missbilligenden Blicke der Eltern, hörte das kichernde Getuschel ihrer kleinen Schwestern, sah wie ihre Brüder mit schönen rundlichen Jungfrauen vermählt wurden - und natürlich sehnte sie sich selbst auch nach einem lieben, zärtlichen Mann und nach Mutterfreuden. Immer trauriger und verbitterter wurde Kisagotami. Sie erfuhr kaum Mitleid, wusste doch jeder Hindu, dass sie sich in einem vergangenen Leben sehr schlechtes Karma gemacht haben musste und daher jetzt ihr Leben lang dafür zu büßen hatte.

Um so verwunderlicher war es, dass, als sie bereits Mitte zwanzig war, ein angesehener Kaufmann, ein Witwer, um ihre Hand anhielt. Er war bereits vierzig Jahre alt und hatte schon große Kinder, aber er wollte noch einmal heiraten. Zwar war Kisagotami alles andere als eine Schönheit, aber sie war verglichen mit ihm jung und sie war ein rechtschaffenes, unbescholtenes Mädchen aus gutem Hause. So schien sich alles zum Besten zu wenden. Ihre Eltern waren froh, das späte Mädchen doch noch unter die Haube gebracht zu haben, ihren kleinen Schwestern hatte es erst einmal die Sprache verschlagen, und der angesehene Kaufmann versprach Reputation für Kisagotami.

Aber schon bei der Hochzeitsfeier verspürte Kisagotami wieder diese abschätzenden Blicke der Hochzeitsgäste, wenn sie die Braut musterten. Sie fühlte ihre Gedanken, als sie ihre Blicke auf ihren kleinen Brüsten spürte: „Die hat doch nie genug Milch, um Kinder satt zu kriegen.“ Und wenn die Blicke der Gäste dann an ihrem Körper herunterwanderten und auf den Hüften verweilten, hörte sie sie förmlich denken: „Beim dem engen Becken wird es nie zu einer natürlichen Geburt kommen können, sicher werden Mutter und Kind die Niederkunft nicht überleben“, und natürlich hatte auch sie Angst vor dieser sehr realen Zukunftsaussicht.

Und auch diejenigen Hochzeitsgäste, die ihre Augen nur kurz über die Erscheinung der Braut wandern ließen, dachten: „So dürr wie die ist, wird die nächste Grippeepidemie sie hinwegraffen. Gut dass sie dann keine Kinder hat, die wieder ohne Mutter dastehen.“ All´ diese Gedanken der Gäste konnte Kisagotami erkennen, und sie sah darin nichts anderes als ihre eigenen Zukunftsängste bestätigt. So kam es, dass die späte Hochzeit dennoch für Kisagotami kein besonders freudvolles Ereignis war. Sie stand die Feierlichkeiten tapfer durch und sagte sich, sie würde ihre neue Familie durch besondere Hingabe erfreuen.

Leider zeigte sich bald, dass auch hier die Dinge nicht gut für Kisagotami liefen, denn die Töchter ihres Mannes aus erster Ehe standen schon kurz vor dem heiratsfähigen Alter und man konnte ihre jungen kräftigen und angenehm rundlichen Körper erblühen sehen, jedes der Mädels viel schöner als ihre Stiefmutter. Und es wiederholte sich, was sie schon in ihrer früheren Familie erlebt hatte: das kichernde Gelächter, wenn die Mädchen sie ansahen und dann miteinander tuschelten. Doch hier war es noch schlimmer. Hatten ihre eigenen Schwestern sich nur hinter ihrem Rücken über sie belustigt, so hatten diese Mädchen überhaupt keinen Respekt und sagten ihrer ungeliebten Stiefmutter offen ihre Meinung ins Gesicht. Häufig zog sich Kisagotami in eine Ecke oder in den Wald zurück um bitterlich zu weinen. Sie flehte die Götter an, sie zu erlösen, sie hätte die Sünden eines vergangenen Lebens lang genug abgebüßt. Sie wünschte sich nur eines dringend: eine Schwangerschaft, denn entweder würde diese ihrer miserablen Existenz eine Ende setzen, oder, was unwahrscheinlicher wäre, würde sie durch ein Kind Respekt von anderen ebenso bekommen, wie ein kleines Wesen, das seine Mutter – sie, die Kisagotami! – liebt.

Wenn sie ganz vermessen war, wünschte sie sich sogar einen Knaben, denn ihr Mann hatte aus erster Ehe nur Mädchen, also keinen Stammhalter. Die Geburt eines Stammhalters aber würde alle die verstummen lassen, die sich bislang über sie belustigten. Leider schienen sich die Götter jedoch weder um ihre Gebete noch um die Opfergaben, die sie ihnen darbrachte, zu scheren. So wurde das Leben Kisagotamis immer trauriger, manchmal dachte sie kurz an Selbstmord, aber nur ganz kurz, denn sie wusste, dass dies nur neues schlechtes Karma bedeuten würde; vielleicht war gerade ein Suizid in einem früheren Leben der Grund, dass sie als Frau in dieses Leben geboren war, schlimmer, als abgrundhässliche Frau!

Die Jahre vergingen und Kisagotami war noch immer nicht schwanger. Ihr Leben war nicht leichter geworden und auch ihr Ehemann war längst nicht mehr so zuversichtlich. Mitunter spürte sie seinen missmutigen Blick auf ihr, und sie erriet seine Gedanken: „Da habe ich dieses hässliche Geschöpf geheiratet, weil sie jung war und mir einen Stammhalter gebären würde, aber sie scheint obendrein noch unfruchtbar zu sein.“ Aber da er dennoch ein gutes Herz hatte, verstieß ihr Ehemann sie nicht. Vorerst nicht, wie sich Kisagotami realistischerweise sagte.

Eines Tages jedoch veränderte sich etwas im Leben der Kisagotami. Erst hatte sie – halb hoffnungsvoll, halb erschrocken – festgestellt, dass ihre Regel ausgeblieben war, dann stellte sie fest, dass ihre bis dahin so winzigen Brüste voller wurden, außerdem entwickelte sie einen ungewöhnlichen Appetit. Bald konnte es keinen Zweifel mehr geben: sie, die Dürre aus dem Hause der Gotamas, war schwanger! Die vorwurfsvollen Blicke ihres Gatten waren ebenso verschwunden, wie die hämischen Blicke der Nachbarinnen. Es bemächtigte sich ihrer ein eigentümliches Gefühl: auf der einen Seite eine Genugtuung über die plötzliche Anerkennung, auf der anderen Seite Angst vor der bevorstehenden Geburt, denn zwar waren ihre Brüste deutlich voller geworden, ihr Bauch angenehm rundlich, aber ihr Becken war noch immer knabenhaft schmal.

Ihre Sorgen erwiesen sich als unbegründet: die Geburt vollzog sich völlig normal und mehr noch: sie gebar einen kräftigen Knaben, einen Stammhalter! Plötzlich war alles anders: sie war nicht mehr das hässlichen Entlein, sondern die Frau, die den Fortbestand der Kaufmannsfamilie sicherte. Nicht nur bei den Nachbarinnen war sie jetzt völlig akzeptiert, auch die Töchter aus der ersten Ehe ihres Mannes mussten sich den Gepflogenheiten anpassen: plötzlich war Kisagotami die Nummer zwei im Hause, gleich nach ihrem Ehemann, und wenn dieser in Geschäften unterwegs war, konnte sie den anderen im Hause Anweisungen geben: aus dem Aschenpuddel war eine Prinzessin geworden.

Das Glück hielt ein halbes Jahr. Dann wurde das Kind krank, sehr krank. Und da war sie wieder, die Sorge. Zufällig hörte sie Wortfetzen des Gespräches zweier Nachbarinnen: „war ja zu erwarten ... bei dem Körper ... nicht genug Nährstoffe in der Milch ... musste ja so kommen ... keine entrinnt ihrem Schicksal .. das Karma … unabänderlich für das ganze Leben ... sicher nur noch ein paar Tage.“

Kisagotami war verzweifelt und sie tat, was sie konnte für ihr Baby, sie ging zum Arzt und ließ sich Medizin für das Kind verabreichen, sie ging zur Kräuterfrau, sie ging zu den Brahmanen, damit diese die heiligen Rituale der Hindus vornahmen, um die Götter zu besänftigen. Alles vergebens. Am sechsten Tage der Krankheit verstarb das Kind. Aber Kisagotami verdrängte das Ereignis, sie konnte, wollte, durfte nicht wahrnehmen, was geschehen war, und so rannte sie mit dem Bündel, das die Leiche ihres Babys enthielt, von Haus zu Haus, um die Menschen zu fragen, ob sie nicht eine Medizin für ihr krankes Kind hätte.

Die Menschen reagierten unterschiedlich, manche waren hilflos ob der abstrusen Situation und schlugen ihr die Tür vor der Nase zu oder drehten sich wortlos um, andere bedauerten nicht helfen zu können oder schickten sie zu einem anderen Haus, nur möglichst weit weg, manche sprachen es auch offen aus: „Die ist ja verrückt, die spinnt doch, das musste ja so kommen. Die verrückte Dürre aus dem Haus der Gotamas.“

Immer verzweifelter rannte Kisagotami von Haus zu Haus und fand schließlich eine Frau, die Mitleid mit ihr hatte. Diese sagte: „Ich glaube nicht, dass dir jemand helfen kann. Aber ich weiß, dass vor dem Nachbardorf der Buddha mit seinen Mönchen ist. Wenn dir einer helfen kann, dann nur der Buddha.“ „Danke!“ rief Kisagotami und rannte so schnell sie konnte in die angegebene Richtung.

Schon von weitem erkannte sie die Schar der Mönche, die gerade dabei waren, ihre Almosenspeise zu verzehren. „Wer von euch ist der Buddha? Mein Kind ist krank und braucht seine Hilfe!“ fragte Kisagotami, als sie bei den ersten Mönchen ankam. Ein junger Mönch wollte sich das Kind ansehen – er erschrak als er die weit offenen Augen des Kindes sah, an dessen Kopf sich bereits die Fliegen tummelten, die auch in den kleinen Mund liefen, und er musste sich abwenden wegen des strengen süßlichen Geruches, der von der kleinen Leiche ausging. Ein anderer Mönch, bleich geworden, zeigte wortlos auf den Buddha.

Dieser hatte aus der Ferne die Szene beobachtet, er sah den wirren Blick der dünnen Frau, das leblose Bündel und dann das hoffnungsfrohe Aufflackern in ihren Augen, als sie auf ihn zuging. Er erfasste sofort die Lage.  „Bist du der Buddha? Kannst du meinem Baby helfen?“

„Ich kann dir helfen“, antwortete der Buddha seelenruhig – zum großen Erstaunen aller Umstehenden. „Wir brauchen eine wundertätige Medizin, die ich zubereiten werde. Ich habe fast alle Zutaten da, du musst mir nur noch eines besorgen, ein Senfkorn, Gotami“, sagte der Buddha. Die Frau konnte ihr Glück kaum fassen: nur noch ein Senfkorn trennte sie von der Lösung aller Probleme.

Senfkörner, so muss man wissen, waren damals in Indien eines der Standardgewürze, die in jedem Haushalt zu finden waren. Kisagotami wollte sofort loslaufen: „Ich hole es“, rief sie freudig.

„Ach ja“, sagte der Buddha, „aber achte darauf, dass es aus einem Haus ist, in dem noch niemand gestorben ist, sonst funktioniert es nicht.“ „Alles klar“, rief Kisagotami, als sie mit dem leblosen Bündel im Arm losrannte, „ein Senfkorn aus einem Haus, in dem noch niemand gestorben ist.“

Hurtig war sie im Dorf und klopfte an der ersten Tür. „Entschuldigen Sie, liebe Frau, ich brauche ein Senfkorn, könnten sie mir wohl eines geben, es ist für eine Medizin.“

„Sicher“, sagte die Hausfrau, „sie können so viel Senfsaat haben, wie sie wollen.“

„Danke, ein Senfkorn reicht mir.“

„Hier, nehmen Sie zur Sicherheit fünf Stück.“

„Danke liebe Frau“, sagte Kisagotami freudig und wollte sich schon zum Gehen wenden, da fiel ihr noch die Nebenbedingung ein, die der Buddha genannt hatte:

„Ach, gute Frau, sagt mir, ist in diesem Hause wohl schon jemand gestorben.“

„Ja, mein Großvater, vor einem halben Jahr, erinnern sie mich nur nicht daran.“

Wortlos wandte sich Kisagotami um und ging zum nächsten Haus. Auch hier gab man ihr gerne Senfsaat, allerdings hatte die Frau schon drei ihrer eigenen Kinder verloren, sagte sie, und bittere Tränen rannen über ihr Gesicht.

Kisagotami ging zitternd zum nächsten Haus: „Ist hier schon jemand gestorben?“

„Welche Frage, gute Frau, der Toten sind es mehr als der Lebenden.“

So ging Kisagotami von Haus zu Haus. Senfsaat zu bekommen war kein Problem. Doch die Realität des Todes war überall zu Hause.

Am Abend saßen der Buddha und seine Mönche noch immer vor dem Ort. Der Buddha hatte gerade seine Meditation beendet und die Mönche erwarteten nun eine Lehrrede von ihm. Da kam Kisagotami. Diesmal rannte sie nicht. Sie ging langsamen, gemessenen Schrittes. Ihre Augen waren verweint, aber ihr Blick war nicht mehr wirr wie noch am Mittag. Sie trug das Bündel nicht mehr. Der Buddha sah sie an, wartete, dass sie sprach. „Ich hab´ es begraben“, sagte sie, und ergänzte dann: „Das Senfkorn hat gewirkt.“

Dann herrschte Schweigen.

Jeder wusste, dass die arme Frau die Hölle erwartete, wenn sie zurück ging zu ihrer Familie, sie war jetzt nicht nur die hässliche, sondern auch die verrückte Gotami. Am besten wusste sie das natürlich selbst. Der Buddha sah die Frau ruhig an, er wartete. Und dann sagte sie selbst den erlösenden Satz: „Erhabener, du hast mich durch ein Senfkorn gelehrt, bitte lehre mich weiter. Ich bitte um die Aufnahme in deinen Orden als Nonne.“

Sie wurde sofort ordiniert und lebte danach mit andern Nonnen in einem Wald. Einige Jahre später erreichte sie die vollkommene Erleuchtung.

Mit einem Lächeln dachte die heilige Gotami an die absurde Situation zurück, als sie dem Buddha das erste Mal begegnete. „Bist du der Buddha? Kannst du meinem Baby helfen?“ hatte sie den heiligen Mann damals gefragt – und was hatte er damals geantwortet?

„Ich kann dir helfen“, antwortete der Buddha damals ruhig – wie recht er doch hatte.



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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.