Die Heimreise
eine Geschichte aus dem Mahayana-Buddhismus
erzählt von Horst Gunkel in Anlehung an Sangharakshita
 letzte Änderungen 2015-02-04


Vor langer, langer Zeit lebte in einem fernen Land ein Vater mit seinem Sohn. Der Sohn verließ schon in junge Jahren sein Elternhaus, um in die Welt hinauszuziehen und sein Glück zu machen. Er ging in ein anderes Land und lebte dort für sehr lange Zeit, Jahrzehnte lang. Doch er hatte nicht viel Glück: er war entsetzlich arm, die ganze lange Zeit lang. Er zog umher und verdingte sich als Tagelöner, arbeitete einmal hier und einmal dort und lebte von der Hand in den Mund. Er besaß nichts als die Kleider, die er auf dem Leib trug.

Sein Vater hingegen hatte in der Zwischenzeit ein völlig anderes Leben geführt. Ihm war das Glück hold, er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, betätigte sich im Groß- und Außenhandel und bei Geldgeschäften, und so war er einer der reichsten Männer seiner Zeit geworden. Während dieser internationalen Tätigkeit hatte er sich in einem anderen Land niedergelassen, wo ihm mehrere Handelshäuser gehörten. Er hatte große Reichtümer angehäuft: Gold, Silber, Juwelen, Grundbesitz und auch jede Menge Getreide in großen Silos. Viele Menschen arbeiteten für ihn, Arbeiter, Angestellte, Handwerker, er hatte zahlreiche Pferde und prunkvolle Kutschen. Auf seinen Landgütern hielten seine Untergebenen in seinem Auftrag Kühe, Schweine und Schafe, ja er hatte sogar Elefanten. Wenn man in Asien Elefanten besitzt, gehört man wirklich zur Oberschicht. Und natürlich hatte er viele Geschäftspartner und zahlreiche Subunternehmer. Viele Menschen hielten sich in seiner Nähe auf, um von ihm Aufträge zu bekommen. Sein geschäftlicher Einfluss - sei es im Handel, in Bankgeschäften oder in der Landwirtschaft - ging über die Staatsgrenzen hinaus, er lebte das Leben eines internationalen Finanzriesen.

Doch obwohl er so wohlhabend war, war er nicht restlos zufrieden, denn all die Jahre vermisste er seinen geliebten Sohn sehnlichst. Er hatte dabei nie die Hoffnung aufgegeben, dass die lange Trennung irgendwann zu Ende sei, denn er wünschte sich, seinem einzigen Sohn seine Geschäfte zu übergeben. Er merkte, dass er alterte, und am Ende würde keiner da sein, der ihn beerben könnte.

Während dieser Zeit zog der Sohn umher, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, bis er eines Tages zufällig in den Ort kam, in dem sein Vater lebte, aber das wusste er natürlich nicht. Er strich durch die Straßen und suchte nach Gelegenheitsarbeiten, denn er hatte Hunger. So kam er an der Villa seines Vaters vorbei, einem riesigen Haus mit sehr vielen sehr geschäftigen Menschen. Am Eingang saß der Patron, dem eine hübsche junge Frau mit einem Fächer Frischluft zufächelte, eine andere hielt einen Sonnenschirm über seinen Kopf. Er saß auf einem prächtigen Thron und selbst die Fußbank war geschnitzt und mit Gold und Edelsteinen verziert. Einige Menschen kamen, um Wechsel zu präsentieren, andere hatten Bündel von Geldscheinen dabei, um Rechnungen zu begleichen, manche trugen Geschenke, um in die Gunst des reichen Mannes zu kommen - man könnte es auch Bestechungsgelder nennen. Man konnten förmlich die Macht spüren, die von diesem Mann ausging.

Der arme Tagelöhner war dadurch sehr verängstigt, hatte er doch in der Vergangenheit nicht gerade die besten Erfahrungen mit den Reichen gemacht: "Ich sollte hier verschwinden," sagte er sich, "ich werde sicher er in den Armenvierteln eine Arbeit finden, hier besteht er die Gefahr, dass man mich festnimmt und zum Sklaven macht." Und so eilte er von hinnen, nicht wissend, dass jener reiche Mann kein anderer war als sein eigener leiblicher Vater.

Dieser aber hatte den elenden armen Mann bereits erspäht und wusste sofort, dass dieser sein eigener Sohn war. Zum ersten Mal nach all diesen Jahren sah er seinen Sohn wieder. Jetzt würde es ihm möglich sein, dass der sein Erbe antreten könne, und er würde in Ruhe sterben können. Er wies einige seiner Diener an, dem armen Kerl nachzulaufen und ihn unter allen Umständen zurückzubringen, allerdings ohne Gewalt anzuwenden.

Sie brachten die elende Gestalt auch wirklich zurück, doch der arme Mann war jetzt noch verängstigter als vorher. "Sie haben mich eingefangen, sicher soll ich eingesperrt werden, wenn nicht noch Ärgeres," denn er fürchtete um seinen Kopf. Und vor lauter Angst wurde er ohnmächtig.

Sein Vater war darüber höchst überrascht und betrachtete den zu seinen Füßen liegenden Elenden. Er begann zu verstehen, was die Jahre in seinem Sohn angerichtet hatten und erkannte, die psychische Situation des Armen. Der liebende Vater dachte bei sich: "Wie elend er auch immer erscheint, dies ist mein Fleisch und Blut, es ist mein Sohn, er ist tief gesunken, ich aber muss ihn wieder aufbauen." Und er sann darüber nach, wie er seinem Sohn helfen könne. Nach Lage der Dinge, war es nicht angeraten, seine Identität zu lüften. Also beauftragte er einen seiner Diener, dem jungen Mann zu sagen, er könne gehen, wohin er wolle, sobald er wieder erwacht sei. Als der arme Mann das hörte, konnte er sein Glück kaum fassen und frohen Herzens rannte er weg, um in den Slums nach Arbeit zu suchen.

Zwei Detektive seines Vaters verfolgten den armen Mann jedoch unauffällig in schäbiger Kleidung. Sie sprachen ihn an und boten ihm eine Arbeit an, wie der reiche Mann es angeordnet hatte. Unweit der Villa hatten sich nämlich auf einer Hochdeponie im Laufe der Zeit allerlei Abfälle angesammelt, ein riesiger Haufen Dreck. Und der Lohn, der ihm geboten wurde, war doppelt so hoch wie üblich. Natürlich akzeptierte der arme Mann dieses ausgezeichnete Angebot, er ging mit den Detektiven an seinen neuen Arbeitsplatz und begann sofort mit der Arbeit. Und Tag um Tag war der junge Mann jetzt damit beschäftigt in Körben den Dreck zu einem entfernten Platz zu bringen. Man hatte ihm erlaubt, eine bescheidene Strohhütte direkt neben seinem Arbeitsplatz zu bauen, und so konnte der reiche Mann aus dem Fenster seinen Sohn bei der Arbeit sehen. Es schnürte ihm das Herz ein, wenn er seinen Sohn die Knochenarbeit machen und in seine erbärmlich Hütte kriechen sah, während er selbst in seiner Luxusvilla lebte.

Als der arme Mann schon geraume Zeit mit der Arbeit zugange war, zog sich der Vater die alte Arbeitskleidung eines seiner Arbeiter an, nahm einen Korb in die Hand und begab sich zu seinem Sohn, um so unerkannt mit ihm ins Gespräch zu kommen. "Geh auf keine Fall hier fort, um woanders Arbeit zu suchen," sagte er ihm, "ich habe hier gute Beziehungen, ich kann dafür sorgen, dass du anständig bezahlt wirst und wenn du etwas brauchst, eine Matratze, eine Topf, Getreide oder was auch immer, sag mir Bescheid, ich kann das organisieren. Ich habe auch einen alten Mantel übrig, den kannst du gerne haben. Du bist ein guter Arbeiter, solche Leute brauchen wir hier und es soll dein Schden nicht sein. Wir hatten schon manchen Gauner hier, der uns ausgenutzt hat, deshalb sind wir froh, wenn ein ehrlicher, rechtschaffener Mann hier arbeitet, und der soll auch guten Lohn für gute Arbeit bekommen. Weist du, ich bin schon alt und habe keine Kinder mehr, sieh mich einfach wie einen Vater an und ich werde dich wie meinen eigenen Sohn behandeln."

Für einige Jahre war der arme Mann nun damit beschäftigt, den Unrat abzutragen. Er wohnte weiter in seiner Strohhütte, aber er gewöhnte sich daran, in der Villa ein- und auszugehen. Natürlich wusste der arme Mann inzwischen, dass sein Gönner kein anderer war als der Patron selber, aber es störte ihn jetzt nicht mehr. Der alte Mann wurde allerdings krank und so rief er den armen Mann zu sich und sagte: "Es gibt hier viele, denen ich nicht trauen kann. Zu dir aber habe ich vertrauen, deshalb bitte ich dich, meine laufenden Geschäfte zu erledigen, so lange ich krank bin. Du wirst alles so erledigen, dass ich damit zufrieden sein kann."

Von diesem Tag an war der arme Mann der Verwalter des Reichen, er kümmerte sich um alle Angelegenheiten und erledigte alle Geldgeschäfte treuhänderisch. Er arbeitete jetzt in der Villa, doch er schlief weiter in seiner ärmlichen Hütte. Er war faktisch ein erfolgreicher Geschäftsmann, hielt sich jedoch für arm, denn er wusste, dass das Geld, das er da verwaltete, nicht seines war, sondern das seines Herrn.

Mit der Zeit änderte sich der arme Mann. Während dieser ganzen Zeit beobachtet sein Vater den Wandel mit Wohlgefallen. Er bemerkte, dass sich sein Sohn daran gewöhnte, mit den Reichtümern umzugehen, und dass er sich schämte in der Vergangenheit so schäbig gelebt zu haben. Der Vater konnte förmlich spüren, wie in dem Sohn der Wunsch Gestalt annahm, selbst reich zu sein. Inzwischen war der Vater wirklich schon sehr alt und auch sehr krank geworden, und er bemerkte, dass der Tod nicht mehr weit war.

Da ließ der alte Vater noch einmal alle wichtigen Leute der Stadt zu sich kommen, die Gesandten des Königs, die Kaufleute, alle seine Freunde und Bekannten, seine entfernten Verwandten, aber auch einfache Leute aus der Stadt und dem Umland. Nachdem alle versammelt waren, stellte er ihnen seinen Sohn vor und erzählte ihnen die ganze Geschichte. Am Ende seines Vortrags, der nicht wenige der Anwesenden zu Tränen gerührt hatte, übertrug er alle seine Reichtümer an seinen Sohn. Dieser konnte sein Glück kaum fassen.



Kurzinterpretation von Sangharakshita:
  • Materieller Reichtum steht in dieser Geschichte für spiritueller Reichtum.
  • Der Sohn ist das eigene (kleine) Selbst.
  • Der Haufen Dreck symbolisiert unser negatives Karma.
  • Der Vater steht für das höhere (große) Selbst, das keimhaft in uns vorhanden ist, gewissermaßen die Buddhanatur.
  • Erst wenn unser kleines Selbst reif genug ist, wird es wie das große Selbst, es ist reif und erleuchtet, die Dualität aus kleinem und großem Selbst, aus Samsara und Nirvana, aus unserer Person und der uns inhärenten Buddhanatur verschwindet.
  • Am Ende der Geschichte sind Vater und Sohn eins. Der Sohn ist zuhause angekommen, die Heimreise ist beendet. Nichts ist mehr zu tun, Nirvana ist erreicht.


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    Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.