Lebensrad und Spiralpfad

eine Geschichte aus dem Pali-Kanon, den ältesten buddhistischen Schriften
neu erzählt von Horst Gunkel
(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2015-01-29


Dhammadinna war die Ehefrau von Visakha, einem reichen Kaufmann aus Rajagrha, der Hauptstadt von Maghada. Visakha war sogar mit dem König von Maghada, Bimbisara befreundet.

Als der Buddha wieder einmal im Bambushain von Rajagrha weilte, ging Visakha dorthin, um einer Lehrrede des Erleuchteten zu lauschen. Visakha war nicht nur ungeheuer beeindruckt von diesem Vortrag, er wurde vielmehr völlig aus seiner bisherigen Bahn geworfen. Am Ende der Lehrrede hatte Visakha die dritte Stufe der Heiligkeit erreicht, er war zum Nichtwiederkehrer geworden.

Visakha berichtete seiner Frau von der Unerhörtheit seines Erlebnisses und auch Dhammadinna war beeindruckt. Sie entschloss sich, dem weltlichen Leben zu entsagen und nach Erleuchtung zu streben. Visakha respektierte den Entschluss seiner Frau. Er ging zu König Bimbisara, um ihn von der Entscheidung Dhammadinnas in Kenntrnis zu setzen, und dieser war so erfreut über diese Entwicklung, dass er einen goldenen Pavillon aufbauen ließ, in dem die buddhistischen Nonnen Dhammadinna ordinierten. Der Buddha war selbstverständlich nicht zugegen, denn der Nonnenorden regelte alle seine Geschäfte in völliger Unabhängigkeit von den Mönchen und auch vom Buddha. Dann zog die Frischordinierte mit dem Nonnenorden weiter. Dhammadinna praktizierte eifrig und erlangte schon bald die Arahatschaft, die vierte und höchste Stufe der Heiligkeit.

Einige Zeit später kehrte Dhammadinna in den Bambushain zurück, denn dort weilte der Buddha, dessen Lehrreden Dhammadinna lauschen wollte. Visakha war natürlich gespannt, Dhammadinna wiederzusehen und war interessiert daran, ihre spirituellen Fortschritte zu sehen. Eigentlich glaubte Visakha nicht, dass seine Frau besonders weit gekommen war. In Wirklichkeit wollte er nur hören, ob sie irgend etwas begriffen hatte. Aber schon nach wenigen Sätze wurde ihm klar, dass das, was sie sagte, tiefgründig war und dass sie – eine Frau! – dabei war, ihn zu belehren. Das war im damaligen Indien völlig ungewöhnlich, aber Dhammadinna war durch ihre Zeit im Nonnenorden nicht nur zur vollen Erleuchtung gekommen, sie war auch selbstbewusst genug, es sich wie selbstverständlich herauszunehmen, auch Männer zu belehren, wenn diese ihr Fragen stellten.

So stellte Visakha ihr tiefgründige Fragen, zum Beispiel: „Was, meine liebe Dhammadinna, ist wohl die Natur des Selbst?“ Und dann lehnte er sich zurück, um zu hören, ob sie denn etwas von der Lehre begriffen habe.

„Das Selbst, werter Visakha, besteht aus fünf Konglomeraten, den skandhas, und dass es entsteht kommt durch unser Verlangen, also vergeht es, wenn unser Verlangen schwindet. Nur so kann man zur Selbstlosigkeit kommen, zu anatta, was die unabdingbare Voraussetzung zur Erleuchtung ist.“
Dann erläuterte Dhammadinna ihrem Ex-Mann den Edlen Achtfachen Pfad und schließlich kam sie auf zwei unterschiedliche Arten von Bedingtheit zu sprechen:
„Nun ist Bedingtheit nicht immer von gleicher Art,werter Visakha. Es gibt vielmehr zwei Grundformen der Bedingtheit, die im Universum wie im menschlichen Leben wirken. Die erste können wir als die „kreisförmig verlaufende" oder „reaktive" Art der Bedingtheit bezeichnen. Die zweite ist gewissermaßen aufwärtsgerichtet, weiterführend, fortschreitend. Im Fall der kreisförmigen Form von Bedingtheit läuft ein Prozess nach dem Schema Aktion-Reaktion zwischen Gegensatzpaaren ab: Freud wechselt mit Leid, Glück mit Unglück, Verlust mit Gewinn und - im größeren Zusammenhang einer ganzen Reihe von Leben - Geburt mit Tod. In diesem Zusammenhang ist auch die Lehre von der Wiedergeburt zu sehen: Geisteszustände vergehen nicht dauerhaft, sondern kehren wieder, man sagt sie werden wieder-geboren.

Demgegenüber zeichnet sich die aufwärtsgerichtete Art der Bedingtheit durch eine allmähliche Entwicklung aus, wie zwischen Faktoren, die einander fortschreitend steigern. Hier verstärkt der folgende Faktor die Wirkung des vorhergehenden, statt ihm entgegenzuwirken oder ihn aufzuheben. In Abhängigkeit von Freude (pamojja) entsteht beispielsweise nicht Leid, sondern Extase (piti). In Abhängigkeit von solcher Extase entsteht nicht Unglück, sondern Glückseligkeit (sukha). In Abhängigkeit von sukha entsteht samadhi - tiefe Meditation, die letztlich zur Einsicht führt.
Da gibt es mit anderen Worten eine samsarische, zyklische, reaktive Tendenz innerhalb der konditionierten Existenz, in der die einzelnen Geisteshaltungen sich mit ihrem Gegenteil abwechseln und andererseits gibt es da eine nirvanische, kreative und aufwärtsgerichtete Tendenz, in der sich die positiven Geisteszustände gegenseitig verstärken. Dies auf der Basis von sraddha, von Zufluchtnahme zum Buddha, zu seiner Lehre und zur Gemeinschaft der Heiligen zu entwickeln, ist die Aufgabe des spirituellen Lebens. So erreicht man letztendlich Nirvana.“

„Und wohin“, fragte Visakha weiter, „führt dann Nirvana?“

„Damit gehst du einen Schritt zu weit, mein lieber Visahka. Du übersiehst, dass es eine Grenze für solcherlei Fragen gibt. Der Kulminationspunkt des spirituellen Lebens ist Nirvana – das ist das Ende.“ Und als sie seinen ungläubigen Blick sah, ergänzte Dhammadinna: „Geh´ hin zum Buddha, er ist in der Stadt, frage ihn und merke dir gut, was er dir sagt.“

In der Tat ging Visakha zum Buddha, denn neben der letzten Aussage verwunderte ihn insbesondere die Darstellung des zyklischen Pfades und des Spiralpfades. Er hatte schon viel vom Dharma gehört, jedoch diese Darstellung war ihm – wie den meisten Buddhisten bis zum heutihen Tag – noch nicht zu Ohren gekommen. Und er fragte sich besorgt, ob das wirklich die Lehre des Buddha war, oder vielleicht etwas, was sich diese Nonnen ausgsponnen hatten! Also begab sich Visakha zum Buddha.

„Erhabener, ich habe lange eure Lehre studiert. Heute habe ich mit einer Nonne gesprochen, mit Dhammadinna, die im früheren Leben meine Frau war. Sie hat mir eine sehr eigentümliche Auslegung des Dhamma gegeben.“

„So, Visahka, du hast mit Dhammadinna gesprochen, das ist eine außergewöhnlich kluge Nonne, was hat sie euch denn gesagt?“

Und dann wiederholte Visakha die gesamte Darstellung Dhammadinnas, insbesondere die Darstellung des zyklischen Pfades, also des Lebensrades, einerseits und des merkwürdigen aufwärtsgerichteten Pfades, von dem Dhammadinna gesprochen hatte, andererseits. Und Visakha endete mit den Worten: „Genau so hat Dhammadinna es geschildert, Erhabener, wie beurteilt ihr diesen Sachverhalt.“

„Mein lieber Visakha, Dhammadinna ist eine ganz außerordentliche Bikkhuni. Genau so wie Dhammadinna es euch erläutert, mit genau den selben Worten hätte ich es euch erläutert. Dhammadinna verkündet in der Tat Buddhavacana, das heißt, ihre Worte sind von der Weisheit eines Buddha. Sie ist eine Erleuchtete - und ist darüber hinaus nicht nur mit einem scharfen Verstand, sondern auch mit einer bewundernswerten Lehrfähigkeit begabt."

Soweit der Kommentar des Buddha. Und wenn denjenigen unter euch, die schon länger zu Meditation am Obermarkt kommen,  das, was Dhammadinna da gesagt hat, irgendwie bekannt vorkam, so ist das nicht sehr verwunderlich. Es ist letztendlich das, was ich hier an dieser Wand hinter mir bildlich dargestellt habe, die Lehre vom zyklischen Leben im Samsara und vom Spiralpfad, der zur Erleuchtung führt. Es ist das, was wir bei Triratna lehren. Die Lehre des Buddha, angelehnt an eine Formulierung der ehrwürdigen Bhikkhuni Dhammadinna und für uns in zeitgemäßen Begriffen formuliert von Sangharakshita.



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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.