Der Hund der Achtsamkeit

erzählt von Horst Gunkel aus Gelnhausen


Da hatte ich dieses schöne, ruhige, leerstehende Haus am Ortsrand von Heenes, einem Ortsteil des nordhessischen Bad Hersfeld gefunden, um dort meine jährliche Meditationsklausur abzuhalten. In dieser Straße waren nur wenige Häuser, genau gesagt nur noch zwei bis zum Waldrand. Und im Wald wollte ich meine täglichen Spaziergänge machen, auf denen ich nie jemanden traf, so ruhig war es hier. Und Ruhe, Ungestörtheit, war genau der Grund, warum ich hier meine Meditationsklausuren machte - und die Tatsache, dass dieses Haus einer Freundin gehörte und ich hier umsonst jährlich für zwei Wochen unterkommen konnte.

Es gab eigentlich nur zwei Dinge, die anfangs meine beschauliche meditative Ruhe beeinträchtigten, und die eine davon hatte durchaus etwas mit Spiritualität zu tun, mit Religion jedenfalls. In dieser Straße befindet sich - als letztes Haus vor dem Waldrand - die Friedhofskapelle. In so einem kleinen Ort wird naturgemäß nur selten gestorben - jedenfalls, was Menschen angeht, dementsprechend selten wird jemand beerdigt, in all den Jahren, in denen ich meine vierzehntägige Medditationsklausur hier machte, war das nur ein einziges Mal vorgekommen. Dementsprechend selten musste die Totenglocke geläutet werden. Oder besser: dementsprechend selten hätte die Totenglocke eigentlich geläutet werden müssen. Und normalerweise hätte diese kleine Sackgasse auch Friedhofsweg heißen müssen, hieß sie aber nicht. Vielmehr hieß sie Glockengasse. Schließlich war die Glocke das bestimmende Etwas in dieser Straße.

Allerdings hatte die Friedhofskapelle – und die Glocke! - auch die Funktion einer alten Kirchturmsuhr: sie schlug alle Stunde einmal - und dreimal täglich läutete sie sogar länger: morgens um 6 h, mittags um 12 h und abends um 6 h. Da es sich aber um eine Friedhofsglocke handelte – und vermutlich um eine sehr billige Ausführung – hatte sie nicht den erhabenen vollen Klang einer Kirchturmsuhr, sondern einen blechern-schrillen, sehr alarmierend wirkenden Ton, der vielleicht für eine Feuerglocke angemessen gewesen wäre – oder eben für eine Glocke, um die Menschen an die Schrecken des Todes zu erinnern. Merkwürdigerweise schienen sich die Leute in Heenes nicht daran zu stören. Vermutlich, weil alle hier aufgewachsen waren und kein Fremder jemals auf die Idee gekommen wäre, hierher zu ziehen - spätestens dann nicht mehr, wenn er einmal um 6 Uhr morgens, 12 h mittags oder 6 h abends in Heenes war.

So hatte ich hier eine besondere Herausforderung: trotz des nervend-schrillen Gebimmels versuchte ich Gleichmut zu entwickeln, zunächst zähneknirschend. Dann aber, als ich mir nämlich sagte, dass diese Glocke meine Lehrerin sei, die mich zu Gleichmut erziehen würde, ging es allmählich besser. Und schließlich kam mir, wenn ich wieder in Meditation saß und der erste Glockenton erklang, nur noch ein Lächeln ins Gesicht: meine Lehrerin ermahnt mich wieder zu Gleichmut; ich aber, ich habe verstanden - und ein breites Grinsen zeigte sich auf meinem Gesicht, sodass sogar etwas Dünkel in mir aufstieg: was bin ich doch für ein guter Schüler, für ein gelehrsamer Buddhist, dem es gelingt angesichts dieses schrillen Gebimmels dennoch Gleichmut zu entwickeln.

Vermutlich wäre mein Dünkel noch ungleich größer gewesen, hätte es da nicht eine zweite Herausforderung gegeben, die sich wesentlich schwieriger gestaltete. Denn nebenan wohnte ein Nachbar, der die Hausbesitzerin, meine Freundin, nicht ausstehen konnte, und der konsequenterweise seine Antipathie auf mich übertrug. Dieser Nachbar hatte einen Hund, einen ziemlich großen Hund. Ich mag Hunde nicht besonders, das mag teilweise daran liegen, dass sie Fleischfresser sind, teilweise aber auch daran, dass ich weiß, dass ich aus Fleisch bin und dieser entsetzliche Köter mir durchaus den Garaus machen könnte.

Der Nachbar hielt diesen Hund als Wachhund für sein Grundstück. Und am ersten Wochenende meiner Klausur ging ich wieder zu meinem täglichen Spaziergang. Dementsprechend kam der Köter fauchend und bellend angerannt, und wenn Hunde bei Zorn einen roten Kopf bekommen könnten, hätte dieser Hund einen knallroten Kopf gehabt.

Ich ging zu meinem Hoftor, das dummerweise direkt neben dem Hoftor des Nachbarn war, und der Köter sprang am – zum Glück ziemlich hohen – Zaun hoch und, sobald ich das Grundstück verlassen hatte, am Hoftor des Nachbarn. Alles, dass es ihm nicht gelang, darüber zu springen. Mit schlotternden Knien ging ich im großen Bogen am Nachbargrundstück vorbei – allerdings nicht ohne zu bemerken, wie sich der Vorhang im Wohnzimmer des Nachbarn bewegte. Vermutlich regte sich der Hund nur bei mir so auf, dachte ich mir, denn er roch, dass ich nicht in dieses Dorf gehörte, und der Mistkerl von einem Hundehalter ergötzte sich auch noch daran – widerwärtig das!

Eine Stunde später, als ich zurückkehrte, dasselbe grausame Schauspiel, mit abermals schlotternden Knien ging ich so schnell es mir möglich war ins Haus, konnte allerdings noch das feixende Grinsen des Nachbarn an dessen Wohnzimmerfenster sehen.

Das war am Samstag. Am Sonntag machte ich wieder meinen Spaziergang, achtete aber darauf, dass der Nachbar zu diesem Zeitpunkt in seinem Garten war. Natürlich kam das Untier wieder bedrohlich bellend angerannt. Ich forderte den Nachbarn auf: „Ach, Herr Nachbar, bitte beruhigen sie doch den Hund und machen sie ihm klar, dass ich hier gehen darf!“

„Der Hektor weiß genau, das so einer wie sie hier net hergehört und der macht nur, was er soll, unsern Besitz gegen Gesindel, Rumlungerer und Fremde zu verteidige. Wann´s Ihne net passt, dann haue so einfach wieder ab, schließlich gehörn sie hier net her!“

Das war also das Ergebnis meiner freundlichen Bitte. Zumindest hatte der Hund das Hoftor nicht übersprungen und mich zerfleischt. Und auch als ich zurückkam wiederholte sich das gleiche wie am Tag zuvor. Das war der Sonntag.

Am Montag fuhr der Nachbar mit dem Auto zur Arbeit. „Hoffentlich hat er den Köter in den Zwinger eingesperrt, wo er des Nachts auch ist“, sagte ich mir, als ich das Haus zum Spaziergang verließ. Natürlich blickte ich zum Hoftor des Nachbarn, sofort nachdem ich das Haus verlassen hatte, und auf dem Weg zu meinem Hoftor war. Doch da packte mich jähes Entsetzen: der Hund lief durch Nachbars Garten und dessen Hoftor stand offen!

Dieser Kretin hatte doch tatsächlich das Tor offen gelassen, damit das Untier mich anfallen kann! Schon rannte das Miststück auf die Straße und mir gefror das Blut in den Adern, denn mein Hoftor ließ sich nicht verschließen, es war nur angelehnt. Ein schweres eisernes Tor, aber eben nur angelehnt, das Schloss war seit langem kaputt. Schon sprang der Köter gegen das Tor, sodass es sich öffnete. Ich schaffte es gerade noch ins Haus. Man kann sich vorstellen, wie wütend ich war. An diesem Tag war an Meditation nicht mehr zu denken. Fieberhaft überlegte ich, wie ich Herr und Hund eine Lektion erteilen könnte, die sie nicht vergessen würden. Es war definitiv nicht mein Tag des Gleichmutes!

Schließlich kam mir eine Idee. Mein Hoftor war schwergängig und stabil, der blöde Köter hatte es nur öffnen können, weil er dagegen sprang. Und es war oben massiv und dick. Wenn ich große Gegenstände darauf stellen würde, die dicken Steinplatten hinter dem Haus und die Backsteine vielleicht, so würden diese auf den Hund fallen, sobald er das Tor anspringt und ihm eine Lehre erteilen. Wenn der Hund dabei zu Schaden kam, geschähe es ihm nur recht, und seinem Herrchen ebenso! Im Schutze der Dunkelheit – und der Tatsache, dass der Köter nachts eingesperrt war, setzte ich meinen Racheplan um.

Am nächsten Morgen fuhr der Nachbar wieder zur Arbeit – und er ließ das Tor wieder offen. Wenig später ging ich aus dem Haus – nicht um meinen Spaziergang zu machen, sondern eigentlich nur, um das Untier anzulocken. Dummerweise kam es nicht. Ich ging wieder ins Haus, um zu meditieren und meine Rezitationen zu machen. Die Meditation verlief recht ordentlich, doch als ich mit der Rezitation beginnen wollte, fiel mir ein, dass darin auch der Passus vorkam: „Mögen alle fühlenden Wesen glücklich sein, mögen sie frei sein von Leiden.“

Also wenn ich das jetzt rezitiere, wäre das eine glatte Lüge, das geht gar nicht. Die Steine wegtun? Kam nicht in Frage, mein schön ausgetüftelter Plan! Den Satz aber einfach aus der Litanei draußen zu lassen, ging auch nicht. Also am besten ich gehe nochmal nach draußen und schau, dass der blöde Köter endlich kommt, seine Lektion lernt – und dann kann ich auch wieder guten Gewissens meine Rezitationen machen.

Doch auch diesmal ließ sich der Hund nicht blicken und nicht hören – nichts. Ich blieb etwas im Garten, lärmte, schaute mich dabei immer vorsichtig um, geriet bei der Arbeit sogar ins Schwitzen, sonderte also genügend Geruch ab - nichts. Ich ging wieder ins Haus. Was jetzt? Ich überlegte. Meine Rezitationen? Ich könnte sie ja vielleicht geringfügig abändern, auf so etwas wie „fast alles Wesen“...

Also rezitierte ich und an der entsprechenden Stelle fügte ich ein: „Mögen alle fühlenden Wesen – bis auf die beiden gehässigen hier in der Glockengasse - glücklich sein, mögen sie frei sein von Leiden.“

Ich war stolz und ging noch einmal aus dem Haus. Stellte mich in den Garten. Mit den beiden ausgenommenen Wesen hatte ich natürlich den Köter und den bösartigen Hundehalter gemeint. Ja, auch letzterem geschähe es nur recht, wenn er eine Lektion erhielte! Genau als ich das dachte, hörte ich die Bremsen eines Autos an der Ecke quietschen und dann einen dumpfen Aufprall. „Hat mein Fluch jetzt auch den Nachbarn getroffen, der gerade von der Arbeit nach Haus kam?“ schoss es mir durch den Kopf und ich rannte heraus um nachzusehen.

Und – wie ihr euch sicher schon gedacht habt - fielen die Brocken auf mich. Schmerzhaft verwundet humpelte ich ins Haus. „Wer andren eine Grube gräbt...“, hörte ich meine liebe Großmutter sprechen, die obwohl längst verstorben, die Angewohnheit hatte mich mit passenden Sprichwörtren zu ermahnen. Und plötzlich war mir klar, dass ich, indem ich "die beiden gehässigen Wesen" ausgenommen hatte, mich selbst ausgenommen hatte. Und so erkannte ich, dass nicht nur eine schrille Glocke, sondern auch ein bösartiger Hund mein Lehrer sein konnte.

Nachdem ich meine Wunden versorgt hatte, griff ich zu einem buddhistischen Buch, ich schlug es auf: „Besonders wichtig ist es seinem spirituellen Lehrer Dankbarkeit zu erweisen!“ Ich feuerte das Buch in die Ecke: Soll ich mich etwa bei dem Köter bedanken, vielleicht mit einen Kringel Fleischwurst?

Ich schnappte mir ein anderes Buch, das Dhammapada, Aussprüche des Buddha: „Hass wird niemals Hass besiegen, nur die Liebe ist in der Lage, Hass zu besiegen.“ Hmmh, irgendwas will mir der Ozean der Leerheit sagen... Ich setzte mich in Meditation...

Am nächsten Morgen, der Nachbar war wieder zur Arbeit gefahren – mit unverbeultem Auto, es muss doch jemand anders den Unfall gehabt haben. Das Tor hatte der Nachbar wieder aufgelassen. Hektor lief im Nachbargarten umher. Ich hatte ein veganes Würstchen im mehrere Teile geteilt, bevor ich die Haustür öffnete. Hektor kam angerannt, sprang gegen das Tor, auf dem die Steine inzwischen nicht mehr lagen, und rannte in meinen Hof. Ich warf ihm ein Stück der Wurst zu und schloss die Tür rasch wieder. Durchs Seitenfenster sah ich, wie der Hund stutzte, an dem Würstchen schnupperte und es dann mit sichtlichem Genuss verschlang. Ich öffnete die Tür. Er bellte nicht mehr, knurrte aber böse und die Haare seines Felles richteten sich auf. Ich warf ihm das nächste Wurststück zu. Er lief darauf zu und fraß es. Dann blieb er unschlüssig stehen. Ich warf ihm noch ein Stück zu, etwas seitwärts. Mit wedelndem Schwanz ging er darauf zu.

Es wurde noch eine gute Woche, denn ich hatte mehrere vegane Würstchen für meine Einzelklausur besorgt. Hektor und ich hatten inzwischen unser kleines Ritual.

Am Freitag, als der Nachbar nach hause kam, saß ich im Garten und meditierte, zu meinen Füßen schlummerte Hektor. Der Nachbar funkelte mich böse an, er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. „Schön guten Abend, Herr Nachbar!“ rief ich. Wütend stieg er ins Auto, um dieses schwungvoll in die Garage zu fahren. Ein entsetzliches Knirschen war zu hören, als er den Torpfosten rammte.

„Oh!“ dachte ich, „jetzt ist auch das zweite bösartige Wesen in der Glockengasse nicht glücklich!“ ...und rieb mir nachdenklich meine noch etwas schmerzenden Wunden.


Anmerkung: Diese  Geschichte ist nur zum Teil authentisch. Das Haus in Heenes, die Glockengasse, die Glocke und meine Erlebnisse mit dieser Glocke gibt es tatsächlich, ebenso den nervigen Nachbarn. Die Geschichte mit dem Hund ist jedoch eine buddhistische Geschichte unbekannter Herkunft,  die ich etwas modifiziert und in meine Erlebnisse in Heenes eingebaut habe.


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