Angulimala
eine Geschichte aus dem Pali-Kanon, den ältesten buddh. Schriften
erzählt von Horst Gunkel
(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2017-11-08

Als König Pasenadi von Kosala noch jung war, hatte er einen Schatzmeister, mit dem er befreundet war, denn sie waren zusammen bei einem großen Meister zur Schule gegangen. Jetzt war der Schatzmeister die rechte Hand des Königs und beriet ihn bei allen Fragen, nicht nur den finanziellen. Der Schatzmeister hatte geheiratet, und seine Frau war zum ersten Male schwanger geworden.

Bei der Geburt des Kindes geschahen jedoch eigentümliche Ereignisse: ein merkwürdiges Licht erfüllte die Nacht und alle Waffen im Lande schienen zu leuchten, als wenn das Metall glühte. Selbstverständlich kam auch ein Wahrsager - wie das damals in Indien so üblich war - um den Eltern des Kindes die Zukunft des Neugeborenen zu prophezeien. Doch was der Wahrsager dem Vater sagte, ließ diesem das Blut in den Adern gefrieren: es sei vorherbestimmt, dass dieses Kind der gefürchtetste Terrorist würde, der jemals in Kosala gelebt habe.

Der Vater war natürlich sehr beunruhigt darüber, erzählte seiner Frau jedoch nichts von der Prophezeiung und begab sich in den Palast, um die Steuereintreibung zu überwachen, wie dies seine Pflicht war. König Pasenadi ließ seinen Schatzmeister kommen und erzählte ihm von dem geheimnisvollen Leuchten der Waffen in der vergangenen Nacht. Es müsse sich um ein böses Omen handeln und es sei herauszufinden, was es damit auf sich habe, um dem Übel entgegentreten zu können. Der Schatzmeister gestand seinem König, dass die Geburt seines Sohnes die Ursache gewesen sei und auch, was der Wahrsager gesagt hatte.

„Das Kind muss sofort getötet werden, das ist eine Frage der nationalen Sicherheit,“ entschied König Pasenadi. Aber der Vater des Neugeborenen bat um das Leben seines Sohnes. König Pasenadi entgegnete, wenn es um die nationale Sicherheit ginge, seien Gefühlsduseleien eindeutig fehl am Platze.

Da versuchte der Schatzmeister seinen letzten Trumpf auszuspielen: „Weißt du noch, großer und weiser König Pasenadi, wie wir gemeinsam bei unserem Meister studiert haben, wie wir nächtelang diskutiert haben: ist unser Schicksal vorherbestimmt oder liegt es in unserer eigenen Hand. Unser Meister hat damals die Meinung vertreten, entscheidend sei das, was wir von Geburt an mit in unserer Leben bringen, du aber, großer und weiser Pasenadi, hast dem widersprochen: entscheidend sei die Erziehung und du hast zahlreiche Beweise für diese These angeführt. Heute aber bitte ich dich: stehe zu deiner Ansicht, glaube nicht, dass die Geburt alles vorbestimmt, lass uns gemeinsam den Beweis antreten, dass die Erziehung das Entscheidende ist. Dieser Junge soll nur die allerbeste Erziehung genießen, hin zu Toleranz, Friedfertigkeit und Weisheit. In diesem Sinne habe ich ihm schon seinen Namen gegeben: Ahimsaka, der Gewaltlose.“

König Pasenadi sah sich in einer misslichen Lage: einerseits verlangte die Staatsräson die Tötung des Säuglings, andererseits hatte ihn sein Freund an seinem wunden Punkt erwischt: Meinungen, die Pasenadi einmal vertreten hatte, pflegte er nicht zu ändern, schon gar nicht pflegte er einzugestehen, dass er sich geirrt haben könnte. Rasch überlegte der König, welchen Ausweg er aus diesem Dilemma habe, aber er stellte fest, dass das eigentlich kein akutes Problem sei. Frühestens in anderthalb Jahrzehnten musste gehandelt werden, außerdem war dies der beste Weg, sich die unbedingte Loyalität seines Schatzmeisters zu sichern.

„Nun, gut“, sagte König Pasenadi, „der Knabe soll leben, aber ich erwarte von dir einen jährlichen Bericht über seine Entwicklung und alle von dir ergriffenen Maßnahmen.“

Wie der König entschieden hatte, so geschah es. Der Schatzmeister unterrichtete den König jährlich über den Fortgang des Projektes „Ahimsaka“. Es gab keinen Anlass zu irgendwelchen Sorgen.

Als Ahimsaka zum Jüngling herangewachsen war, entschied sich sein Vater, ihn zum Studium zu einem anerkannten Lehrmeister im Lande Maghada zu schicken. Danach würde er ein weltläufiger und gebildeter Mann sein, dem wichtige Staatsämter offen stünden. Mehrere Jahre lang studierte der höfliche und intelligente junge Ahimsaka bei seinem Lehrer und schon bald war dieser von den außerordentlichen Fähigkeiten, von der Auffassungsgabe und der Strebsamkeit seines Schülers so angetan, dass Ahimsaka deutliche Vorrechte vor den anderen Schülern genoss. So durfte Ahimsaka im Hause des berühmten Lehrers wohnen, denn dieser liebte bei den Mahlzeiten gebildete Diskussionen – und wer wäre dafür geeigneter gewesen als sein Musterschüler. Die Studienkollegen Ahimsakas waren von dieser Entwicklung weniger angetan, sie missgönnten dem Streber seine Anerkennung...

Einer der Mitschüler Ahimsakas war auch aus Kosala und während der Semesterferien hörte er sich um, was Ahimsaka beträfe. Er kam mit einer ganz entscheidenden Neuigkeit zu seinen Kommilitonen zurück: er kannte jetzt die Prophezeiung!

Abends saßen die Studierenden in einer Kneipe zusammen und beschlossen, den Meister zu informieren, wen er dort in seinem Hause beherbergte, natürlich so, dass Ahimsaka von der Intrige nichts mitbekäme. Gesagt, getan.

Der Lehrer, der keinen Moment daran zweifelte, dass der Wahrsager die Zukunft des jungen Mannes treffend vorausgesagt hatte, überlegte, wie er mit dem Problem umgehen solle. Wenn er überhaupt nichts täte und dem Terroristen weiter Unterschlupf gewährte, so würde dieser ihn, seine Frau und seine Kinder zweifellos früher oder später töten. Wenn er ihn aber hinauswerfen würde, würde er sich erst recht den Zorn Ahimsakas zuziehen, und dieser würde sein mörderisches Handwerk sofort bei ihm im Hause beginnen, zumal dieser um alle Reichtümer des Meisters wusste. Also sann er nach, wie er die bösen Kräfte des jungen Mannes instrumentalisieren könne und ihn dabei möglichst weit von seinem Haus wegbrächte. - Er schmiedete einen teuflischen Plan.

Am nächsten Tag rief der Lehrer Ahimsaka zu sich: „Du hast praktisch alles gelernt, was ich dir beibringen kann. Es ist Zeit, dass du in dein Heimatland zurückkehrst.“

„Aber Meister, ich möchte in die höchsten Staatsämter aufrücken, dafür bin ich noch nicht genug vorbereitet.“

„Es gibt da etwas, was ich dir noch beibringen könnte, aber es gehört in den Bereich der Schwarzen Kunst. Wer diese beherrscht, der wird alle angestrebten Ämter erreichen, und der wird jeden Kampf gewinnen: vor Gericht, im Krieg und auch den anderen.“

„Welchen anderen, Meister?“

„Nun eben den andern, verstehst du, er kann auch – jede Frau haben, die er will.“

Das war nun wirklich ungeheuer viel: Prozesse Gewinnen, im Krieg siegreich sein, jedes angestrebte Amt bekommen und darüber hinaus noch jede Frau, die er wollte.

„Was muss ich tun, Meister?“

„Nein, es ist gefährlich und nicht zumutbar, außerdem ist es höchst unmoralisch!“

„Was, Meister?“

„Du musst dir den Kranz verdienen, der nötig ist, um in die Schwärzeste aller Künste eingeweiht zu werden.“

„Welchen Kranz, Meister?“

„Nun, es ist der Fingerkranz. Man muss dazu eine Kette aus Fingergliedern haben, aus Fingergliedern von Menschen, die man eigenhändig umgebracht hat. Von jedem Menschen aber nur ein einziges Fingerglied, insgesamt eine Kette mit tausend Fingergliedern, aber vergiss es nur gleich wieder, ich sage ja, es ist unzumutbar und außerdem höchst unmoralisch.“

Inwieweit die Prophezeiung Anlass dafür war, inwieweit es die Verführungskunst des Meisters war, ich weiß es nicht, aber der jungen Mann ging los, um sein Glück zu machen. So wurde aus Ahimsaka, dem Gewaltfreien, der Terrorist Angulimala, das heißt: Fingerkranz. Der Meister aber war sicher, den Jüngling nie wieder zu sehen, denn früher oder später würde er bei seinem blutigen Geschäft umkommen.

Zunächst lauerte Angulimala einzelnen Wanderern auf, brachte sie um, schnitt ihnen eine Hand ab, hing sie in einen Baum, dass die Krähen das Fleisch von den Fingern fraßen, nahm dann ein Fingerglied und fädelte es auf eine Schnur, die er um den Hals trug. Bald gab es jedoch keine einsamen Wanderer mehr. Ahimsaka verlegte sich auf den Überfall alleinstehender Gehöfte. Das hatte den Vorteil, dass es dort immer einige Finger zu erobern gab.

Doch bald wurden auch die einsamen Gehöfte knapp. Also überfiel Ahisaka kleine Dörfer und kleine Karawanen. Doch bald stellten die Kaufleute nur noch größere Karawanen zusammen und nahmen bewaffnete Wächter mit. Doch Angulimalas Stärke schien unbezwingbar. Einmal, so erzählt man sich, überfiel er eine Karawane von nicht weniger als 40 Personen, darunter sechs bewaffnete Soldaten. Er massakrierte alle.

Furcht und Schrecken verbreiteten sich im Lande Kosala. Angulimala zählte täglich die Finger auf seiner Kette. Er hätte eigentlich zufrieden sein können, denn die magische Zahl 1000 kam immer näher, doch in Angulimala stieg keine Freude auf, er sah allerdings auch keine Alternative. Er war der meistgesuchte Mann nicht nur in Kosala, sondern auch in den Nachbarländern, auf seinen Kopf stand eine hohe Belohnung, und er war sich inzwischen auch nicht mehr sicher, wie ihn sein Meister dort wieder herausbringen sollte. Allerdings gab es keine Alternative, die Todesstrafe war ihm sicher.

Beim letzten Zählen waren es 999 Finger, nur einer fehlte noch.

Da begab sich eine ältere Frau auf den Weg, der genau zu der Stelle führte, wo Angulimala auf sein letztes Opfer wartete. Es war Angulimalas eigene Mutter. Muttermord ist das Allerschlimmste, was sich ein Inder vorstellen kann und nach brahmanischer Vorstellung wird, wer einen Muttermord begeht, nur noch schlechte Wiedergeburten haben. Angulimala sah, wer da kommt. Aber es war ihm inzwischen egal: „Na gut,“ dachte er, „dann eben die Alte, was hat sie auch so ein Monster wie mich geboren.“

Der Buddha allerdings sah mit seinem himmlischen Auge auch, was da geschah, und er begab sich zu der Stelle, wo Angulimala war. Als der Buddha durch das letzte Dorf kam, warnten ihn die Leute: „O Mönch, gehe nicht diesen Weg, dort ist der schreckliche Angulimala, er tötet jeden.“

„Danke, für die Warnung“, sagte der Buddha, „aber ich möchte mich selbst davon überzeugen.“ Die Bewohner des Dorfes schüttelten darüber nur den Kopf.

Angulimala sah, wie sich zwei Personen auf sein Versteck zu bewegten, seine Mutter und dieser Mönch.

„Warum sollte ich meine Mutter töten, wenn dieser nichtsnutzige, schmarotzende Bettler auch einen Finger hat“, sagte sich Angulimala und ging auf den Buddha zu. Dieser sah Angulimala, machte kehrt und ging ruhigen Schrittes weg. Angulimala lief dem Buddha nach. Doch obwohl er so schnell rannte, wie er, ein junger durchtrainierter Mann, nur konnte - die Entfernung zum Buddha, der ganz gemütlich schlenderte, wurde nicht geringer.

„Bleib stehen, Mönch“, rief Angulimala.

„Ich bin längst stehen geblieben“, antwortete der Buddha gelassen und ging seelenruhig weiter.

Nun fing Angulimala an, an seinem Verstand zu zweifeln. Zwar hielt er absolut nichts von diesen gelbberobten Mönchen, aber man wusste, dass keiner dieser weisen Männer jemals lügen würde. Dieser Mönch ging, sagte aber, er sei stehen geblieben. Dieser Mönch schritt langsam, er aber konnte ihn nicht einholen. Hier geschah etwas, was größer war, als alles, was er bisher erlebt hatte, und am erstaunlichsten: zum ersten Mal seit zwei Jahren war da jemand, der absolut keine Angst vor ihm, dem schrecklichen Angulimala, zu haben schien.

„Erkläre mir“, rief Angulimala, „wieso du stehen geblieben bist, und ich sehe dich doch gehen.“

„Nun“, sagte der Buddha, „man kann jederzeit stehen bleiben. Du glaubst, du kannst mit dem Töten nicht aufhören. Ich aber sage dir: es geht, halte ein, bleib stehen. So wie auch ich mit dem Töten aufgehört habe, schon vor vielen Leben, ich bin stehen geblieben, jetzt bin ich ein heiliger Mann. Was ich überwunden habe, das kannst auch du überwinden. Was ich erreicht habe, das kannst auch du erreichen.“

„Ich bin sowieso verloren“, entgegnete Angulimala, „sie werden mich töten.“

„Du bist ein erbärmlicher Feigling, Angulimala. Ich sage dir: du kannst stehen bleiben, ich sage dir, was ich erreicht habe, das kannst auch du erreichen, Mann hab endlich etwas Mut.“

So hatte noch niemand mit dem Massenmörder gesprochen, das war zu fiel für ihn, und Angulimala fiel unter Tränen auf die Knie und bat den Buddha, ihn als Schüler anzunehmen, auch wenn es nur für eine Stunde sei, denn er hatte gehört, dass König Pasenadi die Mobilmachung ausgerufen hatte, um ihn zur Strecke zu bringen.

„Komm und sieh, Mönch“, sagte der Buddha zu dem Mörder, der von nun an nicht mehr Angulimala hieß, sondern wieder Ahimsaka.

Buddha nahm Ahimsaka mit zu der Stelle, wo er mit einer Gruppe anderer Mönche lagerte, Ahimsaka bekam die Haare geschoren, den Fingerkranz abgenommen und eine Robe.

„Mach dich nützlich, tu etwas zum Wohl aller Wesen“, wies der Buddha Ahimsaka an.

„Was kann ich tun, Herr“, fragte der.

„Es gibt viel zu tun, zum Beispiel sind eine Menge Nacktschnecken auf dem Weg. Ich erwarte heute ein großes Verkehrsaufkommen, trage sie vom Weg herunter, aber vorsichtig, damit du sie nicht verletzt.“ Und Ahimsaka tat wie im aufgetragen.

Kurz darauf erscholl ein großes Getöse von Trommeln, Pauken und Fanfaren. Der Kriegszug König Pasenadis, der in den Anti-Terror-Krieg ziehen wollte, näherte sich, der König ritt an der Spitze seiner Truppen. Natürlich erkannte der König den Buddha, den berühmtesten Weisheitslehrer seiner Zeit, schon von weitem, und er grüßte den Buddha ehrerbietig.

„Was soll der Lärm, König“, fragte der Buddha, und Pasenadi entgegnete, dass er vorhabe, den Anti-Terror-Krieg in kurzer Zeit siegreich zu beendet. Der ärgste Terrorist, Angulimala, würde die Woche nicht überleben. Mit den Worten "Mission erfüllt" würde er glorreich in die Hauptstadt zurückkehren.

„Du solltest den Kampf nicht mit den Waffen suchen, sondern mit dem Geist, König, denn Gewalt hat noch niemals Gewalt besiegt, nur Liebe besiegt die Gewalt.“

„Entschuldige, Buddha, aber vom Krieg verstehe ich mehr, es geht um einen notorischen Gewalttäter, einen Massenvernichter, er muss getötet werden.“

„Sieh doch König, wie so friedlich sind meine Mönche, der da vorne sammelt zum Beispiel die Nacktschnecken ein, die du und deine Männer sicher gleich zertreten hätten, das ist wahre Gewaltlosigkeit, so erringt man Siege.“

„Entschuldige Buddha, aber ich muss jetzt weiter, es geht schließlich um gefährliche Terroristen, nicht alle Menschen sind so harmlos wie deine Mönche, die Nacktschnecken retten, es gibt schlimme Schurken auf der Welt.“

„Dieser Nacktschneckensammler,“ entgegnete der Buddha, „hieß bis heute Morgen Angulimala. Dann habe ich ihn besiegt. Ohne Gewalt. Mit Liebe. Jetzt ist er ein Mönch und wird bis zum Ende seiner Tage zum Wohle aller Wesen arbeiten.“

Noch nie hatte einem König vor Staunen und Entsetzen so lange der Mund offen gestanden wie König Pasenadi in diesem Moment. Erstens konnte er die Wendung der Dinge nicht begreifen, zweitens gab es ein ungeschriebenes Gesetz, wonach es keine Strafverfolgung für Mönche anerkannter religiöser Schulen gab, andererseits haftete der Leiter einer solchen Schule dafür, dass von den Mönchen keine Straftaten ausgingen. Dass aber ausgerechnet Angulimala ungestraft davon kommen sollte, war eine schwer nachzuvollziehende Sache. Dass umgekehrt der bekannteste religiöse Führer des indischen Kontinents seiner Sache so sicher war, dass er praktisch für Angulimala haftete, war fast unglaublich.

„Ich habe dein Wort, Buddha?“ fragte der König.

„Du hast mein Wort, König“, antwortete der Buddha.

Mindestens genau so überrascht allerdings war Ahimsaka vom Verlauf der Dinge, er warf sich vor dem Buddha nieder und sagte: „Meister, du hast recht, man kann stehen bleiben.“

„Ja“, sagte der Buddha, „aber du musst nicht denken, damit wäre die Sache ausgestanden.“

Der Buddha hatte recht, die Sache war damit nicht ausgestanden. Am nächsten Tag war Almosengang. Als die Leute sahen, dass der von Steckbriefen bekannte Massenmörder unter den Mönchen war, verbarrikadierten sie ihre Häuser. An diesem Tag bekam keiner der Mönche etwas zu essen. Ahimsaka spürte die hungrigen, vorwurfsvollen Blicke seiner Brüder auf sich, als die Mönchsgemeinde weiterzog.

„Im nächsten Dorf“, sagte einer der Mönche zu Ahimsaka, „bleibst du weg, wir gehen alleine und geben dir etwas ab.“

Der Buddha sah Ahimsaka an und der verstand: „Buddha, ich werde mich am Almosengang beteiligen, aber in einem anderen Ort, dann bekommen die anderen Mönche Nahrung, ich aber trage die Verantwortung für meine Taten.“

So geschah es. Die Mönche bekamen in dem einem Dorf Nahrung, Ahimsaka aber stand im Nachbardorf vor verschlossenen Türen. Die Mönchsgemeinde blieb hier einige Tage, und Ahimsaka ging jeden Tag in sein Dorf, wo er nichts bekam. Er nahm von den anderen Mönchen keine Nahrung, sondern wartete hungrig ab, wie sich die Sache entwickeln würde. Auch die Dorfbewohner merkten, dass von dem früheren Massenmörder keine Gefahr mehr ausging, und am vierten Tag trauten sich die ersten jungen Männer aus dem Haus, um mit Steinen nach Ahimsaka zu werfen.

Am fünften Tag dieser Almosengänge aber wurde es schlimmer. Ahimsaka schleppte sich mühsam mit zerrissener Robe, gebrochenem linken Arm und blutüberströmt zurück zur Mönchsgemeinde. Als er den Buddha sah, rief er: „Meister, ich habe mich nicht gewehrt, sie hatten recht.“ Der Buddha aber entgegnete: „Heute hattest du aber großes Glück.“

„Wieso Glück?“ fragte Ahimsaka, während ihm zwei Mönche seinen gebrochenen Arm schienten.

„Nun“, antwortete der Buddha, „es gelingt dir, Karma schon in diesem Leben abzuarbeiten.“ Ahimsaka lächelte, aber es war kein sehr fröhliches Lächeln.

In der nächsten Zeit gaben ihm die anderen Mönche von ihrer Almosenspeise ab. Damit war das rein physische Problem Ahimsakas gelöst, aber es gab noch ein anderes, tiefer gehendes Problem. Wann immer sich Ahimsaka zur Meditation hinsetzte, stiegen seine Untaten in sein Bewusstsein auf. Alles, was er vorher verdrängt hatte, dem musste er sich jetzt stellen. Und es ging ihm von Tag zu Tag schlechter. Der Buddha wartete auf eine günstige Gelegenheit, um einzugreifen.



Zu dieser Zeit hielten sich der Buddha und die Mönche in der Nähe eines kleinen Dorfes auf. In diesem Dorf lebte ein Handwerker mit seiner Familie. Seine Frau war hochschwanger, und die Wehen setzten ein. Die Mutter und die Schwestern der Wöchnerin waren bei ihr, um bei der Geburt des ersten Kindes zu assistieren. Jedoch war die Frau viel zu verkrampft. Je stärker die Wehen wurden, desto ängstlicher und verkrampfter wurde die Frau, und so konnte sich der Muttermund nicht für die Geburt öffnen. Sie schrie unter entsetzlichen Schmerzen und allen Anwesenden war klar, dass sie vermutlich Mutter und Kind verlieren würden. Der Kindsvater wusste nicht ein noch aus. Da sagte eine der Frauen zu ihm: „Der Buddha soll vor dem Ort sein.“

Neue Hoffnung keimte in dem Mann auf, und er rannte zum Buddha und erklärte ihm hastig die Lage.

„Ich werde nicht selbst kommen," sagte der Buddha, "aber ich schicke dir meinen besten Spezialisten für Fälle, wenn es um Leben und Tod geht. Gehe rasch zurück und bereite alles vor. Zwischen der Gebärenden und meinem Spezialisten, muss ein Laken gespannt werden, damit sie sich nicht sehen können – mein Spezialist ist schließlich ein Mönch. Das Laken soll von den Frauen gehalten werden. Diese dürfen aber nur zu deiner Frau sehen, nicht zu dem Mönch, sonst funktioniert es nicht. Nur du darfst meinen Mönch sehen, aber deine Frau darf dich dabei nicht sehen und gib keinen Laut von dir, wenn dir das Leben von Frau und Kind lieb ist.“

Der Mann eilte zurück, um alles vorzubereiten wie verlangt, denn von den Ritualen der hinduistischen Brahmanen wusste er, dass viele unverständliche Dinge zu erfüllen war, also wunderte ihn keine der Anweisungen.

Buddha aber ließ Ahimsaka zu sich kommen, schilderte ihm kurz die Sachlage und eröffnete ihm, dass er der Spezialist über für Fälle sei, in denen es um Leben und Tod geht.

„Was, um Himmels willen, kann ich tun?“ fragte dieser.

„Ganz einfach, Ahimsaka, du gibst der Frau Vertrauen, indem du einen entscheidenden Satz sagst, dieser Satz lautet: `Alles ist gut, du und dein Kind, ihr werdet leben, so wahr ich seit meiner Geburt keinem Wesen ein Leid zugefügt habe.´“

Angulimals warf sich dem Buddha zu Füßen: „Meister, das kann ich nicht. Ich habe Hunderte getötet. Wenn ich das sage, und es in Erfüllung geht, dann sterben beide gleichen Augenblicks!“

„Gut,“ sagte der Buddha, „dann ändern wir deinen Satz um ein Wort, nur um ein einziges Wort. Du sagst: Alles ist gut, du und dein Kind werdet leben, so wahr ich seit meiner edlen Geburt keinem Wesen ein Leid zugefügt habe.“

Angulimala verstand. Lautlos ging er in das Haus.

Als der Kindsvater ihn sah, stand ihm das pure Entsetzen im Gesicht, das Leben seiner Frau und seines Kindes sollte in der Hand dieses Terroristen sein – er biss sich auf die Hand, um keinen Laut von sich zu geben.

Ahimsaka aber sagte zu der Gebärenden, er käme vom Buddha, der ihn gesandt habe, um ihr den heilenden Zauberspruch zu sagen, der ihr zu einer leichten Geburt verhelfe. Er sprach ruhig und trotz zitternder Knie mit fester Stimme den entscheidenden Satz. Und tatsächlich, dieser Satz beruhigte die Frau, denn sie glaubte die Kraft des Buddha selbst hinter diesen Worten zu spüren. So löste sich die Verkrampfung der Frau - und eine Minute später war ein starkes Kind geboren.

An diesem Abend konnte Angulimala zum ersten Male wirklich meditieren. Er hatte seine edle Geburt angenommen. Er wusste jetzt, dass er im Moment seiner Ordination neu geboren war. Sieben Jahre später erreichte er die Erleuchtung.


Seit vielen Jahren gibt es erstaunlich erfolgreiche buddhistische Gefangenarbeit in Gefängnissen in Indien und England. Der Name dieses Unterfangens: Angulimala-Projekt.

Wenn dort diese Geschichte erzählt wird, kann man vermeintlich hartgesottene Mörder weinen sehen. Einige von ihnen schließen sich in Meditationsgruppen zusammen, in Gruppen derer, „die stehen geblieben sind“.

Die Buddhistische Gemeinschaft Triratna nimmt an dieser Gefängnisarbeit teil.
 



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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.