Gechichten aus dem Vajrayana-Buddhismus

Wein, Weib und Gesang
erzählt von Horst Gunkel
(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2015-02-02



 
Virupa (837 - 909 u. Z.) ist einer der Maha Siddhas, der großen Magier, die im Vajrayana besonders verehrt werden. Die Sakya-Schule, eine der vier Hauptrichtungen des Vajrayana, stellt ihn in den Mittelpunkt. Er lebte in Nordostindien.

Virupa wohnte zunächst in einem Kloster, wo er studierte, meditierte und gemäß den buddhistischen Vorsätzen handelte. So übte er sich in der Visualisierungspraxis, indem er die rote Gottheit Vajravarahi visualisierte. Im Mittelpunkt seiner Praxis stand jedoch die Mantrarezitation, das Aufsagen und beständige Wiederholen eines bestimmten Spruches. Er hoffte so, der Erleuchtung näher zu kommen. Er rezitierte sein Mantra nicht weniger als 10 Millionen Mal. Als er feststellte, dass dieses nichts geholfen hatte, entschließt er sich, dieses Mantra weitere 10 Millionen Mal aufzusagen.

Dies dauerte insgesamt zwölf Jahre, schien aber keinerlei Erfolg zu haben. Virupa war frustriert: zwölf Jahre für Nichts! Er konnte keinerlei Fortschritt an sich feststellen, gar nichts, nicht einmal ein bedeutsamer Traum, den er auf seine Praxis hätte zurückführen können. In seiner Wut nahm er seine Mala, seinen Rosenkranz, und schleuderte ihn wutvoll in die Trocken-Toilette, die sicherlich kein sehr idyllischer Ort ist, sondern eine äußerst stinkende Sache. Diese Mala hatte er benutzt um die 20 Millionen Mantrenrezitationen abzuzählen. Am Abend wollte er zur Puja, einer buddhistischen Ritualfeier gehen, dort brauchte er jedoch seine Mala. Da erschien ihm eine wunderschöne Gottheit, eine hellblaue Frau, die über dem Boden schwebte. In der Hand hielt sie seine Mala, die wunderbarerweise völlig rein war und glänzte, und übergab sie ihm mit den Worten: „Die Reinheit des Geistes existiert im Inneren, daher schaue nicht nach außen.“ Dann verschwand diese äußerst angenehme Erscheinung, diese Perfektion der Leerheit, wieder.

Diese wenigen Worte genügten, ihn völlig zu verwandeln. Er sah jetzt, dass er bisher viel zu formell praktiziert hatte. Dies alles musste er aufgeben, das formelle Meditieren, die Rezitationspraxis, jedwede Form und natürlich auch sein Verlangen nach Erleuchtung. Statt dessen handelt Virupa jetzt völlig spontan und natürlich, so wie es ihm gerade in den Sinn kam.

Dies gefällt jedoch dem Klosterestablishment nicht. Es fällt auf, dass seit Nirupas Verwandlung die Tauben weniger werden - und die Mönche haben einen bestimmten Verdacht. Auch sieht man hin und wieder junge Frauen in Nirupas Klosterzelle gehen. Der Geruch von alkoholischen Getränken dringt aus seiner Zelle, und schließlich wird er mit einer Taubenpastete in der Hand erwischt. (Vorsicht: diese Geschichten von den Maha-Siddhas darf man nicht wörtlich nehmen.) Darauf angesprochen erweckt er alle Tauben wieder zum Leben und ging auf Wasser spazieren.

Das Maß ist dennoch voll. Er hat es zu bunt getrieben und muss das Kloster verlassen. Die bestehenden buddhistischen Organisationen können ihn, so wie er handelt, natürlich nicht gewähren lassen.

Er lebt fortan außerhalb von Klöstern als wandernder Yogi. Im Gegensatz zu den meisten umherziehenden Yogis ist er jedoch ausgesprochen fett. Auch auf allen Darstellungen Virupas erscheint er fett und hässlich mit Glubschaugen. In der Tat heißt Virupa „der Hässliche“. Wenn er abgebildet wird, so zeigt er mit der Hand auf die Sonne. Ursache dafür ist die folgende Geschichte.

Virupa ist mit einem seiner Schüler, dem jungen Mann Kana, unterwegs. Sie durchstreifen eine große Stadt, sehen sich auf den Märkten um, schlendern durch die Basare, die laut sind und voll von den unterschiedlichsten Gerüchen. Es sind beileibe nicht die besten Stadtviertel, man könnte es eher als eine Slumgegend beschreiben. Schließlich kommen sie an einer einfachen, billigen Bar vorbei.

„Wir sollte hier etwas trinken“, sagt Virupa zu seinem Schüler; dann betreten beide Männer die Spelunke.

Die Barfrau mustert die neuen Gäste von Kopf bis Fuß, sie ist misstrauisch: „Habt ihr Yogis denn überhaupt Geld?“

Als Antwort holt Virupa sein Messer heraus und rammt es in den Tisch. Dieser steht zur Hälfte in der Sonne. Das Messer ist in der sonnigen Hälfte stecken geblieben. „Wenn der Schatten das Messer erreicht hat, zahle ich“, sagt Virupa und schaut die Barfrau eindringlich an. Angesichts des Messers entschließt sich diese eingeschüchtert, die beiden zu bedienen. Sie serviert ihnen Wein.

Virupa und Kana kippen den Wein – in dieser Gegend bestimmt nicht das beste Gewächs – herunter wie Wasser und verlangen mehr. Dieser Vorgang wiederholt sich. Immer wieder. Die beiden saufen buchstäblich die Bar leer. Und das Merkwürdigste: Die Sonne steht still, keinen Millimeter bewegt sich der Schatten auf das Messer zu. Die Barfrau sieht sich gezwungen, bei anderen Händlern in der Nähe Nachschub zu kaufen. Inzwischen stimmen Virupa und Kana ein bengalisches Trinklied an.

In der ganzen Stadt jedoch werden die Leute ängstlich, schließlich war es noch nie passiert, dass die Sonne stillstand. Alle Menschen bewegen sich in der mittäglichen Hitze, die nicht weichen will, wie betrunken. Auch der König ist verunsichert und er lässt nachforschen, was denn die Ursache dieses ungewöhnlichen Stillstandes ist. Er glaubt seinen Ohren nicht trauen zu können, als man ihm berichten, dass offensichtlich die Ursache für den Sonnenstillstand darin liegt, dass ein Yogi in einer Bar seine Rechnung nicht bezahlen will.

Der König begibt sich in seinen prächtigen Gewändern in das Elendsviertel, in dem dieser merkwürdige Yogi in der Bar sitzen soll, respektvoll machen die Leute Platz, sie tuscheln einander zu: „Endlich passiert etwas, es wurde ja auch Zeit, dass der König eingreift. Das geht doch nicht, dass einfach die Sonne stillsteht!"

Als der König die Bar betritt, fallen ihm sofort die beiden Zecher mit dem in den Tisch gerammten Messer auf. Er begib sich zu ihnen.

„Guten Tag, liebe Yogis, habt ihr vielleicht die Sonne angehalten?“

„Ja, das war ich“, bekennt sich Virupa zu seinem Handeln.

„So, aha. Kannst du sie vielleicht auch dazu bringen, sich wieder wie üblich zu bewegen. Weißt du, dieser Sonnenstillstand verursacht nämlich einige Probleme.“

„Können kann ich schon. Dann muss ich allerdings zahlen, weist du, König. Tja und ich habe kein Geld.“

Ein Problem, das mit Geld zu lösen ist, ist für den König kein Problem. Er übernimmt die Rechnung der beiden zechenden Yogis und augenblicklich geht die Sonne weiter. Auch Virupa und Kana ziehen weiter.


Was soll das bedeuten?

Am wichtigsten bei Vajrayana-Geschichten ist, dass man sie nicht wörtlich nehmen darf. Ihr Sinn erschließt sich erst, wenn man den darin vorhandenen Symbolismus versteht. Die Dinge sind im Vajrayana nie das, wonach sie aussehen. Da ist zunächst der Tabubruch das Saufgelages. Hier wird sich bewusst außerhalb der Konditionierung gestellt, häufig umgeben sich die Maha Siddhas daher mit den Outcasts der Gesellschaft.

Durch das Anhalten der Sonne wird die große spirituelle Macht Virupas gezeigt. Die Sonne steht dabei auch für Kraft, für Energie, für das maskuline Prinzip. Aber nicht nur die männliche Kraft wird von Virupa beherrscht, sondern auch die weibliche, symbolisiert durch die Barfrau.

Der Wein steht für maha sukkha, die große Freude, die dadurch entsteht, dass Virupa die männliche und die weibliche Energie vereint. Somit sind Innen und Außen, Weisheit und Mitgefühl, Samsara und Nirvana vereint und somit transzendiert.




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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.