Im Angesicht des Tigers
erzählt von Horst Gunkel
(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2015-02-03

Diese Geschichte in Japan, Mitte des 17. Jahrhunderts. Nach einer Zeit langer Kämpfe ist es nunmehr eine Zeit relativer Ruhe. Der wichtigste Mann im Japan dieser Zeit ist der Shogun. Der damalige Shogun, Iemitsu, war ein junger Mann von etwa 20 Jahren.

Der Shogun hat eigene Dharma-Lehrer, einer davon ist Takuan Soho, einer der bedeutendsten buddhistischen Gelehrten seiner Zeit. Trotz seiner 70 Jahre ist er noch immer ein Energiebündel.

Aber natürlich interesssiert sich ein Shogun nicht nur für den Dharma, sondern auch für Kampfsportarten, Iemitsus Lieblingssport ist der Schwertkampf. Sein Cheftrainer in Kendo, der Schwertkunst, ist Yagyu, der nicht nur durch die Beherrschung der Kampftechnik besticht, sondern auch ein geradlinigen Charakter hat und selbst den Zen-Buddhismus, eine Richtung innerhalb des Mahayana, praktiziert.

Eine weitere Hauptperson unserer Geschichte ist das gefährlichste Raubtier der Welt, der Tiger. Am Hofe des Shogun lebt das größte damals bekannte Exemplar. Zwar sind Tiger in Japan nicht heimisch, aber zur Freude und zur Unterhaltung des Shogun wurde dieser wahrhaft königliche Tiger nach Japan geschafft und am Hofe des Shogun ausgestellt.

Unsere Geschichte spielt an einem schönen Sommertag, der Shogun und sein Gefolge, darunter auch Yagyu und Takuan, sitzen außerhalb des Palastes im Freien und zwar in der Nähe des Tigerkäfigs. Der Tiger war noch nicht lange am Hofe und so hatte die ganze Gesellschaft das mächtige Tier in seinem Käfig lange und ausgiebig bestaunt. Das Gespräch dreht sich nunmehr um die Kunst des Schwertkampfes, die nötige Beinarbeit wird ebenso erörtert, wie Geschwindigkeit und die nötige Konzentration. Dieses Gespräch, das immer wieder einmal überlagert wird vom Schnauben oder Brüllen des Tigers, bringt den Shogun auf eine Idee.

"Ich frage mich," denkt der Shogun laut nach, "ob jemand, der so hervorragend im Schwertkampf trainiert ist wie Yagyu in der Lage ist, den Tigerkäfig ohne sein Schwert zu betreten und dabei seine Fähigkeiten als Schwertkämpfer zu nutzen, um dem Tiger an die Nase zu fassen."

Was in unseren Ohren vielleicht wie ein theoretisches Nachdenken klingt, empfand ein Japaner - zumal in dieser Zeit völlig anders. Das Wort des Shogun war z oberstes Gesetz in Japan. Sein "lautes Nachdenken" kommt einem absoluten Befehl gleich, und das ganz besonders in einem Land, in dem das Schlimmste ist, was einem passieren kann, "das Gesicht zu verlieren".

Yagyu verbeugt sich vor dem Shogun. Dann begibt sich der ganze Hofstaat zum Tigerkäfig und verteilt sich um diesen, um eine möglichst gute Aussicht auf das bevorstehende Spektakel zu haben. Der Shogun bekommt natürlich den Ehrenplatz, sein Thron steht in der Mitte. Yagyu betrachtet den Tiger. "Der ist verdammt groß", denkt er sich, aber natürlich ist der Wunsch des Shogun Befehl und er ist seinem Herrn zu tiefster Loyalität verpflichtet.

Yagyu nimmt seinen Fächer in die Hand und geht langsam auf den Käfig zu. Der Tigerwärter, der den Tiger nach Japan gebracht hat, warnt Yagyu: "Es ist absoluter Wahnsinn, sich schutzlos in den Käfig zu begeben."

Doch Yagyu igrnoriert die Warnung des Mannes, der den Tiger besser kennt als irgendein anderer, und geht geradewegs weiter auf den Käfig zu. Er zieht den Bolzen aus der Käfigtür, öffnet diese und begibt sich Auge in Auge mit dem Tiger.

Es ist nicht das erste Mal, das Yagyu dem Tod ins Auge sieht. Man wollte ihn schon oft töten, aber immer konnte er sich auf seine überragenden Schwertkampfeskünste verlassen, kein menschlicher Gegner konnte es mit ihm aufnehmen. Doch bei diesem Tier aus einem fermden Land helfen ihm alle seine Erfahrungen nichts. Die einzige Chance, die er hat, ist seine Geschicklichkeit zu nutzen, um den Tiger zu übertölpeln, der ihn gerade mit ausdruckslosem Gesicht mustert. Yagyu bewegt sich ganz langsam vorwärts und nimmt alle seine Willenskraft zusammen, um dem Tiger ins Auge zu sehen und ihn dabei unter seine Herrschaft zu zwingen. Jetzt knurrt der Tiger ihn an, aber Yagyu lässt sich davon nicht beeindrucken, er blickt dem Tiger mit versteinerten Gesicht in die Augen. In seinem Geist verwandelt sich der Fächer in seiner Hand in ein Schwert. Noch einmal knurrt er Tiger, doch Yagyu zögert nicht, er ist jetzt schon ganz dicht bei der Bestie. Jetzt ist er auf Armlänge an ihm daran, er kann seinen Arm ausstrecken und den Tiger an der Nase berühren. Er spürt das weiche Fell an seinem vor Angstschweiß nassen Handteller.

Der Geruch des Tieres und das Wissen darum, was diese Pranken und diese Reißzähne aus ihm machen können, lassen Furcht in ihm aufsteigen, aber er lässt sich davon nicht überwältigen, sondern fixiert den Tiger weiter mit den Augen, während er sich langsam zurückzieht. Er weiß genau, wo die Tür ist und dass seine Willensstärke nicht nachlassen darf, bevor er draußen ist. Und tatsächlich gelingt es ihm den Käfig zu verlassen.

Yagyus Gewand ist jetzt triefend nass vor Angstscheiß, er geht zum Shogun und verbeugt sich. Dieser zeigt sich höchst erfreut: "Ausgezeichnet! Ganz wunderbar! Höchst beeindruckend! Da sieht man was jahrelange Übung und Disziplin aus einem Mann machen können." Dann zögert er, ihm kommt noch eine andere Idee: "Sagt man nicht, die Kunst des Zen sei mächtiger als das Schwert? Dazu wäre jetzt noch eine Zen-Demonstration gut." Und natürlich war auch dieses Wort des Shogun ein Befehl.

Takuan hat bisher schweigend dagesessen. Er hat die Leistung Yagyus, seines Freundes und Schülers nicht ohne Stolz betrachtet, doch plötzlich sieht er sich im Rampenlicht. Was kann er tun?

Ohne nachzudenken rennt er auf den Käfig zu, zieht den Bolzen aus der Käfigtür, hüpft herein, als gelte es einen lange vermissten Freund aufzusuchen, geht mit großen Schritten durch den Käfig, spuckt in die Hand und hält sie dem Tiger vors Gesicht. Er kann den heißen Atem des Tieres auf seiner Handfläche spüren. Der Tiger riecht an der Hand und dann - leckt er sie ab. Takuan wundert sich über die rauhe Zunge, dann tätschelt er dem Tiger den Kopf, dreht sich um, eilt auf die Käfigtür und verriegelt sie von außern sorgfältig wieder.

Der Shogun ist sprachlos. Als er sich wieder gefasst hat, stellt er fest: "Ganz eindeutig, Kendo, der Weg des Schwertes, kann sich nicht mit dem Zen-Buddhismus messen."



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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.