Sariputtas letzter Sieg
erzählt von Horst Gunkel
(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2015-01-29

Einer der beiden Hauptjünger des Buddha war Sariputta. Er trägt auch die Ehrenbezeichnung „Marschall der Lehre“, denn er war es, der die Lehrreden und Vorträge des Buddha schon zu dessen Lebzeiten systematisierte. Ihm unterlag die Betreuung vor allem der jüngere Mönche, die die in mnemotechnisch geschickter Form erzählten Sutren (die Lehrreden) auswendig lernten, rezitierten, diskutierten und kontemplierten. Manchmal wird behauptet, so wie die Person Jesu ohne das Werk Petri verloren gegangen wäre, so wäre auch die Lehre des Buddha ohne die Arbeit Sariputtas schon bald in Vergessenheit geraten.

Sariputta entstammte einer wohlhabenden Brahmanen-Familie. Während in der patriachalisch organisierten Gesellschaft des alten Indien der Mutter normalerweise eine eher untergeordnete Rolle zukommt und der Vater die gesellschaftlich dominante Rolle spielt, scheint es in Sariputtas Elternhaus anders gewesen zu sein. Möglicherweise war seine Mutter die einzige Tochter aus einer sehr wohlhabenden Familie, während ihr Mann als eine Art Prinzgemahl eingeheiratet hatte. Indiz dafür ist Sariputtas Name, was „Sohn der (Rupa)Sari“ heißt.

Einst waren Sariputta und sein Freund Moggallana aufgebrochen um die Wahrheit zu suchen. Nach vielen Jahren trafen sie den Buddha und erkannten in ihm den wahrhaft Erleuchteten. Sie schlossen sich dem Buddha an und wurden zu dessen Hauptjüngern. Sie gewannen Einfluss auf die Entwicklung der Sangha und starben kurz hintereinander und kurz vor dem Buddha um das Jahr 480 v. u. Z.

Während Sariputta bis heute zu den großen Weisheitsgelehrten gehört, galt er für seine erfolgreiche Mutter als Versager. Er hätte ein angesehener Politiker oder einflussreicher Kaufmann werden können, und doch zog er das mittellose Leben auf der Straße, die Existenz als Bettelmönch einer gesellschaftlichen Karriere vor.

Aus Sicht der Mutter vielleicht noch schlimmer war die Tatsache, dass mit Sariputta nicht nur einer ihrer Söhne dem normalen gesellschaftlichen Leben entzogen war, sondern sechs weitere. Sariputta nutzte die Gelegenheiten, bei denen er in seiner Heimatstadt vorbeikam, um seine Familie zu besuchen. Seine Mutter freute sich zwar immer, ich wiederzusehen, reagierte aber mit heftigen Vorwürfen.

„Ach, der Herr Sohn gibt sich auch einmal wieder die Ehre. Komm rein. Lass uns deine Rückkehr feiern. Ich hoffe doch, du hast genug von dem ärmlichen Leben auf der Straße. Bist du endlich gekommen, das Leben zu führen, das dir zusteht?“

„Nein, Mutter, ich war nur gerade in der Gegend und wollte es nicht versäumen, dich und meine Brüder zu besuchen. Ich dachte, es würde euch freuen, mich wieder zu sehen.“

„Natürlich freut es mich, dich wieder zu sehen. Aber wieso willst du denn wieder weg? Nun gut, du sagst, du hättest die Wahrheit gefunden. Schön, nimm sie, aber komm endlich zurück, du gehörst nicht zu den Bettlern und Unberührbaren auf die Straße, du bist von nobler Herkunft. Und wie du wieder aussiehst. Hast du denn keine elegantere Kleidung? Soll ich dir etwas anfertigen lassen? So kannst du doch nicht unter die Leute gehen!“

Die Besuche bei seiner Mutter waren anstrengend. Und doch unternahm er sie immer wieder, in der Hoffnung auch seiner Mutter etwas von der Schönheit und der Erhabenheit der Lehre des Buddha vermitteln zu können. Doch leider sperrte sie sich völlig für die Inhalte dieser Lehre. Sie schien nur an Vordergründigem und Äußerlichem interessiert zu sein. Ein so guter und geduldiger Lehrer er den Mönchen war, ein so erfolgloser aber geduldiger Weiser war er in den Begegnungen mit Rupasari, seiner Mutter.

Doch während Rupasari immer sofort abblockte, wenn er auf die Lehre zu sprechen kam, interessierten sich seine Brüder dafür, was das denn war, wovon Sariputta so fasziniert war, dass er das Luxuslleben hinter sich gelassen hatte und in die Armut gezogen war. Wenn ihre Mutter nicht zugegen war, ließen sie sich daher von Sariputta in die Gehemnisse des Dharma einweihen. Und hier hatte Sariputta Erfolg. Wenn er seine Heimat wieder verließ, pflegten sich ein oder zwei seiner Brüder ihm anzuschließen. So war Rupasari schließlich die Mutter von sieben Erleuchteten, jedoch totunglücklich darüber, dass sie alle ihre Söhne verloren habe.

Sariputta hatte sich schon oft die Frage gestellt, ob es seiner Mutter an irgend etwas fehlte, um auch von Buddha, Dharma und Sangha überzeugt zu werden. Doch er erkannte bei genauerem Überlegen, dass sie alle Eigenschaften hatte, um unwiederbringlich auf den Weg zur Erleuchtung zu gelangen. Ihr, der er so viel verdankte – sein Leben, sie war die Mutter, die ihn gesäugt hatte – wollte er helfen, wie er so vielen Menschen geholfen hatte, und doch hatte es bisher nie funktioniert. Der Grund schien darin zu liegen, dass es für sie eine unabdingbare Voraussetzung zum Zuhören zu sein schien, dass er wieder zurück in sein Elternhaus ging, dass er dem Leben auf der Straße entsagte.

So kam ihm im letzten Lebensjahr des Buddha ein Gedanke. „Der Erhabene ist alt und krank“, sagte er sich, „nicht mehr lange wird der Buddha unter uns sein. Was ist mit mir? Geziemt es sich für die Hauptjünger des Buddha vor ihm oder nach ihm zu sterben?“

Er kam zu der Ansicht, dass die Hauptjünger vor dem Buddha sterben würden. Dann betrachte er seinen Körper und seinen Geist in der Meditation und erkannte, dass ihm nur noch wenige Wochen verblieben waren.

Also begab sich Sariputta mit 500 seiner Schüler zum Buddha und sprach: „O Herr, die Zeit für mich ist da, ins Parinibbana eintreten zu dürfen, möget Ihr mir die Erlaubnis dazu erteilen, ich habe die Lebenskraft aufgegeben.“

Der Buddha sah Sariputta eine Weile schweigend an, dann nickte er und sagte: „Wo willst du das Parinibbana erreichen?

„Im Lande Maghada, im Dorfe Nalaka, in dem Zimmer, in dem ich geboren wurde.“

„Tu, was du tun musst, Sariputta, aber halte den Mönchen eine letzte Rede, sie werden nicht mehr das Glück haben, einen Mönch wie dich zu hören.“

Nach der Rede und dem Abschied vom Buddha und von der Mehrheit der Mönche machte sich Sariputta mit nur wenigen Mönchen im Gefolge auf den Weg nach Nalaka. Doch unterwegs schlossen sich ihnen weitere an.

Am Stadttor von Nalaka traf es seinen Neffen Uparevatta und fragte: „Ist deine Großtante zu Hause?“

Und als dieser bejaht hatte, trug er ihm auf: "Sag deiner Großtante, dass ich da bin. Bitte sie, mein Geburtsszimmer herzurichten und teile ihr mit, ich brauche Unterkunft für fünfhundert Mönche.“

Rupasari wunderte sich: „Warum braucht er Unterkunft für so viele? Will er denn in seinem hohen Alter wieder Laie werden und seine Freunde auh davon überzeugen, in den Laienstand einzutreten?“

Sie ließ das Lager für die Mönche bereiten und richtete das Geburtszimmer her. Doch kaum dass Sariputta eingetroffen war, befiel ihn eine schwere Krankheit, die Ruhr, und er hatte arge Schmerzen.

Rupasari, die gerade ihren Sohn heimkehren sah und ihn jetzt so leidend vorfand, war in einem Wechselbad der Gefühle. Und dies um so mehr, als sich merkwürdige Dinge ereigneten: Viele hohe Wesen erschienen, um Sariputta zu sehen, Wesen mit königlicher Kleidung, Wesen, die ein Strahlen umgab. Und wenn sie sie fragte, was sie denn des Weges führte, so sagten diese: "Wir wollen deinen kranken Sohn während seiner Krankheit pflegen."

Rupasari war höchst verwundert ob dieser edlen Besucher, die so offensichtlich ihrem Sohne, den sie immer für einen einfachen Bettler hielt, zu dienen. Schließlich ging sie zu ihrem Sohne und erkundigte sich, wer diese Leute seien.

„Es sind die Vier Großen Könige Mutter.“

„Sie sind gekommen, um dir zu dienen? Bist du denn größer als sie?“

„Sie sind wie Tempeldiener.“

Ehrfürchtig zog sie sich zurück.

Und als ein noch wunderbareres Wesen erschienen und wieder gegangen war, fragt sie abermals:

„Sariputta, wer war denn das?“

„Da war Sakka, der König der Devas.“

„Bist du denn größer als der König der mächtigen Devas?“

„Er ist wie ein Novize, der die Habseligkeiten eines Mönches trägt.“

So ging es noch einige Zeit fort.

Schließlich kam ein Wesen von außergewöhnlichem Glanz. Und abermals erkundigte sie sich.

„Aber Mutter, den müsstest du als Hindufrau doch kennen, das ist Maha Brahma, der höchste Gott der Hindus, den ihr den Schöpfer des Himmels und der Erde nennt.“

Da dachte sie sich: „Wenn selbst der höchste Gott ganz Indiens kommt um meinem Sohn zu dienen, wie mächtig muss dann erst sein Meister, dieser Buddha sein?“ Und plötzlich durchfuhr sie ein nie gekanntes Glück und eine tiefe Freude.

Sariputta aber erkannte: „Glück und Freude sind in ihr entstanden, jetzt ist die Zeit gekommen, ihr den Dharma zu lehren.“

So lehrte Sariputta seiner Mutter den Dharma. Da seine Lehrkraft gewaltig und ihr Herz offen war, erreichte sie noch während der Belehrung den Punkt, von dem an ein Erreichen der höchsten Erleuchtung sicher ist, den Stromeintritt. Und verwundert sagte sie: „Mein Lieber, warum hast du mir all die Jahre dieses köstliche Wissen, das die Schönheit jenseits von Tod und Leben zeigt,  vorenthalten?“

Sariputta antwortete nichts. Er lächelte. Er sagte nie wieder etwas. Es war die Nacht seines Todes. Aber er dachte bei sich: „Es ist gelungen. Was ich so lange versuchte, es ist endlich geglückt. Ich habe meiner Mutter, das Stillgeld dafür gezahlt, dass sie mich großgezogen hat. Sie hat mir das Beste gegeben, was sie hatte, Leben und Fürsorge. Jetzt habe ich ihr das Beste gegeben, das ein Mensch nur geben kann: den Dharma.“
 



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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.