Die attraktive Nonne

erzählt von Horst Gunkel nach: Sangharakshita, Living with Awareness; Windhorse 2003

zuletzt geändert: 2015-02-01

Das Therigatha, die Lieder der buddhistischen Nonnen aus der Zeit des Buddha selbst, überliefert folgende Geschichte.

Trotz ihres geschorenen Haares und ihrer alten, verwaschenen, unförmigen Robe war die noch immer recht junge Nonne Subha eine sehr attraktive Person. Aber sie war nicht nur eine gutaussehende, selbstbewusste junge Frau, sondern auch eine Nicht-Wiederkehrerin, eine sehr hohe Stufe spiritueller Erreichungen. 

Einst ging Subha durch den Wald, als ihr ein junger Mann begegnete, der sie, wie es heißt „zu sinnlicher Freuden, die im Gegensatz zu ihrem Nonnengelübde standen“ zu verführen trachtete. „Oh, wunderschöne Frau, Du siehst so vollkommen aus, wie kannst Du nur Deine liebreizende Schönheit in solch sackartigem Gewand verstecken, Deine Haut ist seidig weich, Deine Lippen voll des Durstes nach Leben und Dein Blick ist eine beglückende Berührung für einen jeden“, sang der junge Mann ihr das Hohelied Salomons.

"Lass´ die törichten Reden, mein Lieber, Du verschwendest Deine Zeit, Du siehst doch, dass ich eine Nonne in der Gemeinschaft des Erhabenen bin, also lass mich weitergehen und kühle Dich an einer erfrischenden Quelle etwas ab.“

Doch er ließ nicht ab: „Oh, Deine wunderschönen Augen, Du herrlichste aller Jungfrauen, füttern in mir die Leidenschaft, sie blinzeln mich an, wie die schönsten Sterne am Himmelszelt.“

„Das ist Unsinn, mein lieber, dieser Körper ist nichts als eine Ansammlung von Knochen, Rotz, Gelenköl, Urin usw. Und die Augen, die Du eben rühmtest, sie sind nicht anderes als kleine wacklige Bälle in einem Astloch.“

Aber der junge Mann akzeptiert ein „Nein“ nicht als Antwort, er schmachtet ihr weiter entgegen, versucht sie zu betören, spielt die Klaviatur romantischer Verse und lobt immer und immer wieder die Schönheit ihrer Augen, welche ihm höchstes Glück bedeuteten.

Da greift Subha zu einer ebenso drastischen wie dramatischen Geste. Sie drückt sich ein Auge heraus, bietet es ihm an und sagt: „Diese Augen bedeuten Dir höchstes Glück? Bitte sehr, hier hast Du eins, mach damit, wie Dir beliebt."

Man kann sich vorstellen, wie entsetzt der junge Mann ist, sein Verlangen weicht auf der Stelle, und er wirft sich vor ihr nieder und bittet sie um Verzeihung.

Diese Geschichte zeigt uns wie körperliches Verlangen in unserem Kopf die Wahrheit verdreht. „Subha“ heißt „strahlend, wunderschön, glückverheißend“. Aber Subha ist das alles nicht wegen eines attraktiven Körpers. Ihre Schönheit ist nichts Physisches, sondern etwas Spirituelles, ja Transzendentes. Indem sie sich ein Auge ausreißt, wird sie daher nicht blind im Sinne der Ausrichtung auf ihre spirituelle Vision, es verringert auch nicht ihre Lieblichkeit. Vielmehr ist es der junge Freier, der trotz seiner beiden Augen im spirituellen Sinne blind ist. 

Was sich seiner Verblendung als sinnliches Leuchten in ihren Augen offenbarte, war nichts anderes als der Glanz der spirituellen Vision, der Anblick der Natur der Dinge, wie sie wirklich sind, die sich ihrer offenbart hatte.


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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.