Gechichten aus dem Vajrayana-Buddhismus

Nagarjuna und der Gehörnte
erzählt von Horst Gunkel
(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2015-02-02


Guru Nagarjuna ist einer der 84 Siddhas (Heilige mit magischen Fähigkeiten), von dem uns das Vajrajana berichtet. Er lebte im siebten Jahrhundert u. Z. und betrieb eine mystische Alchimie.

Einst wandelte er einen Eisenberg im Kupfer um. Das ist sicher eine ganz schöne Leistung für einen Alchimisten, doch normalerweise versuchten die Alchimisten - nicht nur - unseres Kulturkreises, Dinge in Gold umzuwandeln. So sagte sich auch Nagarjuna, ein Kupferberg sei ja ganz nett, für den Volkswohlstand sei jedoch ein Goldberg wesentlich erstrebenswerter, und er schickte sich an, den Kupferberg in einen Berg aus Gold umzuwandeln.

Als er dies gerade ausführen wollte, manifestierte sich vor ihm jedoch der Bodhisattva Manjusri, das Erleuchtungswesen der allesdurchdringenden Weisheit: "Halte inne, Nagarjuna", sprach der Bodhisattva, "denn wahrlich groß ist die Gier der im Samsara (gewöhnlichen Leben) umherirrenden Menschen. Ein Berg aus Gold, wird nur zu Streit und Kämpfen führen und nicht zu allgemeinem Wohlstand, daher solltest du diesen Berg nicht in Gold umwandeln. Tue nichts, was die Gier, den Hass und die Verblendung der Menschen unterstützt."

Nagarjuna verbeugte sich tief vor dem Bodhisattva Manjusri und sagte: "Groß ist deine Weisheit, o Bodhisattva, ich werde selbstverständlich davon Abstand nehmen, diesen Berg in Gold umzuwandeln." Der Bodhisattva freute sich ob der Einsicht des Siddhas und dematerialisierte sich wieder.

Nagarjuna sah ein, dass es unsinnig wäre, die Gier der Menschen durch einen Berg aus Gold anzustacheln. Andererseits aber hatte er noch nie etwas in Gold verwandelt und ihm war auch kein anderer Fall bekannt, wo solche Alchimie gewirkt hätte. Und da er mit ganzem Herzen Alchimist war, beschloss er einen Gegegenstand in Gold umzuwandeln, der nicht zum Streit zwischen den Menschen führen würde, weil es nämlich klar war, wem er gehörte. Und dieser Mensch musste über jeden Gieranfall erhaben sein. Wie er so darüber nachsann, wer dafür in Frage kam, fiel ihm nur eine Person ein, bei der er ganz sicher war, dass sie Gier, Hass und Verblendung überwunden hatte, nämlich sich selbst. Da er jedoch praktisch keine Besitztümer hatte, fiel die Auswahl, was er denn in Gold umwandeln sollte, nicht allzu schwer: seine Almosenschale. Und so experimentierte er weiter um lediglich Kraft seines Geistes diese in Gold umzuwandeln. Und er war erfolgreich! Nagarjuna hatte geschafft, was alle Alchimisten weltweit vergeblich versuchten: er hatte einen beliebigen Gegenstand in reines Gold verwandelt - und dies nur Kraft seines in der Meditation gestählten Geistes.

Er stellte daraufhin die diesbezüglichen Experimente ein. Er wusste dass es ging, wusste aber auch, dass diese Fähigkeit weiterhin nicht genutzt werden sollte, denn Gier, Hass und Verblendung würden unter den Menschen entstehen.

Die Richtigkeit der Einschätzung des Bodhisattva zeigte sich schon bald, denn als Nagarjuna das nächste Mal auf Bettelgang war, sah er die neidischen Blicke vieler Menschen auf seiner goldenen Bettelschale. Er begab sich zurück in seine ärmliche Hütte und saß nachdenklich vor seiner Mahlzeit. Einer der Bewohner des Dorfes, in dem er seinen Bettelgang gemacht hatte, war Nagarjuna zu dessen Hütte gefolgt und beobachteten den großen Siddha durch die offenstehende Tür seiner Hütte. Er war kein Räuber, denn er hatte nicht vor, Nagarjuna gewaltsam dessen Schale zu nehmen. Er war nur ein einfacher Dieb und sagte sich, wenn der heilige Mann mit seinem Mahle geendet hätte, würde er die Schale säubern und irgendwo abstellen. Und wenn Nagarjuna später in Meditation säße, könne er die Schale in Ruhe stehlen. Nagarjuna aber, der große übersinnliche Fähigkeiten hatte, erkannte die Gedanken des Diebes. Er aß in Ruhe seine Mahlzeit zu Ende. Dann aber, anstatt die Schale zu reinigen, warf er sie aus der Tür und rief: "Ich werde sie nicht erst noch für dich spülen, nimm sie gleich!"

Der Dieb war nicht nur völlig überrascht von der Handlung des Siddha, sondern auch beschämt. So trat er reumütig in die Hütte, kniete vor dem Guru nieder und berührte in Demut dessen Füße mit seiner Stirn. "Großer Meister, warum tatet ihr dies? Ich kam als Dieb. Nun aber, da ihr fortgeworfen habt, was ich stehlen wollte, ist meine Gier geschwunden, Stehlen ist überflüssig."

Guru Nagarjuna aber antwortete: "Eigentum verpflichtet. Was immer ich besitze, soll nicht nur mir, sondern allen Wesen zugute kommen. Nimm dir von meinen Sachen, was du möchtest. Nimm die Almosenschale und verkaufe sie, dann hast du genug Geld, dass du nie mehr stehlen musst."

Der Dieb war von der Güte und Selbstlosigkeit Nagarjunas tief beeindruckt und er bat ihn um eine Belehrung. Nagarjuna war davon überzeugt, dass der Dieb auf den richtigen Weg gekommen war, aber er wusste auch, dass er noch nicht die nötige geistige Reife besaß, die tiefen Lehren des Dharma zu verstehen, daher gab er ihm eine Aufgabe, von der er ziemlich sicher war, dass der Ex-Dieb sie meistern konnte. Nagarjuna wandte sich also an seinen neu gewonnenen Schüler: "Stelle dir alle begehrenswerten Dinge wie Hörner auf deinem Kopf vor. Wenn du so meditierst, wirst du ein Licht sehen, das wie ein Smaragd funkelt."

Und um ihm ein sichtbares Meditationsobjekt zu geben, schüttete Nagarjuna einen Haufen Edelsteine, die er bei seinen früheren alchimistischen Experimenten produziert hatte, in die Ecke seiner Hütte. Dann begab sich Nagarjuna hinweg und überließ den Ex-Dieb seinen Übungen.

Nun muss man wissen, dass unser Sprichwort "das ist so überflüssig wie ein Kropf" in weiten Teilen Asiens heißt: "das ist so überflüssig wie Hörner auf dem Kopf eines Menschen". Ob das Sprichwort damals schon gängig war oder ob es erst seit der Geschichte so heißt, ist mir allerdings nicht bekannt. Zumindest der Ex-Dieb schien diese geflügelte Redewendung jedoch nicht zu kennen, denn er nahm in seiner Einfalt den Rat des Guru wörtlich. Er meditierte über diese begehrenswerten Edelsteine und schon nach wenigen Tagen konnte er fühlen, wie ihm allmählich ganz kleine Hörner wuchsen.

Sehr stolz war der Ex-Dieb über diesen erkennbaren Erfolg seiner geistigen Bemühungen, und eifrig übte er sich weiter. Nach eingen Wochen waren die Hörner auf seinem Kopf bereits so groß, dass jeder sie sehen konnte und nach einigen Monaten konnte man schon von einem richtigen kleinen Geweih sprechen. Allmählich schwand jedoch die anfängliche Begeisterung über diesen neuen Besitz, denn die Hörner hörten nicht auf zu wachsen. Im Laufe der Jahre waren die Hörner so gewachsen, dass er nicht nur unter dem Gewicht seines Geweihes stöhnte, wenn er irgendwohin ging. Es war inzwischen so schlimm, dass er nicht mehr durch die Tür der Hütte passte, so dass er nunmehr Gefangener seiner Wohnung war, eine Gefangener seines eigentümlichen Besitzwunsches. So saß er in seiner Hütte mit all´ den Edelsteinen, meditierte über die "begehrenswerten Dinge wie Hörner auf seinem Kopf", wie ihm dies Nagarjuna aufgetragen hatte, und hatte doch Mühe sich zu bewegen, denn überall stieß er mit seinem mächtigen Geweih an. Er war ein Gefanener seines Besitzes und litt buchstäblich unter der Last dieses Besitzes. Tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich des Ex-Diebes und als dieser nicht mehr aus noch ein wusste, erschien Nagarjuna wieder in der Hütte - nach zwölf langen Jahren.

"Nun, wie geht es dir, mein Freund?" fragte der heilige Mann.

"Es ist entsetzlich", wimmerte der Ex-Dieb und schilderte seine Qualen.

Nagarjuna aber lachte und sagte: "Genau so, wie du unglücklich wurdest durch die bloße Vorstellung von Hörner auf deinem Kopf, in ebendieser Weise zerstören die lebenden Wesen ihr Glück, weil sie an ihren falschen Vorstellungen hängen und sie für wirklich halten. Jedwedes Begehren ist wie Wolken, die einen schönen Tag trüben.  Diejenigen aber, deren Geist rein ist und leer von jeder Illusion, werden nicht einmal leiden unter Alter, Krankheit und Tod. Nur wenn du auf alle Besitztümer herabblicken kannst als etwas, das genauso unwirklich, ebenso unerwünscht und in gleichem Maße lästig ist wie die eingebildeten Hörner auf einem Kopf, nur dann wirst du frei sein von den Schrecken des Samsara."

Da fiel es wie Schuppen von den Augen des Ex-Diebes, er erkannte die Leerheit aller Dinge nach denen er in seiner Einfalt zeitlebens strebte, seine Gier schwand dahin und ebenso alle seine Besitzwünsche, er wurde frei von jedem Anhaften - und auch seine Hörner lösten sich in Nichts auf.

So erlangte der Ex-Dieb die Heiligkeit und er ging in die Geschichte der 84 großen Siddhas ein als Nagabodhi, als Nachfolger Nagarjunas.



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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.