horst gunkel
1.12.1995
Artikel für die neue hanauer zeitung
= Linke Zeitschrift für die Region

Die Überwindung des kapitalistisch-konsumistischen Systems in uns

Das derzeitige Wirtschaftssystem in der EU und den anderen hochentwickelten Industriezentren bezeichne ich als kapitalistisch-konsumistisch.

Von den drei Produktionsfaktoren Natur (früher: Boden), Arbeit und Kapital ist es der Produktionsfaktor Kapital, von dem die reale Macht ausgeht. Natur und Arbeit sind (für das Kapital) käuflich; die politischen Interessen werden in erster Linie den Kapitalinteressen unterworfen (und zwar auch bei Beteiligung von Regierungsparteien, die sich programmatisch dem Produktionsfaktor Arbeit und/oder Natur stärker verbunden fühlen, so kann sich das Kapital auch im rot-grünen Hessen wohlfühlen, wachsen und gedeihen). Ursache hierfür sind tatsächliche oder vermeintliche Sachzwänge. Ursache hierfür ist auch die Informations- und Unterhaltungsindustrie, die ein Transmissionsriemen für die herrschende Auffassung ist und die Gier nach Dingen (was das Wesen der kapitalistisch-konsumistischen Systems ausmacht) fördert.

Das Problem ist nicht mehr nur, daß Pressefreiheit die Freiheit hundert reicher Leute ist, ihre Meinung zu publizieren, sondern daß zunehmend Ersatzwirklichkeiten angeboten werden, neben denen die reale Welt im Kampf um Wahrnehmung (z.B. in Form von Einschaftquoten) kaum noch konkurrieren kann. So leben Sportfans, Autofans, Musikfans, Computerfreaks und Videoten in verschiedenen Erkenntnissphären, denen eines gemeinsam ist: die Wirklichkeit wird nicht mehr wahrgenommen - das Kapital hat den Störfaktor Menschen ausgeschaltet. Berlusconi ist nur eine Personifizierung dieses Systems auf durch Kapital und den Transmissionsriemen Medienmacht funktionierende Menschenführung, meist ist diese Phänomen weniger leicht erkennbar, weil nicht so klar personifiziert.

Der hier dargestellte Kapitalismus ist weiterhin das von Marx beschriebene System der Akkumulation des Kapitals, denn Kapital funktioniert in der Form von Rendite, von Verzinsung und damit grundsätzlich nur in einem System tendenziellen permanenten Wachstums. Dennoch hat der hier dargestellte Kapitalismus ein andres Antlitz als der, mit dem sich Marx konfrontiert sah: das klassische Proletariat fehlt, zumindest in den "hochentwickelten" Nationen. Da das Kapital über den Liberalismus ein Bündnis mit der bürgerlichen Demokratie einging, um dem revolutionären Druck des Proletariats zu entgehen, verlegte es sich auf einen 2000 Jahre alten Trick, das Volk zu gewinnen: panem et circenses (Brot und Spiele). Wenn alle satt sind und genügend Ablenkung vorhanden ist, wird das Volk die Mächtigen schon nicht stören. Damit entwickelte sich das kapitalistische System zum kapitalistisch-konsumistischen weiter. "Lust; Spaß; Nimm' dir die Freiheit" sind zum Erkenntnishorizont der modernen Circus-Besucher geworden.

Da ist z.B. das Auto, der Traum von Freiheit und Abenteuer, der unsere Jugendlichen (und nicht nur diese) erfüllt; den eigenen Aktionsraum vergrößern können, sich selbst darstellen (durch Besitz - haste was - biste was; das habe ich, das bin ich; zeig mir dein Auto und ich sage dir, wer du bist), Ungebundenheit, die Vervielfachung der körperlichen Kräfte (durch Geschwindigkeit, Beschleunigung, PS) und natürlich auch das Auto als Platz tasächlicher oder angestrebter sexueller Erlebnisse. Aus dem Traum wird die Notwendigkeit. Da fast jeder ein Auto hat, wird bei allem und allen davon ausgegangen, daß ein Auto vorhanden ist, so ist Mobilität zu einer Notwendigkeit geworden, so hat das Auto unsere Welt verändert: zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Kino, zu Freunden, die Entfernungen sind aufgrund der Infrastrukturveränderungen der letzten 40 Jahre so groß geworden, daß ein rasches Verkehrsmittel nötig ist, und hierzu steht außerhalb der Ballungsgebiete häufig nur das Auto zur Verfügung (vgl. nhz-Serie "Mobilität und Wahnsinn"). Damit werden wir aber abhängig - auch vom Zwang für das Auto anschaffen zu gehen. Zwischen 650 DM/Monat (Corsa) und 1250 DM/Monat (Passat) sind (lt. fairkehr 12/94) die monatlichen Kosten eines Klein- bzw. Mittelklassewagens, d. h. eine Woche pro Monat schaffen wir nur für das Vehikel, eine weitere Woche für das Wohnen. So wird jedes der herrlichen Errungenschaften unseres kapitalistisch-konsumistischen Systems gleichzeitig zu unserem Gefängnis. Das gleiche ließe sich an vielen Beispielen aufzeigen, z. B. an der vor 15 Jahren gekauften herrlichen Stereoanlage und den vielen teuren Schallplatten (Anschaffungen, die man immer wieder hören kann, für die wir viele Arbeitsstunden hingelegt haben, und für den Musikschrank als Lager; dann kam die CD, Umrüsten war angesagt, erneut arbeiten wir, diesmal für die Anschaffung von CDs), die Beispielliste des herrlichen Gefängnisses in das wir uns begeben haben ist unendlich lang, und für jeden weiteren goldenen Gitterstab des Gefängnisses haben wir geschuftet und schuften wir noch immer - schöne neue kapitalistisch-konsumistische Welt!

Das Prinzip, das hinter der kapitalistisch-konsumistischen Gesellschaft steht ist das Prinzip von Gier, Haß und Unwissenheit (den drei Grundübeln im Buddhismus): Gier z.B. bei der herrschenden Klasse: die Gier, die zur Akkumulation des Kapitals führt (am Besten dargestellt in dem Plädoyer für die Gier im Film "Wall-Street"). Gier aber auch bei den kosumistischen Beherrschten im kapitalistisch-komsumistischen System: die Gier nach den Dingen entfernt die Leute von der Sinnfrage und führt zum subjektiv erlebten Zwang der Anhäufung von Dingen (Konsumterror). Dieser Kosumterror führt jedoch zur Unzufriedenheit (dem Buddhistischen Begriff dukkha). Die auf Dritte projezierte Unzufriedenheit ist Haß. Haß auf das System, das den Terror verursacht, häufiger jedoch Haß auf das System, das uns nicht gestattet, die "Segnungen" der kapitalistisch-konsumistischen Welt ad extensio zu genießen, bzw. gegen die, die uns (subjektiv empfunden) daran hindern, z.B. die Ausländer, die uns bekanntlich die Arbeitsplätze und die Frauen wegschnappen. Die Nichterkenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge und das Streben nach vordergründigen Glücksgefühlen ohne Wert und Dauer bezeichnet der Buddhist als Verblendung. Somit sind in der Tat die Grundübel, die der Buddha nennt: Gier, Haß und Verblendung, die Eigenschaften, die uns im Daseinskreislauf, im Tretrad des Goldhamsters, gefangen halten.

Was ist Buddhismus?
Gegenüber diesem kapitalistisch-konsumistischen System sind alle anderen Weltanschauungen verblaßt. Gaben einst die Kirchen ethische Richtlinien, so ist deren Weltfremdheit einerseits und die Verlockungen der kapitalistisch-konsumistische Glitzerwelt andererseits Ursache für den Verfall dieser Institutionen, die ursprünglich die ethische Grundlage der Gesellschaft bildeten oder bilden sollten. Auch die nach dem Versagen der Kirchen versuchten politischen Alternativen zeigten sich als leer und menschenfeindlich. Einen ersten eklatanten Mißbrauch mit der Bereitschaft zur Solidarität trieben die Nazis. Wurde doch die Bereitschaft zum solidarischen miteinander weiter Teile des (verblendeten!) deutschen Volkes im Rahmen der Volksgemeinschaft von beispiellos barbarischen Verbrechen überlagert. Auch die hervorragende Menschheitsidee des Sozialismus/Kommunismus wurde von Personen, die Gier (nach Macht und den Segnungen für die Nomenklatura), Haß auf tatsächliche oder vermeintliche (Bojaren) Klassenfeinde und Verblendung, das heißt die Unfähigkeit die Wirklichkeit wirklichkeitsgemäß zu erkennen (wofür die Realität in realsozialistischen Staaten wie Rumänien, der UdSSR, China, Kamputschea, der DDR... massenweise Beispiele bieten) ad absurdum geführt.

Der erste Protestwelle gegen die kapitalistisch-konsumistische Ideologie nach der Enttäuschung des Stalinismus war das, was wir heute mit "68er" bezeichnen. An den drei Übeln Gier (Konsumterror), Haß (Vietnamkrieg) und Verblendung (Propagandawirkung der Springer-Presse) machte sich dieser Protest in Deutschland fest. Es war ein Versuch die alten Utopien von einer solidarischen Welt neu zu beleben, dem Sozialismus mit menschlichem Antlitz (A. Dubcek) zu schaffen. Über die Ursachen des Scheiterns dieser Bewegung ist viel geschrieben worden, ich möchte dem hier nichts hinzufügen.

Ein neuer Versuch war die Ende der 70er Jahre an Vehemenz gewinnende "grüne" Bewegung (Ökopaxe = ökologische und Friedensbewegung). Die hier vermittelten Werte entsprechen den fünf buddhitsischen silas (Handlungsmaximen): (1) Leben zu schützen, (2) die Privatsphäre der anderen zu schützen, (3) Sexualität nicht als Herrschaftsmittel einzusetzen, (4) wahrheitsgemäß und schonend zu argumentieren und (5) achtsam und bescheiden zu kosumieren.

Wie jede Bewegung ist auch diese eine Zeiterscheinung geblieben. Die Zeit der großen friedenspolistischen und ökologischen Aktivitäten ist vorbei. Was nicht vorbei ist, ist die Grundeinstellung der Personen, die diese Bewegung getragen haben, aber auch all derer die Mitläufer/innen waren und dabei zu einer pazifistischen und ökologischen Grundeinstellung gefunden haben.

Es ist Aufgabe unserer Zeit diese großartigen Menschen zusammenzuführen und ihnen eine Heimat zu geben. Ihnen zu helfen, sich selbst in dieser positiven Richtung weiterzuentwickeln und sich von den drei Grundübeln Gier, Haß und Unzufriedenheit ganz zu berfreien. Es ist die Aufgabe dieser Zeit, hierfür noch mehr Menschen zu gewinnen. Es ist an der Zeit, den friedensbewegten, ökologisch orientierten, sozial engagierten und mit der sog. 3. Welt solidarischen Menschen eine einheitliche Theorie als Rückenstärkung zu geben. Diese - so meine ich - kann und sollte die Theorie sein, die all das beinhaltet, der Dhamma, die Lehre des Buddha.

Daher sollten wir uns hier und jetzt mit dem Dhamma, dem Weltgesetz vom vernetzten Entstehen in Abhängigkeit, das der Buddha gelehrt hat, auseinandersetzen und - vielleicht - dadurch Halt, Zuversicht und Richtung zu gewinnen.



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