(c) Copyright by Sangharakshita and Shantipada - letzte Änderungen 2014-03-05 Die Höhle befand sich in der Mitte eines Sandsteinfelsens, einhundert Meter oberhalb der Reisfelder und Mangohaine. Sie war von Menschenhand gemacht worden. Eine Nische in dem weichen braunen Stein war vertieft und geweitet worden, so dass eine versteckte Höhle entstand, aber das war wohl schon hunderte von Jahren her. Jedenfalls war die Höhle - so lange wie sich selbst der älteste Mann im Dorf oder sogar dessen Großvater zurück erinnern konnte - bewohnt gewesen, besonders während der Regenzeit.
Eine lange Reihe heiliger Männer hatte dort entweder allein oder seltener auch zu zweit oder zu dritt gelebt. Einige der heiligen Männer, die die Höhle bewohnt hatten, gingen nackt umher, andere trugen gelbe oder weiße oder rote Baumwollgewänder oder sogar Kleidung aus Baumrinde. Die meisten schoren ihr Haar komplett, die die ihr Haar nicht abrasierten, trugen es schulterlang oder in Zöpfen hoch gewunden auf ihrem Kopf. Die heiligen Männer verbrachten ihre Zeit auf unterschiedliche Weise. Einige fasteten, einige meditierten, einige wiederholten Lehren, die sie gehört hatten, und andere - die die Höhle zu zweit oder zu dritt bewohnten - verbrachten ihre Zeit in Diskussion. Es gab sogar einige heilige Männer, die überhaupt nichts taten außer den Bewegungen der Wolken am Himmel zu folgen oder dem schrillen Zirpen der Zikaden zuzuhören.
Sumana hatte einen geschorenen Kopf, trug ein gelbes Gewand und verbrachte viel Zeit in Meditation, jedenfalls versuchte er zu meditieren. Er bewohnte die Höhle nun schon fast drei Jahre. Ursprünglich hatte er nur für die Dauer der Regenzeit bleiben wollen. Aber er fand, dass es seiner Meditation zugute kam, wenn er an einem Platz blieb, statt wie es früher seine Gewohnheit gewesen war, ständig von Dorf zu Dorf zu ziehen. So hatte er sich dafür entschieden, auf Dauer in der Höhle zu bleiben. Sumana war der Anhänger eines berühmten, wenngleich umstrittenen Mannes, der vor einigen Jahrzehnten im Zentralland zu lehren begonnen hatte. Dieser Lehrer war allgemein als der Buddha oder der Erleuchtete bekannt, obwohl seine brahmanischen Kritiker ihn spöttisch den Mundika oder Kahlkopf nannten.
Merkwürdigerweise war Sumana dem Buddha niemals persönlich begegnet, obwohl er sehr weit herumgekommen war. Er war niemals zur gleichen Zeit am gleichen Ort gewesen wie der Buddha, der auch den größten Teil des Jahres wandernd unterwegs war. Sumana war jedoch der persönliche Schüler eines heiligen Mannes gewesen, der in seinen jüngeren Jahren eine ganze Regenzeit in Gesellschaft des Erleuchteten verbracht hatte, und der niemals müde wurde, dessen Loblied zu singen. Sumana hatte den heiligen Mann vor sechs Regenzeiten getroffen, nicht lange nachdem er im Alter von neunzehn Jahren das Haus seines Vaters verlassen hatte und auf die Suche nach etwas gegangen war, das seinem Leben mehr Sinn geben würde. In der Lehre des Buddhas, die der heilige Mann ihm erklärte, hatte er gefunden, wonach er suchte. Deshalb war Sumana bei dem heiligen Mann geblieben, und dieser heilige Mann, dessen Name Aniruddha war, schor Sumanas Kopf und kleidete ihn in ein gelbes Gewand. Er hatte ihm auch beigebracht, wie man meditiert, und ihn Verse und Listen von Formeln, die die Botschaft des Buddhas zusammenfassten, auswendig lernen lassen. Als Sumana zwei Jahre bei ihm gewesen war, hatte Aniruddha ihm erklärt, er solle von nun an von Ort zu Ort wandern.
„Das Wasser ist rein, das sich bewegt, der heilige Mann ist rein, der geht“ hatte er gesagt und zitierte damit einen Spruch, der unter den Anhängern des Erleuchteten sehr beliebt war.
Sumana war gegangen und immer weiter gegangen. Neun Monate lang war er von einem von Lehmmauern umfassten Dorf zum nächsten gegangen, von einer von Gärten gesäumten Stadt zur nächsten gewandert, und er verbrachte selten mehr als eine Nacht am gleichen Ort. Gewöhnlich brach er früh am Morgen auf, lange bevor die karmesinrote Scheibe der Sonne über dem Horizont aufgegangen war, dann, wenn die Sterne noch hell am Himmel standen. In der heißen Jahreszeit brach er früh auf, um der Mittagshitze zu entgehen, die einen umbringen konnte. In der kalten Jahreszeit stand er früh auf, weil es in den letzten Stunden der Nacht zu kalt war, um weiterzuschlafen, und er sich bewegen musste, um warm zu werden.
An manchem Morgen konnte man ihn auf den schmalen Lehmwällen entlanggehen sehen, die die Reisfelder umgaben. An anderen Tagen ging er auf gewundenen Pfaden durch den Dschungel oder mit Glück auf einem Stück königlicher Hauptstraße, wo er einer Gruppe von Ochsenkarren begegnete oder ein Pferdefuhrwerk ihn überholte. Nachdem Sumana vier oder fünf Stunden gewandert war, traf er oft auf ein Dorf oder auf eine Ansammlung von Hütten, wo er sein Mahl erbetteln konnte.
Einige heilige Männer hatten die Angewohnheit, mit lauter Stimme auszurufen „Gebt was zu Essen!“, wenn sie ein Dorf betraten. Aber das war nicht die Gewohnheit des Buddhas oder der heiligen Männer, die ihn als ihren Lehrer und ihr Vorbild betrachteten, und es war auch nicht Sumanas Art. Er ging von Haus zu Haus und stand schweigend vor jeder Tür, bis man eine oder zwei Handvoll Reis in seine Bettelschale gab, oder bis deutlich wurde, dass er nichts bekommen würde. Gelegentlich scheuchte man ihn auch mit harten Worten weg.
„Wir wollen keine Glatzköpfe hier!“, würde vielleicht ein unfreundlicher Brahmane ausrufen.
Wenn seine Bettelschale voll genug war, würde Sumana sich zu einem Mangohain zurückziehen, oder wenn es in der Nähe keinen Mangohain gab, zum Fuße eines Banyan-Baumes oder in eine stille Ecke von jemandes Veranda oder sogar in einen leeren Kuhstall, um dort seine einzige Mahlzeit dieses Tages zu verzehren, die in Einklang mit den Gepflogenheiten des Buddhas und seiner heiligen Männer am Mittag beendet sein musste. Nachdem er sein Essen beendet hatte, würde Sumana eine Weile ausruhen, danach würde er meditieren oder mit einigen Leuten aus dem Dorf reden, die sich bei ihm versammelt hatten, bis es Zeit wurde, dass er sich nach einem Nachtlager umsah.
In einigen Dörfern - besonders dort, wo der Name des Buddhas schon bekannt und geachtet war - würde er gebeten, die Lehre, der er folgte, darzulegen. Wenn das geschah, würde er einen der Verse oder eine der Listen von Lehrformeln rezitieren, die er von Aniruddha gelernt hatte, um sie dann Zeile für Zeile oder Punkt für Punkt in seinen eigenen Worten zu erklären. Er würde oft einen Punkt mit Hilfe einer Geschichte illustrieren, denn die Dorfbewohner liebten Geschichten, und Sumana selbst hatte Spaß am Geschichtenerzählen. Manchmal wurden Fragen gestellt. Sumana würde sie beantworten. Seine Antworten würden zu weiteren Fragen führen, und so mochte sich eine Diskussion entspinnen, die bis tief in die Nacht dauern konnte.
Nicht alle Tage waren in solchem Einvernehmen zu Ende gegangen. Mehr als einmal im Laufe der neun Monate seiner Wanderschaft war er den ganzen Tag gegangen, ohne auf ein Dorf oder ein paar Hütten zu treffen, wo er sein Essen erbetteln konnte. Mehr als einmal sah er sich deshalb gezwungen, mit leerem Magen zu übernachten. Einmal hatte er sich im Dschungel für drei Tage und drei Nächte verirrt und musste sich von wilden Früchten und Beeren ernähren. Aber das war nicht sein einziges Missgeschick gewesen.
Eines Morgens, als er seinen Weg zwischen den Geröllblöcken eines ausgetrockneten Flussbettes suchte, fand er sich plötzlich eingekreist von fünf oder sechs grimmig aussehenden Männern, die alle Schwerter trugen. Die Männer hatten ihn ergriffen, seine Hände und Füße mit einem Stück Liane gebunden und ihn hinter einen Geröllblock abgelegt. Aus ihren Gesprächen hatte er aufgeschnappt, dass sie Anhänger der Großen Mutter waren und dass sie nach einem jungen Mann suchten, den sie ihr in der nächsten Vollmondnacht opfern konnten. Ob er selbst das Opfer sein sollte, fand Sumana nie heraus. Seine Häscher waren in Schlaf gesunken, nachdem sie einen Krug mit Fusel geleert hatten, und er hatte seine Hände freibekommen, seine Fußfessel gelöst und flugs und geräuschlos das Weite gesucht.
Sumana war treu Aniruddhas Anweisungen gefolgt. Er war gewandert und hatte nicht aufgehört zu wandern. Aber obwohl er gewandert war und nicht aufgehört hatte zu wandern, hatte Sumana zu seiner Enttäuschung gefunden, dass die zweite Hälfte von Aniruddhas Spruch sich nicht erfüllt hatte. Der heilige Mann war in der Tat gegangen, der heilige Mann aber war nicht rein. Reinheit bedeutete natürlich geistige Reinheit, und geistige Reinheit erreicht man durch Meditation, worin der Geist sich von der Verhaftung an weltliche Dinge löst und zu höheren, strahlenderen Stufen von Bewusstsein aufsteigt, von wo die Wahrheit direkt erfahren werden kann. Das Wandern von Ort zu Ort sollte bewirken, dass das Verhaftetsein des heiligen Mannes mit weltlichen Dingen geschwächt wurde, so half das Wandern von Ort zu Ort zu meditieren und machte es leichter, Reinheit des Geistes zu erlangen. Das war zumindest die Theorie.
In der Praxis hatte Sumana das nicht so einfach gefunden. Das Wandern von Ort zu Ort mochte tatsächlich sein Verhaftetsein mit weltlichen Dingen geschwächt haben, obwohl er sich dessen nicht ganz so sicher war. Aber es hatte ihn auch rastlos und besorgt gemacht, und Unruhe und Besorgtheit waren - das wusste er - genauso ein Hindernis für Meditation (und damit das Erreichen geistiger Reinheit), wie es Verhaftung an weltliche Dinge war. Zweimal am Tag hatte er versucht zu meditieren, am Morgen, bevor er aufbrach, und am Abend bevor er sich zum Schlafen niederlegte. Meistens war er jedoch zu rastlos, um lange in der Meditationshaltung sitzen zu können, oder er war zu ängstlich wegen der wilden Tiere oder zu sehr in Sorge um seine tägliche Ration Reis, um seine Gedanken sammeln zu können. Manchmal war er einfach zu müde zum Meditieren, weil entweder Kälte oder Hunger oder harter Untergrund ihm den Schlaf geraubt hatten, oder weil er den ganzen Tag lang gelaufen war. Es tat ihm deshalb nicht leid, als er nach neun Monaten zum Ende der heißen Jahreszeit und zu Beginn der Regenzeit seine Wanderung von Ort zu Ort unterbrechen musste und in der Höhle Wohnung nehmen konnte.
Er hatte die Höhle durch Zufall gefunden. Er war am späten Nachmittag in das Dorf gekommen, als es schon zu spät für seinen Bettelgang war. Die Leute im Dorf waren recht freundlich zu ihm gewesen und hatten ihm nicht nur einen erfrischenden Trunk gegeben, sondern ihm auch angeboten, ihn am nächsten Morgen mit Essen zu versorgen, wenn er über Nacht dabliebe. Er könne in der Höhle bleiben, hatten sie gesagt. Zu diesem Zeitpunkt war es schon recht dunkel gewesen. Ein Junge wurde geschickt, der ihm den Weg zu der Höhle zeigte. Sie liefen über Felder, durchquerten kleine Wasserläufe und kraxelten den Felshang hinauf. Am Ende stand Sumana im Inneren der Höhle und versuchte in völliger Dunkelheit eine Ecke zu finden, in der er schlafen konnte.
Am Morgen war er zum Ausgang der Höhle gekrochen und hatte hinausgesehen. Die Sonne stand hoch am blauen Himmel, und die Erde strahlte in goldenem Licht. Unter ihm waren die dunklen, bewaldeten Abhänge des Berges; an den Fuß des Berges schloss sich das braun-grüne Muster von Feldern und Gärten an und - jenseits dieses Musters - die grauen Dächer des Dorfes, von denen dünne Rauchsäulen gerade in die klare Luft aufstiegen. Hinter dem Dorf erstreckte sich - überall und bis zum Horizont - die riesige Fläche des Waldes, über die sich hier und da wie ein Schiff auf grüner See ein Berg erhob.
Sumana war tief gerührt von dem Anblick. Er wollte den ganzen Tag am Eingang der Höhle verbringen und einfach nur das Panorama anschauen. Er wollte nicht nur einen Tag lang hinaus- und hinunterblicken, sondern jeden Tag. Und dann hatte er eine Idee. Die Regenzeit begann gerade, und heilige Männer, auch die heiligen Männer, die dem Buddha folgten, blieben, anstatt zu wandern, für die vier oder fünf Monate der Regenzeit an einem Ort. Warum sollte er die kommende Regenzeit nicht in der Höhle verbringen, natürlich unter der Vorraussetzung, dass die Dorfbewohner nichts dagegen hatten, und dass er sein Essen jeden Tag an ihren Türen erbetteln durfte? Zum Glück für Sumana hatten die Dörfler keinerlei Einwände. Sie waren sogar hocherfreut, dass wieder ein heiliger Mann in der Höhle leben würde.
Das Oberhaupt des Dorfes drückte aus, was alle dachten, „Es bringt dem Dorf Glück, wenn ein heiliger Mann in der Höhle lebt.“
Sumana hatte daher die Höhle bezogen und hatte dort die Regenzeit verbracht. Eigentlich hatte er nun schon drei Regenzeiten in der Höhle verbracht und auch drei kalte Jahreszeiten und drei heiße Jahreszeiten. Er hatte nämlich im Verlauf der ersten Regenzeit eine wichtige Entdeckung gemacht. Er hatte herausgefunden, dass er besser meditierte und leichter geistige Reinheit erlangte, wenn er an einem Ort blieb und nicht unablässig unterwegs war. Am Ende der Regenzeit hatte er sich deshalb dafür entschieden, seine Wanderungen nicht fortzusetzen. Und seitdem hatte er sie auch nicht wieder aufgenommen. Er hatte deshalb ziemliche Schuldgefühle, besonders dann, wenn ihm der Merkspruch, der unter den Schülern des Buddhas so populär war, in den Kopf kam.
„Der heilige Mann ist rein, der geht“, redete es auf ihn ein, „der heilige Mann ist rein, der geht.“
In solchen Augenblicken hatte Sumana das Gefühl, dass er kein echter heiliger Mann war. Er fragte sich auch, was Aniruddha wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass sein ehemaliger Schüler nicht länger, wie empfohlen, von Ort zu Ort wanderte. Was der Buddha dazu sagen würde, wagte er sich schon gar nicht vorzustellen.
Während der ersten Regenzeit in der Höhle waren Sumanas Bewegungen natürlich ziemlich eingeschränkt gewesen, was, wenngleich nicht im gleichen Ausmaße, auch für die nachfolgenden Regenzeiten gegolten hatte. Die Regenfälle waren in diesem Teil der Welt berüchtigt heftig. Und er wagte sich jeden Tag nur hinaus, um schnell den schlüpfrigen Hang hinunter und weiter durch die überfluteten Felder zum Dorf zu flitzen, um sein Essen zu bekommen. Dabei benutzte er manchmal ein breites grünes Bananenblatt als Regenschirm. Die Gewohnheit, Essen bis zum anderen Tag aufzuheben, wurde von den mehr asketisch gesinnten heiligen Männern missbilligt, und auch Sumana versuchte sich daran zu halten.
Während der zwei anderen Jahreszeiten konnte er sich freier bewegen, und seine Aktivitäten folgten einer bestimmten Routine. Er stand vor der Dämmerung auf, wusch sich an einer aus dem Fels gehauenen Zisterne neben dem Höhleneingang, saß dann auf dem Felsvorsprung vor der Höhle und meditierte für zwei oder drei Stunden. Wenigstens versuchte er zu meditieren. Obwohl er nicht länger unruhig und besorgt war, fand er es noch immer schwierig, lange in Meditationshaltung zu sitzen, fand es schwierig, seine Gedanken zu sammeln, und noch schwieriger, in diese höheren, strahlenden Geisteszustände aufzusteigen, in denen man die Wahrheit direkt wahrnehmen kann. Dennoch gab es auch Zeiten, in denen er wirklich meditieren konnte, in denen er wirklich geistige Reinheit erreichte, und daher fühlte er sich weniger schuldig, dass er nicht von Ort zu Ort wanderte.
Wenn Sumana seine Meditation beendet hatte, streckte er seine Glieder, saß eine Weile einfach nur da und schaute auf die sonnenüberflutete Landschaft vor ihm hinab und ließ die Stille – nur von einem gelegenlichen Vogelruf begleitet – tief in sein Herz einsinken. In diesen Augenblicken erlebte er – zu seiner Überraschung - manchmal tieferen Geistesfrieden als in seiner (eigentlichen) Meditation.
Danach kam, was während des ersten Jahres in der Höhle der schwierigste Teil in Sumanas Tagesablauf gewesen war, das morgendliche Bad. Das Bad selbst war nicht das Problem. Sumana wusch sich in dem sprudelden Wasser des Flusses, der - nachdem er zwischen den Felsen des Berges, in dem die Höhle lag, hinabgerauscht war – durch die Felder und Gärten und weiter am Dorf vorbei in Richtung Dschungel floss. Was sein morgentliches Bad schwierig machte, war die Tatsache, dass drei oder vier Mädchen aus dem Dorf ihr morgendliches Bad auch in dem Fluss nahmen oder sich auch dort wuschen, als sie Sumanas Gewohnheit entdeckt hatten.
Zu Anfang hielten sich die Mädchen flussabwärts, wurden aber bald kühner und rückten jeden Tag ein Stückchen flussauf bis Sumana nicht nur jedes Gekicher und jedes Kreischen hörte, sondern viel mehr von ihnen sehen konnte, als es für einen heiligen Mann angemessen war, was offensichtlich in der Absicht der Mädchen lag. Aniruddha hatte ihm gesagt, was er unter solchen Umständen am besten tat. Daher nahm Sumana sein Bad von nun an später und noch weiter flussaufwärts. Aber das nutzte wenig. Die Mädchen nahmen ihr Bad auch später und noch weiter stromaufwärts und Sumana fand es immer schwieriger, nicht in ihre Richtung zu sehen. Ja, er erlebte manchmal, wie sein Herz bis zum Halse schlug, wenn er auf dem Weg hinunter zum Fluss war. Eines Tages, nachdem das älteste der Mädchen aus ihrem Kleid geschlüpft war, schwamm sie von hinten an Sumana - der hüfttief im Wasser stand – heran und bespritze ihn spielerisch mit Wasser. Sumana raffte nur sein gelbes Gewand zusammen und floh.
Glücklicherweise hatte ein alter Mann – der auf dem Feld arbeitete – den Vorgang gesehen und augenscheinlich den Dorfbewohnern davon erzählt, denn vom nächsten Tag an nahmen die Mädchen ihr Bad fast auf Höhe des Dorfes, wo sie mehr unter Aufsicht und außer Sichtweite für Sumana waren. Damit war die Geschichte für Sumana allerdings noch nicht erledigt. Viele Nächte lang wurde er von Träumen heimgesucht, in denen ihn eine Horde nackter Frauen hinunter ins Wasser zog und verführte, um sich dann in grässliche Dämonen zu verwandeln, die ihn mit Hohn und Spott überhäuften, weil er seine Gelübde gebrochen hatte. Es dauerte Monate, bis die Träume völlig aufhörten, aber sie hörten auf und seit dieser Zeit war das morgendliche Bad nicht mehr der schwierigste Teil in Sumanas Tagesablauf, sondern oft – besonders in der heißen Jahreszeit – der leichteste und schönste.
Vom Fluss aus ging Sumana geradewegs ins Dorf und machte dort seine Bettelrunde. An den meisten Tagen war seine Schale voll nachdem er nur fünf oder sechs Haustüren aufgesucht hatte, und da es fast dreihundert Häuser im Dorf gab, brauchte er jedes Haus nicht öfter als alle paar Monate zu besuchen. So war er keine Bürde für das Dorf, es war auch nicht wahrscheinlich, dass er eine Abhängigkeit (von) oder Anhänglichkeit zu einer speziellen Familie entwickelte. Vor diesen Fehlern hatte der Buddha - nach Aussage von Aniruddha - seine heiligen Männer wieder und wieder eindringlich gewarnt.
Wenn die Tonschale in seinen Händen nicht nur mit Reis, sondern auch mit Linsen und Curry und manchmal auch Süßigkeiten gefüllt war (denn der gutaussehende junge heilige Mann war ziemlich beliebt bei den Hausfrauen des Dorfes, die in ihm heimlich schon einen Heiratskandidaten für ihre Tochter oder Schwester sahen), kehrte Sumana zu seiner Höhle zurück. Manchmal folgte er dem einen Weg durch die Reisfelder, manchmal einem anderen, er war aber immer vorsichtig, keine Schlange oder Eidechse aufzuschrecken, die auf dem Weg lag und in der Sonne badete. Wieder in der Dunkelheit und Kühle seiner Höhle angekommen, aß er, was er erbettelt hatte. Er aß so langsam und achtsam wie er konnte und versuchte daran zu denken, dass er vor allem aß, um sein Leben zu erhalten, das wiederum dem Ziel diente, geistige Reinheit zu erlangen und Einsicht in die Wahrheit.
Wenn er sein Mahl beendet hatte, wusch er seine Schale mit dem Wasser aus der Zisterne und legte sie zum Trocknen in die Sonne. Dann legte er eine kurze Ruhepause ein, denn es war ein Grundsatz unter den heiligen Männern des Buddhas, dass man nach der einzigen, oft schweren Mahlzeit des Tages eine Verdauungspause einlegte. Nachdem seine Verdauungsmüdigkeit sich gelegt hatte, verbrachte Sumana den Nachmittag mit solchen Dingen wie dem Flicken seiner gelben Roben, die sich immer wieder in dornigen Zweigen verfingen und aufrissen, dem Ausfegen seiner Höhle und dem lauten Aufsagen der Verse und Listen mit Lehrformeln, die er von Aniruddha gelernt hatte.
Zweimal im Monat - am Vollmond- und am Neumondtag - schor er seine Haare und seinen Bart mit dem Rasiermesser, das zusammen mit den drei gelben Roben, dem Gürtel, dem Wasserfilter, der Bettelschale und einer Nadel eines der acht persönlichen Besitzstücke war, die einem heiligen Mann und Anhänger des Buddhas erlaubt waren. Gegen Abend saß er draußen auf dem Felsvorsprung vor der Höhle und betrachtete die dunkler werdende Landschaft, bis es Zeit für ihn war zu meditieren. Wenn er schließlich seine Augen wieder öffnete, war der Himmel mit Sternen übersät, und er betrachtete für eine Stunde oder länger die Sterne, die zu zehntausenden in den Tiefen des Raumes funkelten und leuchteten. Oder er sah dem Mond zu, wie er aufging, oder einem Kometen, der plötzlich seinen feurigen Schweif über den Nachthimmel zog.
Manchmal, wenn der Mond am Himmel stand, kamen die Nachdenklicheren unter den Dorfbewohnern und saßen mit Sumana auf dem Felsvorsprung im Mondlicht. Eine Weile saßen sie dann schweigend zusammen, als ob sie unwillig wären, die größere Stille der Natur um sie herum mit ihren menschlichen Stimmen zu unterbrechen. Wenn Sumana das Gefühl hatte, dass das Schweigen zwischen ihnen lange genug angedauert hatte, sagte er einen Vers oder eine Liste von Lehrformulierungen auf. Zu Beginn sprach er ganz leise und dann lauter und lauter. Wenn Sumana dann fertig war, hatten sich die Anwesenden wie aus tiefem Schlaf aufgerichtet, und dann erklärte er die Verse oder die Liste. Es folgten Fragen und Antworten und eine anschließende Diskussion, so wie er es von ähnlichen Gelegenheiten in seinen Wandertagen her kannte. Wie bei diesen früheren Gelegenheiten konnte die Diskussion bis tief in die Nacht hinein dauern. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sich in der Diskussion auf dem Felsvorsprung vor der Höhle von Treffen zu Treffen eine Kontinuität ergeben konnte, da die gleichen Männer immer wieder kamen. Das Gespräch konnte deshalb tiefer gehen.
Gelegentlich ging es so tief, dass Sumana in manchen Nächten - noch lange nachdem die anderen schon gegangen waren - dasaß und gedankenvoll die Sterne betrachtete. Da verfolgte er Gedanken über das Universum, über das menschliche Los, über den Tod, Meditation, geistige Reinheit und die Wahrheit. Es gab da auch Gedanken über seinen gegenwärtigen Lebensstil, denn obwohl sich seine Meditation verbessert hatte, hatte Sumana noch immer Schuldgefühle, weil er an einem Ort lebte. Er konnte noch immer das Gefühl nicht los werden, dass er kein richtiger heiliger Mann war, und fragte sich noch immer, was wohl Aniruddha oder gar der Buddha von ihm denken würde. Manchmal waren da Gedanken, die er besser nicht wahrhaben wollte, und die er in den hintersten Winkel seines Hirns zu verbannen suchte.
An einem windigen Morgen kurz vor Beginn der Regenzeit machte Sumana seinen Bettelgang im Dorf, als er - nur einen Steinwurf weit vor ihm - einen anderen heiligen Mann sah, der offensichtlich auch auf seinem Bettelgang von Tür zu Tür ging. Wandernde heilige Männer waren kein ungewöhnlicher Anblick im Dorf, und zuerst schenkte Sumana dem Neuankömmling nicht viel Aufmerksamkeit. Auch war er an diesem Morgen ein wenig in Gedanken. Am vorigen Abend hatte es ein Gespräch auf dem Felsvorsprung vor der Höhle gegeben, und einige Gedanken aus diesem Gespräch beschäftigten ihn noch immer sehr, besonders Gedanken über seinen gegenwärtigen Lebensstil. So sehr war er gedanklich beschäftigt, dass er nach einigen Minuten - ohne es zu bemerken - direkt hinter dem anderen heiligen Mann stand, der langsamer gegangen sein musste. Genau wie Sumana hatte der Neuankömmling einen geschorenen Kopf und trug ein gelbes Gewand, woraus Sumana schloss, dass er wahrscheinlich ein Anhänger des Buddhas war. Er befragte ihn jedoch nicht darüber, denn es war eine Gepflogenheit der heiligen Männer des Buddhas, während ihrer Bettelrunde zu schweigen. Nachdem er zwei Häuser aufgesucht hatte, verließ Sumana das Dorf in Richtung der Höhle. Auf halbem Weg den Hang hinauf bemerkte er, dass der andere heilige Mann ihm folgte. Er konnte ihn nicht wirklich sehen, aber er hörte, wie die Steine unter den Füßen von jemandem den Abhang hinunter rollten und er wusste, dass es der andere heilige Mann war. Wie vermutet, kam der andere nach kurzer Zeit in Sicht, und er bewegte sich am Felsvorsprung entlang auf Sumana zu. Sumana konnte nun erkennen, dass er etwas größer gewachsen war als der Durchschnitt und ungefähr das Alter von Aniruddha hatte. Aniruddha war mehr als doppelt so alt wie Sumana selbst.
„Wenn du nichts dagegen hast, Freund", sagte der Fremde in einem Dialekt, mit dem Sumana nicht völlig vertraut war, den er aber gut genug verstand, „werde ich mein Mahl hier mit dir auf dem Felsvorsprung einnehmen."
Natürlich hatte Sumana keine Einwände, und bald saßen die beiden heiligen Männer Seite an Seite auf dem bloßen Fels und jeder arbeitete sich durch den Inhalt seiner Bettelschale, man aß langsam und achtsam und natürlich im Schweigen. Als sie beide gegessen hatten, brachte Sumana dem anderen heiligen Mann Wasser zum Säubern seiner Bettelschale und bot ihm einen Bambuszahnstocher an. Diese kleinen Dienste nahm der Neuling schweigend, aber mit einem freundlichen Lächeln, an. Sumana hoffte, dass dieses Lächeln Gesprächsbereitschaft signalisierte, denn der junge heilige Mann wollte zu gern mit seinem unerwarteten Besucher reden. Er wollte von ihm wissen, wer er war, woher er kam, warum er ihm zu der Höhle gefolgt war und sein Mahl mit ihm auf dem Felsvorsprung eingenommen hatte. Aber so freundlich das Lächeln des Neuen auch aussah, es bedeutete - erst einmal - noch keine Konversation. Nachdem der Gast Sumanas Zahnstocker benutzt hatte, streckte er seine Beine aus und schloss seine Augen, wahrscheinlich um eine Verdauungspause einzulegen.
Sumana musste also sein Verlangen nach Unterhaltung zügeln, denn unter den heiligen Männern des Buddhas - und Sumana war mittlerweile überzeugt, dass der Neue dazugehörte - war es gegen die Etikette, dass ein jüngerer heiliger Mann einen älteren in ein Gespräch zog, oder ihm gar persönliche Fragen stellte. Er musste sein Verlangen nach Konversation für eine sehr lange Zeit im Zaum halten. Nach seiner Verdauungsruhe setzte sich der Ältere - wie Sumana ihn nun bei sich nannte - zurecht zur Meditation, und der junge heilige Mann konnte nicht anders, als ihm zu folgen. Sie meditierten nach Sumanas Gefühl eine Ewigkeit, d. h. der Ältere meditierte, Sumana versuchte mit gemischtem Erfolg, seine Gedanken zu sammeln und seinen Geist zu reinigen. Als der Ältere zu guter Letzt seine untergeschlagenen Beine löste und sich gegen den Felsen zurücklehnte - was Sumana schon viel eher getan hatte - war der Himmel schon mehr grau als blau, und man konnte die ersten Sterne sehen. Aber selbst jetzt sagte der Ältere noch immer nichts. Für eine Stunde oder länger saß er da und betrachtete die Sterne, so wie Sumana selbst es schon so oft getan hatte. Erst als die Gegenstände seiner Kontemplationen den Himmel mit ihrem Glanz ausfüllten und Sumana zu denken begann, dass sein Besucher gleich so unversehens aufbrechen könnte wie er gekommen war, wandte der Ältere sich dem jungen heiligen Mann zu und sprach.
„Wenn du nichts dagegen hast, Freund," sagte er im selben Dialekt wie zuvor, „bleibe ich über Nacht bei dir in der Höhle."
Wieder hatte Sumana keine Einwände und fügte diesmal hinzu, er würde sich über die Gesellschaft des Ehrwürdigen freuen, dass die Höhle groß genug für fünf oder sechs Personen war, dass er selbst dort in den letzten drei Jahren allein gelebt hatte, dass die Höhle warm und trocken und frei von Fledermäusen und Skorpionen war, und dass immer Wasser in der Zisterne war, selbst wenn es manchmal nicht ganz so rein und frisch war, wie man wünschen könnte. Auf all dies und vieles mehr von ähnlichem Inhalt antwortete der Ältere mit dem gleichen freundlichen Lächeln, mit dem er früher Sumanas Dienste entgegengenommen hatte. Das Lächeln war jedoch so warmherzig und so voller Verständnis, wie Sumana beim Licht der Sterne leicht erkennen konnte, dass der junge heilige Mann nicht nur das Gefühl hatte, dass seine alltäglichen Bemerkungen auf völlige Akzeptanz gestoßen waren, sondern dass der Ältere auf jede einzelne seiner Bemerkungen geantwortet hatte, ohne indessen gesprochen zu haben. Als er sich in dieser Nacht auf sein Lager aus Blättern drei Ellen vom Älteren entfernt niederlegte, hatte er daher das Gefühl, dass zwischen ihnen nach allem ein Gespräch stattgefunden hatte. Vielleicht war es so, und es gab vieles, worauf er seine Erwartungen für den nächsten Tag richten konnte.
Der nächste Tag war in der Tat ein glücklicher Tag für Sumana. Der Ältere stand viel eher von seinem Lager auf als Sumana, aber abgesehen davon taten er und der junge heilige Mann alles gemeinsam. Sie meditierten zusammen, sie nahmen ihr Bad im Fluss zusammen, sie machten ihren Bettelgang im Dorf zusammen, Sumana ging ein paar Schritte hinter dem Älteren, wie es sich gehörte, sie kehrten gemeinsam zur Höhle zurück, sie aßen zusammen und legten zusammen eine kurze Ruhepause ein. Nach ihrer Mittagspause schien der Ältere jedoch in kommunikativerer Stimmung als am Vortag. Mit dem gleichen freundlichen Lächeln, das schon solch einen Eindruck auf Sumana gemacht hatte, begann er einen der Verse zu rezitieren, die die Lehre des Buddhas zusammenfassten, dann nickte er Sumana zu, das gleiche zu tun. Auf diese Weise, indem jeder von ihnen abwechselnd einen Vers oder eine Liste mit Lehrformeln aufsagte, verbrachten sie den größten Teil des Nachmittags. Sie hörten erst auf, als Sumanas Vorrat an Versen und Listen erschöpft war. Der Ältere fragte Sumana dann nach der Bedeutung einiger der schwierigeren Formulierungen und Worte, offensichtlich, um sein Wissen von der Lehre des Buddhas zu testen. Seine Fragen waren so sanft und rücksichtsvoll, dass Sumana überhaupt nicht dass Gefühl hatte, befragt oder gar einer Prüfung unterzogen zu werden, wie es sich manchmal angefühlt hatte, wenn Aniruddha ihn abfragte. Er fühlte sich vielmehr stimuliert, angeregt, ja inspiriert, und antwortete auf die Fragen mit so viel Gelassenheit und Freiheit, als wenn sie gar nicht von außen kämen, sondern aus den Tiefen seines eigenen Inneren.
Trotzalledem war er sich einer vagen Unruhe bewusst. Wohl waren ihm die meisten Verse und Listen, die der Ältere aufgesagt hatte, bekannt, einige waren aber nicht nur neu für ihn, sondern waren nach seiner Auffassung nicht ganz in Einklang mit der Lehre des Buddhas. Nach der Lehre des Buddhas bestand das spirituelle Leben zur Hauptsache in der fortschreitenden Überwindung negativer Geisteszustände. Die bisher unbekannten Verse und Listen beschrieben es aber hauptsächlich als eine Entwicklung positiver Geisteszustände. Waren sie vielleicht eine nicht autorisierte Erweiterung der Lehre des Buddhas, und wenn es so war, was war ihre Quelle? Bevor Sumana den Älteren fragen konnte, setzte der sich jedoch für die Meditation zurecht, und der junge heilige Mann sah sich (wieder) genötigt abzuwarten.
Bevor sie mit der Meditation anfingen, sagte der Ältere, dass er - wenn Sumana nichts dagegen habe - ein paar Tage länger bei ihm bleiben wolle, womit sich Sumana sofort freudig einverstanden erklärte. In den nächsten paar Tagen meditierten, badeten, bettelten, aßen und ruhten Sumana und der Ältere daher weiter zusammen. Sie verbrachten auch weiter den größten Teil des Nachmittags mit dem Rezitieren von Versen und Listen mit Lehrformeln. Sumana wiederholte sich natürlich jedesmal, und der Ältere fuhr fort, das Wissen des jungen heiligen Mannes über die Lehre des Buddhas zu testen. Der Ältere erklärte Sumana auch detailliert die abstruseren und kryptischen Verse und Listen, und machte alles so klar und gleichzeitig so interessant, dass Sumanas Vertrauen in seinen neuen Begleiter wuchs, wie ein Bambus in der Regenzeit, und er die Fragen vergaß, die er stellen wollte.
Dieses Vertrauen wurde jedoch eines Nachmittags ernstlich erschüttert. Nachdem der Ältere einen Vers zum Thema Erkenntnis der Wahrheit mit noch größerer Klarheit als schon gewöhnlich erläutert hatte, fühlte sich Sumana bewegt, ihm zu erzählen, wie er neun Monate lang von Ort zu Ort gewandert war, wie er gefunden hatte, dass er trotz ständigen Unterwegseins nicht rein war, er sich in der Höhle für eine Regenzeit niedergelassen hatte und nun hier seit drei Jahren lebte. Er erzählte ihm auch, dass, obwohl er besser meditierte und geistige Reinheit leichter erreichte, er sich schuldig fühlte, dass er kein Wanderleben führte, und manchmal zweifelte, ob er wirklich ein heiliger Mann war.
Darauf erklärte der Ältere, nicht ohne Anzeichen von Belustigung: „Ein heiliger Mann zu sein, hat nichts damit zu tun, dass man von Ort zu Ort zieht und nichts damit zu tun, dass man nicht von Ort zu Ort zieht."
Nichts damit zu tun, dass man von Ort zu Ort zieht? Sumana war ziemlich schockiert von dieser offensichtlichen Zurückweisung des Lebensstils, den Aniruddha ihm eingeschärft hatte, eines Lebensstils, dem er sich trotz seines langen Aufenthaltes in der Höhle im Prinzip noch immer verpflichtet fühlte. Die Fragen, die er stellen wollte und vergessen hatte, kamen nun mit doppelter Macht zurück. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte er, der Ältere müsse einer dieser abtrünnigen Schüler sein, von denen Aniruddha ihm erzählt hatte, die die Lehre des Buddhas nach ihrem eigenen Gutdünken auslegten, und so eine Menge Schaden anrichteten. Obwohl Sumanas Vertrauen in den Älteren ernstlich erschüttert worden war, erwies sich diese Erschütterung als nicht endgültig. Teilweise kam es daher, dass der Ältere fortfuhr und erklärte, was es wirklich bedeutete, ein heiliger Mann zu sein, teilweise weil Sumana schon den Verdacht hegte, dass mehr hinter der Lehre des Buddhas steckte, als er sich vorgestellt hatte, und dass der Ältere aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Zeit mit dem Buddha verbracht hatte als Anirudddha. Das Vertrauen des jungen Mannes in seinen Begleiter erholte sich deshalb bald von der Erschütterung und wuchs bald wieder wie ein Bambus in der Regenzeit. Hinzu kam, so fand er, wenn der Ältere und er zusammen meditierten, konnte er seine Gedanken leichter sammeln und geistige Reinheit erlangen, als je zuvor. Außerdem litt er nicht länger unter Schuldgefühlen, dass er kein Wanderleben führte.
Zu dieser Zeit zogen sich die ersten Wolken am Horizont zusammen, und man konnte ein leises Donnern vernehmen. Die Regenzeit kündigte sich an. Sumana war daher nicht überrascht, als der Ältere am Morgen nach seiner fünften Nacht in der Höhle ankündigte, dass er noch am gleichen Tag aufbrechen würde. Die beiden hatten ihre Meditation gerade beendet, und Sumana hoffte inständig - obwohl sie in der Regel um diese Stunde nicht sprachen - dass das freundliche Lächeln, das die Ankündigung begleitet hatte, dieses Mal wirklich Kommunikation versprach. Während der kurzen Zeit, die die beiden miteinander verbracht hatten, war das Vertrauen des jungen heiligen Mannes in seinen Begleiter nicht nur gewachsen wie ein Bambus in der Regenzeit, sondern hatte - wie der märchenhafte siebenjährige Bambus - auch eine milchweiße Blüte hervorgebracht, die Blüte der Zuneigung. Nun, da sie sich vielleicht für immer trennen sollten, begriff Sumana, wie sehr er ihn mochte. Er mochte ihn mehr als er jemals Aniruddha gemocht hatte, mehr als ... aber da verließ ihn der Mut. Er wurde sich bestimmter Gedanken bewusst, die er bislang nie wahrhaben wollte und die er immer in den hintersten Winkel seines Hirns verdrängt hatte. Er bemerkte auch, dass der Ältere ihn ansah und ihm eine Frage stellte, aber die Frage war so sanft und voller Sympathie, dass er wieder nicht den Eindruck hatte ,er würde geprüft.
„Warum, denkst du, hast du - obwohl du neun Monate lang weit herumgekommen bist - den Buddha niemals getroffen?“
Sumana hätte natürlich antworten können, dass es deshalb war, weil er halt niemals zur gleichen Zeit am gleichen Ort wie der Buddha gewesen war, der natürlich ebenfalls immer von Ort zu Ort unterwegs war. Aber er sagte stattdessen die Wahrheit.
„Ich denke, ich habe den Buddha niemals getroffen, weil ich ihn nicht wirklich treffen wollte,“ sagte er.
„Aber, warum willst du ihn nicht treffen?“ bohrte der Ältere nach. „Ist er nicht der Lehrer deines Lehrers, ist es nicht seine Lehre, in der du gefunden hast, wonach du gesucht hast und warum du das Haus deines Vaters verlassen hast? Der Buddha unter allen Leuten auf dieser Welt, müsste doch der sein, dem du am allermeisten begegnen willst.“
Sumana war ganz perplex von diesen Fragen. Ja, der Buddha war der Lehrer von Aniruddha, und es war in der Lehre des Buddhas - wie Aniruddha sie ihm erklärt hatte - dass er gefunden, wofür er das Haus seines Vaters verlassen hatte. Das waren Tatsachen, die er nicht leugnen konnte. Er hatte nicht den Wunsch, es zu leugnen. Warum hatte er dann dem Buddha nicht begegnen wollen? Warum fand er es auf seiner Wanderschaft so schwer, den Weg zum Buddha zu finden, vor seine Füße zu fallen, und ihm zu sagen, wie glücklich er darüber war, dass er seiner Lehre begegnet war und wie dankbar er dem Buddha war, dass er die Wahrheit entdeckt und der Welt zugänglich gemacht hatte?
Schließlich, mit Hilfe des Älteren, einer Hilfe, die er gar nicht bemerkte, dämmerte ihm die Antwort auf diese Frage. Sie tauchte aus dem hintersten Winkel seines Geistes auf, aus einem dunklen Hinterland seines Bewusstseins, wohin sie während seiner Zeit mit Aniruddha verbannt worden war und wo sie seitdem versteckt geblieben war.
„Ich wollte den Buddha nicht treffen,“ stammelte er, „weil ich den Buddha nicht wirklich leiden kann.“
So kam das peinliche Geheimnis zu guter Letzt heraus. Sumana erwartete eigentlich, dass der Ältere, schockiert und entsetzt, ohne Zögern den Staub der Höhle von seinen Füßen schütteln und ihn mit seinen bösen Vorstellungen allein lassen würde.
Aber das freundliche Lächeln war noch immer da, und der Ältere sprach so sanft und voller Sympathie wie zuvor.
„Aber wie kannst du sagen, dass du den Buddha nicht leiden kannst, wenn du ihn noch nie getroffen hast?“
Sumana dachte einen Augenblick nach. Erinnerungen kamen zurück.
„Nun,“ sagte er schließlich, „mag sein, dass ich den Buddha nicht getroffen habe, aber ich habe eine ganze Menge über ihn gehört. Aniruddha sang ständig Loblieder auf ihn, was nur recht und billig ist. Er lobte ihn immer wieder für seine Weisheit, seine Achtsamkeit, seine Energie, sein Geschick in Diskussionen. Aber am allermeisten lobte er ihn für seine Strenge und Disziplin, besonders für seine Strenge. „Der Buddha ist so strikt,“ würde er voller Bewunderung ausrufen, „dass seine Schüler in seiner Gegenwart kaum zu atmen wagen.“ Das Resultat davon ist, dass ich eine Art Abneigung gegen den Buddha entwickelt habe, obwohl ich in seiner Lehre fand, wonach ich suchte.“
„Ich fühlte, dass, wenn ich den Buddha jemals treffen würde, er mich ganz sicher kritisieren würde. Er würde mich dafür kritisieren, dass ich zu spät aufstehe, würde mich dafür kritisieren, dass ich nicht langsam und achtsam genug esse, mich dafür kritisieren, dass ich so viel Verse und Listen vergesse, ganz zu schweigen davon, dass ich es nicht schaffe, meine Gedanken zu sammeln und meinen Geist zu reinigen. Es gäbe kaum etwas, wofür er mich nicht kritisieren würde.“
„Wenn er jetzt hier wäre,“ fügte er mit einem gequälten Lächeln hinzu, „würde er mich wahrscheinlich dafür kritisieren, dass ich zu viel mit dir rede.“
„Glaubst du wirklich, das würde er tun?“ fragte der Ältere, und seine Worten fielen sanft wie Tautropfen auf die Blütenblätter einer Lotospflanze.
Doch bevor Sumana antworten konnte, hörte man Steine unter einem Paar Füßen bergab prasseln, und alsbald kraxelte ein weiterer heiliger Mann auf das entfernte Ende des Felsvorsprunges. Der Neuling war kahlköpfig, trug ein gelbes Gewand und war ungefähr so alt wie Sumanas Begleiter, außerdem sah er dem Älteren auffallend ähnlich. Er stand kurz, um Luft zu schöpfen, und schritt dann rasch auf Sumana und seinen Begleiter zu, die vor dem Eingang der Höhle standen. Sumana stand so, dass der Ältere für den Neuankömmling anfangs nicht zu sehen war, im Näherkommen wurde der Ältere dann über Sumanas Schulter sichtbar. Das faltige, freundliche Gesicht des Neuen leuchtete sofort auf.
„Da seid Ihr ja, Herr!“ rief er mit einer hastigen Verbeugung. „Die guten Leute im Dorf sagten mir, ich würde Euch hier antreffen. Es hat länger gedauert als ich dachte, Eure Botschaften zu überbringen und auf dem Wege habe ich ...“
Sumana hörte nicht weiter, er hörte auch nicht, was der Ältere antwortete.
„Herr,“ wiederholte er für sich selbst und war verwundert. Der Neuankömmling hatte den Älteren mit „Herr“ angesprochen.
Unter den Anhängern des Buddhas wurde nur der Erleuchtete selbst so angesprochen oder bezeichnet. Was konnte das bedeuten?
Im Reflex drehte er sich zum Älteren um, als ob er nach einer Antwort suchte. Als er sich umdrehte, verwandelte sich die wohlbekannte Figur plötzlich wie eine Wolke bei einem Sonnenuntergang. Das Licht war so strahlend, dass Sumana seine Augen schloss, gleichzeitig fiel er mit einem Aufschrei dem Buddha zu Füßen.
Als er seine Augen öffnete war da kein anderes Licht als das der Morgensonne, und der Buddha und der neu angekommene heilige Mann unterhielten sich ruhig.
„Ananda sagte mir,“ meinte der Buddha, „dass der Regen nach Einschätzung der Leute dieser Gegend in ein oder zwei Tagen hier sein wird, und dass er und ich uns auf den Weg machen müssen. Er sagt auch, dass wir heute nicht unseren Bettelgang machen müssen, da die Dorfbewohner uns zu einem besonderen Mahl in die Dorfhalle einladen. Sie haben uns gebeten, ein wenig eher dort zu sein, also sollten wir besser sofort unser Bad nehmen.“
Die drei machten sich deshalb auf den Weg hinunter zum Fluss, der in dieser Zeit nicht mehr als ein silbernes Bächlein war, das über die weißen Steine rann.
Der Buddha und Sumana nahmen - wie es ihre Gewohnheit war - ihr Bad schweigend und ohne die geringste Hast. Ananda dagegen fütterte den Buddha nicht nur weiter mit Schnipseln von Neuigkeiten, er schien auch mit seinen Waschungen so schnell wie möglich fertig werden zu wollen. Er müsse vorangehen, erklärte er, und hob seine Bettelschale auf, um sich darum zu kümmern, dass die Dörfler auch angemessene Vorbereitungen für den Empfang des Buddhas träfen.
Es wurde sehr still, nachdem er gegangen war. Das einzige Geräusch weit und breit war das Gurgeln des Wassers, das über die Steine strömte. Der Buddha und Sumana brachten ihr Bad zu Ende und folgten dann Ananda - in einem gemächlicheren Tempo - nach. Sie sprachen nicht, aber kurz bevor sie das Dorf erreichten, drehte sich der Buddha um und sah Sumana mit einem Lächeln an, das sehr tief in das Herz des jungen heiligen Mannes drang.
„Magst du den Buddha noch immer nicht?“ schien dieses Lächeln zu fragen.
Und in der Tiefe seines Herzens konnte Sumana nur antworten: "Doch, ich mag ihn sehr. Ich glaube, ich mag ihn noch mehr als ich schon den Älteren gemocht habe.“
Bei ihrer Ankunft in der Dorfhalle sahen der Buddha und Sumana, wie Ananda bei den letzten Griffen an dem reichgeschmückten Willkommensbogen mit Hand anlegte. Es war offensichtlich, dass er bei den Dorbewohnern schon sehr beliebt war. Als er den Buddha wahrnahm, ließ er den grünen Zweig, den er hielt, fallen, schoss nach vorn, und ließ den Buddha unter dem Bogen hindurchgehen, um den herum die Ältesten des Dorfes versammelt waren, und geleitete ihn in die Halle und zum Ehrenplatz.
Die folgende Mahlzeit war die beste, die Sumana seit langem genossen hatte (nicht dass heilige Männer von solchen Dingen Notiz nehmen sollten). Mitglieder der führenden Familien im Dorf bedienten den Buddha und seine zwei Schüler eigenhändig, und drangen in sie - wie die Etikette es verlangte - weitere Happen zu nehmen, lange nachdem diese „ihre Hand von der Schale zurückgezogen hatten“, wie man sagte. Während des Essens erzählte Ananda Sumana, dass er am Vortag die Dörfler gescholten hatte, weil sie den Buddha nicht schon früher eingeladen hatten, und weil sie ihn sein Essen von Tür zu Tür betteln ließen wie jeden gewöhnlichen Heiligen Mann. Darauf hatten sie protestiert, sie hätten nicht gewusst, dass es sich um den Buddha gehandelt hatte.
„Nicht gewusst, dass es sich um den Buddha gehandelt hatte!“ erwiderte Ananda. „Sicher erkennt ihr einen Buddha, wenn ihr einen seht!“
Aber die Dorbewohner waren sich nicht so sicher. Auch Sumana nicht. Nachdem das besondere Essen vorüber war, brachten die Mitglieder der führenden Familien Wasser für den Buddha und seine zwei Schüler zum Händewaschen, und boten Zahnstocher an. Der Rest der Dorfbevölkerung wurde hereingelassen, dann rezitierte der Buddha Verse der Segnung und hielt eine kurze Ansprache über die Bedeutung einer ethischen Lebensführung und das Praktizieren von Großzügigkeit. Bei solchen Gelegenheiten kamen gewöhnlich am Ende der Ansprache zwei oder drei Leute nach vorn und baten den Buddha, sie als seine Schüler anzunehmen. Aber diesmal kam niemand nach vorn, und nachdem er einige Minuten gewartet hatte, stand der Buddha auf, gefolgt von Ananda und Sumana. Der Himmel hatte sich nun schon zur Hälfte mit Wolken bezogen, und Sumana begriff mit einem Schlag, dass es für den Buddha und Ananda Zeit wurde, sich auf den Weg zu machen, und für ihn, zur Höhle zurückzukehren. Schon hatten sich die frommeren der Dörfler um den Buddha geschart und berührten seine Füße zum Abschied.
Sumana ließ sie zu Ende kommen, ging dann und kniete vor dem Buddha nieder, legte seine Hände auf den Boden und seinen Kopf auf die Füße des Erleuchteten. Er ließ seinen Kopf eine Weile dort und war so von Gefühlen überwältigt, dass er nicht sprechen konnte. Als er schließlich aufstand, klopfte Ananda ihm auf den Rücken und flüsterte ein paar Worte der Ermutigung. Der Buddha selbst schwieg. Er schwieg eine lange Zeit. Als er dann sprach, war es mit dem gleichen freundlichen Lächeln, das Sumana so gut kannte und das er so sehr liebte, und seine Worte waren gleichzeitig eine Einladung und eine Anweisung.
„Komm Sumana,“ sagte er, „du warst lange genug in der Höhle. Ananda kennt einen Ort, wo wir drei die Regenzeit verbringen können. Vielleicht werden noch andere sich uns dort anschließen.“
Als der Buddha und Ananda das Dorf verließen, ging Sumana daher mit. Die Dorfbewohner standen zu beiden Seiten des staubigen Weges, um sie zu verabschieden. Da waren einige, die Sumana erkannte, unter ihnen der Junge, jetzt längst kein Junge mehr, der ihm den Weg zur Höhle gezeigt hatte; die Mädchen, jetzt längst keine Mädchen mehr, die sein tägliches Morgenbad eine Weile lang zum schwierigsten Teil seines Tages gemacht hatten; jene nachdenklicheren Männer, die in Mondnächten mit ihm schweigend auf dem Felsvorsprung gesessen hatten, bis es Zeit für die Diskussion war. Er würde sie vermissen, wie sie ihn zweifellos - aber vielleicht aus anderen Gründen - vermissen würden. Zur gleichen Zeit war er glücklich, dass er den Buddha getroffen hatte, glücklich, dass er das Dorf mit ihm und Ananda verließ, glücklich, dass nun alle drei zusammen den gleichen staubigen Weg entlangschritten. Als sie vier oder fünf Meilen gegangen waren, donnerte es plötzlich direkt über ihnen und ein paar dicke Regentropfen fielen herab.
„Wir müssen uns beeilen,“ sagte Ananda.
Aber Sumana sah zum Felsvorsprung zurück, den man scharf umrissen gegen den schnell dunkler werdenden Himmel sehen konnte. Ein neuer Abschnitt seines Lebens als heiliger Mann hatte begonnen, und einen Moment lang stand er gedankenverloren da. Dann besann er sich, drehte sich um und holte die anderen ein, die ihre Schritte schon beschleunigt hatten. Die Höhle stand leer - für den nächsten heiligen Mann.
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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.