Gechichten aus dem Vajrayana-Buddhismus

Eine Hinrichtung
erzählt von Horst Gunkel
(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2006-06-01



 
Dola Jigme Kalzang, ein großer tibetischer spiritueller Lehrer des frühen 19. Jahrhundert besuchte mit zwei seiner Schüler eine kleine chinesische Stadt, in der sich eine schreckliche Geschichte zutrug, die einer seiner Schüler uns berichtet:

Wir waren in dieser uns fremden Stadt und hatten ein Quartier gesucht. Kalzang, unser Meister, war bereits in die Stadt gegangen, und wir richteten noch unsere Sachen. An diesem Tag geschah in der Stadt etwas Schreckliches. Auf dem Marktplatz stand ein Pferd. Es war jedoch kein echtes Pferd aus Fleisch und Blut, sondern ein kupfernes Pferd, um das sich eine große johlende Menschenmenge versammelt hatte. Man hätte dies für ein Denkmal oder eine Kinderbelustigung halten können, doch es war etwas ganz anderes. Auf dem Pferd saß ein Mann in höchster Panik. Er schrie und heulte und wand sich, um zu entkommen, doch dies war vergebens: er war an Händen und Füßen gefesselt und mit Ketten an dem Kupferpferd befestigt. Der Mann galt als des Diebstahls überführt und erwartete seine Bestrafung.

Der Scharfrichter betrat den Platz und lautem Applaus der Masse. Er trug eine Fackel in der rechten Hand und wie zum Triumph erhob er sie, was die Masse zu Begeisterungsstürmen veranlasste. Die Helfer des Henkers bereiteten alles für die Exekution vor. Das Pferd hatte hinten eine große Öffnung, eine Art Ofentür, und darein steckten sie mit Pech getränktes Holz und Kohlen, wobei sie von den Zuschauer/innen angefeuert wurden. Voller Erwartung sah die sensationslüsterne Menge abwechselnd auf die ihre Arbeit verrichtenden Gehilfen des Henkers, auf den Scharfrichter selbst und auf den sich windenden, schreienden Gefangenen, der sich unter dem Johlen der Masse inzwischen vor Angst in die Hose geschissen hatte. Gleich würde dieses asoziale Element, dieser Dieb, seine gerechte Strafe ereilen: Er würde bei lebendigem Leib geröstet. Welch ein Spektakel, welch ein Spaß für die Menge!

Der Henker näherte sich mit seiner Fackel dem hinteren Ende des Pferdes. „Los“, feuerte ihn die Masse an, „wir wollen verbranntes Fleisch riechen.“ „Weg mit dem arbeitsscheuen Gesindel.“ „Mach ihm richtig Zunder unter seinem verschissenen Arsch!“

Ein einziger Mann jedoch bahnte sich schweigend den Weg durch die Masse, ein Ausländer, den niemand jemals zuvor gesehen hatte. Er trat vor und sprach in gebrochenem Chinesisch zu dem Henker: „Halte ein, dieser Mann ist unschuldig. Ich war es. Ich habe die Taten begangen, weswegen dieser Unglückliche verurteilt wurde.“

Rasch verbreitete sich die Neuigkeit unter der johlenden Masse: „Ein Ausländer war´s.“ „Der hätte doch beinahe einen Unschuldigen für sich sterben lassen.“ „Kommen her und beklauen uns, die Kanaken...“ „Endlich mal ein Exempel statuieren.“ „Röstet den Scheiß-Ausländer!“ „Lass´ ihn langsam brutzeln!“

Inzwischen wurde der Delinquent, der nicht wusste wie ihm geschah losgebunden. Mit ungläubigem Blick stand er daneben und sah, wie dieser Ausländer an seiner statt gefesselt und auf das Pferd gebunden wurde. Einige klopften dem verduzten Mann auf die Schulter: „Da hast du aber noch mal Schwein gehabt.“ „Der Kanake hätte doch beinah dich für sich sterben lassen.“ „Nix für ungut, Hauptsache, es trifft jetzt den Richtigen.“

Inzwischen saß der Ausländer auf dem Pferd, dort wo der andere Mann in seiner Not alles eingekotet hatte, aber das war jetzt das kleinste Problem. Der Henker steckte die Fackel in den Rumpf des Kupferpferdes. Deutlich konnte man sehen, wie die Flammen im Inneren des Kupferpferdes emporzüngelten, das Holz rasch Feuer fing, das Pech dazwischen ließ die Hitze schnell entfalten und die Kohlen fingen Feuer. Mit ruhigem Blick fixierte der todgeweihte Ausländer den Geretteten, dann wendete er seinen Blick geradeaus gen Himmel.

Das Johlen der Masse erstarb. Der Ausländer verdarb ihnen den Spaß. Er schrie nicht. Er wand sich nicht vor Schmerzen. Er saß ruhig und aufrecht da, den Blick geradeaus gerichtet. Kein Ton gab er von sich. Zwar sah man, wie ihm der Schweiß ausbrach, zwar begann man das geröstete Fleisch seines Körpers zu riechen, man konnte sehen, wie das Kupferpferd allmählich rotglühend wurde. Aber der Ausländer saß noch immer angespannt, aber ruhig auf dem Pferd, den Himmel im Blick. Jetzt fing seine Kleidung Feuer, wie eine Fackel brannte er – und gab doch keine Laut von sich.

Schweigend beobachtete die Menge das obskure Schauspiel. Als nur noch kleine Flammen an dem verkohlten Leichnam züngelten, gingen sie schweigend nach Hause. Ungläubig stand der gerettete Dieb allein noch einige Zeit neben dem Pferd, dann ging er leise weg. Man sagt, er sei in eine ferne Gegend gegangen und habe sich dort in einem Kloster ordinieren lassen.

Wir aber, mein Freund und ich, kamen etwas später auf dem Marktplatz an. Die Gehilfen des Henkers, nahmen gerade den Leichnam vom Exekutuionspferd. Natürlich erkannten wir an den Resten seiner Kleidung sofort, dass es sich um niemand anderen als unseren geliebten spirituellen Lehrer Dola Jigme Kalzang gehandelt hatte, der sein Leben auf so grausame Art gegeben hatte, um einen völlig Unbekannten zu retten. Und um die verblendeten Menschen zu lehren. Vielleicht haben einige der Chinesen, die Augenzeuge des tragischen Todes unseres Meisters wurden, ja verstanden. Wir aber nahmen das Gelübde auf, die Menschen von dem Handeln unseres Meisters, eines wahren Bodhisattva, zu informieren, eines Mannes, der diesen grausamen Tod auf sich genommen hat, um einen ihm Unbekannten zu retten und um zu zeigen, dass Hass niemals das Böse besiegt, dass nur Liebe des Hasses Herr werden kann.



Zur Heimatseite
Zur Übersicht Meditation und Dharma
Zur Übersicht Buddhistische Geschichten
Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.