Der
Fettwanst
(Originaltitel:
Namsayogi)
erzählt
von Horst Gunkel
(c)
Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2004-03-07
Er war aus gutem Haus. Aber er hatte eine Leidenschaft: essen. Schon als Junge verließ er das Haus nur, wenn er musste. Ansonsten saß er auf dem Sessel und aß, was immer er bekommen konnte. Natürlich wurde er auf diese Art zunächst dick, dann fett und schließlich scheußlich fett.Im Alter von 16 Jahren, wenn die Jugendlichen normalerweise besonders hübsch sind und beginnen sich fürs andere Geschlecht zu interessieren, hatte der Fettwanst nur ein Interesse: er lag auf seinem Bett und fraß. Er aß so viel, dass man wirklich nur sagen konnte, dass er fraß. Schon lange war es ihm zu mühsam, sich auf den Sessel zu quälen und blieb so einfach in seinem Bette liegen und fraß.
Als er Anfang 20 war, war er so fett, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Er konnte nur noch die Hände zum Munde führen, um sich Nahrung hineinzustopfen. Seine Eltern waren ratlos. „Anstatt einen Sohn zu haben, haben wir ein Mastschwein“, sagten sie. „Er ist absolut nutzlos. Andere Kinder versorgen ihre Eltern, wenn diese zu alt sind, um ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Dieser Fettwanst aber kann nicht für uns sorgen, er ist absolut nutzlos.“
Die Eltern hatten die Nase voll davon, sich immer um den nutzlosen Fettewanst kümmern zu müssen. Sie sagten: „Der frisst uns ja Haus und Hof weg. Es hilft alles nichts. Früher oder später wird er sterben, wenn sich niemand mehr um ihn kümmert. Deshalb ist es besser, ihn sterben zu lassen, bevor er uns arm gefressen hat.“ Und so beschlossen sie ihn zum Leichenplatz zu bringen. Auf dem Leichenplatz hinterlegten in Indien die armen Leute ihre Toten, denn sie konnten sich das Brennholz für die Feuerbestattung nicht erlauben. Bei Nacht kamen die Schakale und die Geier und erledigten die Bestattung auf ihre Weise. Also ließen die Eltern des Fetten ein Fuhrwerk kommen, mit vielen Leuten hoben sie den Fetten auf das stabile Fuhrwerk, brachten ihn zum Leichenplatz und luden ihn dort ab.
Sie ließen ihn dort einfach liegen. „Mag er doch verhungern oder verdursten, sollen ihn die Löwen, die Schakale oder die Geier fressen. Besser ein Ende mit Schrecken“, so sagten sie, „als ein Schrecken ohne Ende.“
Wimmernd lag der Fette jetzt auf dem Leichenacker. Er konnte sich nicht bewegen, nicht aufstehen. Und was noch schlimmer war: er hatte großen Hunger. Er war gewohnt ständig zu essen und nun hatte er seit Stunden nichts mehr bekommen. So lag er da und wimmerte erbärmlich. Dies hörte ein Yogi. Diese Yogis leben gerne auf Leichenplätzen, sehen sich die Toten an und meditieren über die Vergänglichkeit, „Leichenfeldbetrachtungen“ wird diese Art der Meditation genannt. Außerdem trifft man auf Leichenplätzen des nachts häufig Geister oder Dakinis, himmlische Jungfrauen, an, die die Yogis zu mancherlei inspirierten.
Dieser Yogi tritt also auf den Fettewanst zu und fragt: „He, du, was liegst du hier auf dem Leichenfeld herum. Du bist zu früh dran. Du musst warten bis du tot bist.“
„Das ist sicher bald der Fall. Ich habe schrecklichen Hunger und nichts zu essen.“
„Na, du bist gut, halb verhungert siehst du wirklich nicht aus. Und wenn du Hunger hast, dann steh doch auf, gehe ins Dorf und erbettle dir etwas, so mache ich das auch.“
„Das ist ja mein Problem. Ich bin so fett, dass ich nicht aufstehen kann. Und dabei habe ich wahnsinnigen Hunger. Meine Familie hat mich hierher gebracht, um mich sterben zu lassen, weil ich absolut nutzlos bin. Ich kann mich ja nicht einmal bewegen.“
Der Yogi erbarmt sich des Fetten. Er überlegt, wie er ihm helfen kann. „Kannst du vielleicht meditieren?“
„Ich habe es noch nie versucht. Aber wenn ich dazu nicht aufstehen muss, denke ich, wird es gehen. Kannst du mir eine Meditation lehren, während ich liege?“
„Nun gut, ich gebe dir eine Initiation in einer sehr vereinfachten Form, für Anfänger. Visualisiere eine himmlische Sphäre, nicht größer als ein Senfkorn, direkt auf deiner Nase. In dieser Sphäre siehst du alle Welten, das ganze Universum.“
„Gut, das kann ich versuchen. Aber wozu soll das gut sein?“
„Schau einfach und praktiziere. Du wirst den Nutzen selbst herausfinden. Übe einfach.“
Und der Fettwanst übte. Der Yogi brachte ihm hin und wieder Nahrung und der Fettwanst meditierte. Nach einiger Zeit löste sich im Bewusstsein des Fetten alles in Leerheit auf und er sah alle Welten in jedem Staubkorn.
Nach westlichem Verständnis war dem Fetten nicht sehr geholfen. Er war weiter fett und konnte sich nicht bewegen. Vielleicht denken wir sogar daran, dass die Geschichte unlogisch sei, denn es geht nur um Nahrung. Was ist mit Wasser? Geht der nie zur Toilette? Der braucht doch bei diesem Leben Thrombosespritzen! Wenn wir so denken, nehmen wir die Geschichte wörtlich. Die Geschichten des Vajrayana sind jedoch nicht wörtlich zu nehmen. Der Sinn erschließt sich uns erst, wenn wir bereit sind, auf die wirkliche Botschaft zu achten, wenn wir fähig sind zwischen den Zeilen zu lesen.
Die Botschaft ist eine andere. Der Yogi war der einzige, der Vertrauen in den Fetten hatte. Nicht Nützlichkeitserwägungen standen für ihn im Vordergrund, sondern dem Fettewanst wirklich zu helfen. Und zwar nicht mit solch vordergründig-materialistischen Dingen wie einer Abmagerungskur. Er erhielt statt dessen spirituelle Hilfe.
Und das Wunderbare: Jede und jeder kann praktizieren, mag man auch so gehandicapt sein wie dieser Fettwanst. Durch Meditation eröffnet sich uns die Illusion der Natur der Dinge. Wir blicken hinter die vordergründige Realität und entdecken so die Schönheit und das Mitgefühl in allen Dingen. Alles ist möglich! Jede und jeder kann die Freiheit teilen. Er oder sie muss nur bereit sein, tatsächlich zu praktizieren.