Vom Nutzen der Ethik
Vortragsreihe „Das Gute Leben“ Teil II
von Horst Gunkel bei Meditation am Obermarkt, Gelnhausen
 zuletzt geändert Juli 2020


Vielleicht erscheint der Titel dieses Vortrags „Vom Nutzen der Ethik“ merkwürdig. Es stellt sich doch die Frage: „Darf man, soll man ethisch aus Nutzenserwägungen handeln?“ Und die Antwort darauf ist aus meiner Sicht ganz klar: „Ja!“ Wenn nicht, wäre Ethik ja völlig nutzlos.

Wohlgemerkt, der Titel des Vortrags ist nicht: „Wie Ethik einem nutzt“, denn dann würde man den Einen, das eigene Ich, vor die anderen stellen. Es ist viel mehr so wie in der metta bhavana: Wenn wir metta für alle Wesen einüben, dann ist das tendenziell gut für alle Wesen. Es ist gut für mich, denn ich bin dann liebevoller, es ist gut für die anderen, denn ich begegne ihnen liebevoller. Ethik zu üben ist auch gut für die Summe aller Wesen, für diesen Planeten und für die Evolution, verstanden als Evolution zu mehr Vollkommenheit, also für die spirituelle Evolution.

Nicht umsonst ist Ethik das erste Pfadglied des Dreifachen Pfades, den der Buddha lehrt, des Pfades aus Ethik – Meditation – Weisheit. Darüber habe ich letzte Woche gesprochen. Und auch auf dem Spiralpfad, auf dem Pfad der positiven, sich gegenseitig verstärkenden Schritte, den ich hier an der Wand dargestellt habe, wird die Ethik beschrieben, wenn wir den chinesischen buddhistischen Kanon zugrunde legen.

Der Pfad des sich spirituell entwickelnden Menschen beginnt mit dukkha, Einsicht in die Unvollkommenheit alles Bestehenden, also des weltlichen Lebens. Und mit saddha, Vertrauen darin, dass es etwas Besseres gibt, nämlich den Pfad der spirituellen Evolution, den Pfad der vollständigen Emanzipation des Menschen aus dem Tierreich, hin zur nächsten Evolutionsstufe, zur Buddhaschaft.

Und auf diesem Wege kommen fünf Schritte – ich habe sie auf dem Bild an der Wand unseres Meditationsraumes mit den Ziffern 14.1 bis 14.5 dargestellt, die von der Ethik und dem Nutzen der Ethik handeln. Und der Nutzen der Ethik besteht einerseits darin, dass wir dadurch anderen Gutes tun, daher heißt meine Vortragsreihe „Das Gute leben“ und auch darin, dass wir auf diesem Pfad weiterkommen, nämlich zu den Punkten die da heißen: Freude (pamojja), Begeisterung (piti), Glückseligkeit (sukha), sowie wirkliche, nämlich ganz tiefe Meditation (samadhi) und "Sehen, wie die Dinge sind" (yathabhuta nana dassana).

Sehen wir also diese fünf Schritte (14.1 bis 14.5) an, die den Pfad der Ethik im Dreifachen Pfad erläutern.

14.1 heißt yoniso manasikara“. Manasikara ist eines von fünf Elementen, die immer dann stattfinden, wenn wir etwas wahrnehmen. Wenn wir durch die Straßen gehen, gibt es jede Menge optischer Eindrücke, manche schaffen es in unser Bewusstsein, andere nicht. Ich habe zum Beispiel festgestellt, wenn ich früher mit meiner Freundin durch Frankfurt gegangen bin, hat die ganz andere Dinge gesehen als ich. Kleidungsstücke im Schaufenster zum Beispiel. Ich hatte nicht einmal festgestellt, dass da Kleidungsstücke im Schaufenster waren. Ehrlich gesagt, ich hatte glaube ich nicht einmal festgestellt, dass da Läden waren. Und dann wollte sie in den Laden hineingehen, „um nur mal zu schauen“. Hinterher hatte sie dann etwas gekauft, obwohl sie wirklich keinen Mangel an Kleidung hatte. Umgekehrt hat sie sich bei mir immer mokiert, dass ich an keinem Restaurant vorbeigehen konnte, ohne in die ausgehängte Speisekarte zu sehen. Sie hatte nicht einmal festgestellt, dass dort ein Restaurant war, geschweige denn ein Aushang.

Offensichtlich sprang unser Geist auf etwas auf – meiner auf etwas anderes als ihrer – auf etwas, das jeder von uns visuell gesehen, der jeweils andere aber nicht wirklich bemerkt hatte. Das nennt man manasikara. Und das war bei jedem von uns durch eine unterschiedliche Art von Verlangen geprägt, bei ihr nach schöner Kleidung, die sie objektiv nicht brauchte, bei mir von Verfressenheit. Daher übersetzt der buddhistische Autor Guenthermanasikararecht zutreffend mit „egoistisches Beanspruchen“. Das ist allerdings nichts besonders Ethisches, weil es egoistische, hier gierbedingte Beweggründe hat.

Anders wenn vor manasikara das Adjektivyonisosteht. Dann sprechen wir von „weisem Erwägen“. Erwägen ist dann weise, wenn es nicht aus selbstsüchtigen Motiven geschieht. Interessant ist, dass das Wort „yoniso“ vonyoni= Gebärmutter abgeleitet ist. Es bedeutet damit wörtlich „aus dem Ursprung heraus“ oder „zum Ursprung hin“, in übertragenem Sinne dann „gründlich, weise, wohlerwogen, angemessen“. Es geht also bei diesem weisen Erwägen um die Art des Erwägens, die wir evolutionsgeschichtlich ursprünglich hatten, bevor wir unser Ich entdeckten und damit die Türe für Egoismus öffneten. Nicht dass diese Entdeckung des „Ich“ falsch gewesen wäre, nein, nur dadurch war auf einer gewissen Stufe Entwicklung möglich, auf einer höheren Stufe wird dieser Egoismus jedoch zum Problem. Wenn wir uns spirituell weiterentwickeln wollen, müssen wir uns von ihm lösen.

Das tun Menschen in allen wahrhaft spirituellen Traditionen, es ist eine Anbindung an die ursprünglichen Kräfte – daher yoniso – die bereits vor und jenseits des Egoismus wirkten. Unser Wort Religion hat übrigens eine ganz ähnliche Bedeutung. Es kommt nicht aus der buddhistischen, sondern aus der abendländischen Tradition, sprachgeschichtlich leitet das Wort sich vom lateinischen "religio" her, was "Rückbindung" bedeutet. Es bezieht sich also auf den Umstand, dass wir eine Verbindung zu etwas Ursprünglichem aufgegeben haben und es nun unsere Aufgabe ist, uns wieder aufs Neue damit zu verbinden.

Der erste Schritt auf dem Weg zur Ethik ist also, Dinge zu erwägen, ohne sie aus dem Blickwinkel des Egoismus, des Eigeninteresse, des Verwertungsaspektes für mich selber, zu betrachten. Und das gilt insbesondere hinsichtlich unserer Beziehungen zu anderen Wesen. Kant nennt das in seiner Metaphysik der Sitten, andere Menschen nicht als Mittel, sondern als Zwecke zu sehen. Wir sollen andere Wesen nicht instrumentell betrachten, im Sinne von der Überlegung: „Was nutzen sie mir?“ Sondern jedes Wesen hat vielmehr ein eigenes Existenzrecht, ein ethisches Recht auf Leben und Streben nach Glück.

Wenn wir diese Grundhaltung rudimentär in uns haben und bestrebt sind, diese Haltung weiter zu entwickeln, dann sind wir dabei den entscheidenden ersten Schritt auf dem Pfad der Ethik zu gehen.

Lasst uns noch den zweiten Schritt betrachten, 14.2., er heißt satisampajañña, das bedeutet Achtsamkeit und Wissensklarheit. Sati wird gewöhnlich mit Achtsamkeit übersetzt, es heißt aber auch „Erinnerung“, meist wird es aber so verwandt, sich einer Sache im Hier und Jetzt gewahr zu sein, es bezieht sich also dann auf Achtsamkeit im gegenwärtigen Augenblick. Daher verwendet der Buddha es gern in Kombination mit sampajañña, Wissensklarheit, denn dann ist eine dynamische Betrachtung darin, wir sehen ein Phänomen auch als Ergebnis der Bedingungen, aus denen es entstanden ist und wir sehen eine Handlung auch als Ursache von Konsequenzen dieser Handlung.

Mit anderen Worten, wer den Pfad der Ethik praktiziert, sollte (1.) ganz im Hier und Jetzt sein, dabei aber (2.) Verständnis für die auftretenden Phänomene als Ergebnis einer Kette von Bedingungen haben und (3.) hinsichtlich jeder Handlung die zu erwartenden Konsequenzen berücksichtigen.

Der dritte Schritt in der Umsetzung der Ethik ist indriyasamvara, Hüten der Sinne. Wenn ich also weiß, dass das Lesen mancher Schriften, das Betrachten mancher Bilder oder Filme mich wütend macht, dann ist es gut, diese Reize zu meiden. Wer beständig Hasspredigten hört, der konditioniert sich darauf zu hassen. Das genaue Gegenteil machen wir in der metta bhavana, wir verwenden eines unserer Sinnesorgane, den Denksinn, dazu positive Emotionen zu kultivieren.

Der vierte Schritt auf dem Pfad der Ethik ist sila samvara, das Beachten der Vorsätze. Es gibt ethische Vorsätze in allen Religionen, in allen ethischen Richtungen. Im Christentum ist das der Dekalog, auch bekannt als die zehn Gebote. Auch im Buddhismus gibt es etwas Entsprechendes, allerdings heißen das hier nicht Gebote, denn der Buddhismus kennt keinen Gebieter.

Es ist vielmehr so, dass der Buddha Empfehlungen gibt, von denen er festgestellt hat, dass sie hilfreich sind. Wir sollten diese Empfehlungen sehr sorgfältig prüfen, ob wir sie auch für hilfreich halten und uns überlegen, inwieweit wir ihnen folgen können. Dabei sind die Formulierungen so gehalten, dass jeder dieser Vorsätze ein breites Übungsfeld darstellt, das bedeutet, dass wir vielleicht in einer ersten Stufe die gröbsten Verstöße gegen diese Vorsätze lassen können und je weiter wir uns entwickeln, allmählich immer mehr auch auf die Feinheiten achten können. Ich denke die meiste Zeit dieser Vortrags- und Diskussionsreihe werden wir darauf verwenden, Überlegungen dazu anzustellen und sie vielleicht auch umzusetzen.

Und wenn wir so handeln, auf diesen vier Schritten der Ethik, dann wird sich der fünfte automatisch einstellen, nämlich avippatisara, was „Freiheit von Reue“ oder „Gewissensreinheit“ heißt.

Ein deutsches Sprichwort sagt, ein gutes Gewissen sei ein sanftes Ruhekissen. Das stimmt zwar, aber es ist noch viel mehr als das, es ist nämlich Grundlage all der folgenden Schritte auf dem Pfad: pamojja (Freude), sukha (Glückseligkeit), samadhi (erfolgreiche Meditation), Durchblick (yathabhuta nana dassana).

Ethik – und diese besteht aus den fünf Schritten, die ich, den Buddha zitierend genannt habe – ist die Basis des Dreifachen Pfades aus sila – samadhi – pranja, aus Ethik, erfolgreicher Meditation, die sich voll und ganz nur auf der Basis von Ethik entfalten kann, und Weisheit.

Diese fünf Schritte der Ethik waren, ich nenne sie zum Abschluss meines Vortrages jetzt noch einmal:

1. yoniso manasikara – weises Erwägen

2 sati – sampajañña – Achtsamkeit und Wissensklarheit

3. indriya samvara – Hüten der Sinne

4. sila samvara – Einhalten der Vorsätze

5. avippatisara - Gewissensreinheit


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