Eine Geschichte, die nicht im Pali-Kanon steht:

Das Milchmädchen,

das den Lauf der Welt änderte

erzählt von Horst Gunkel in Anlehnung an den Palikanon –

zuletzt bearbeitet am 14. Oktober 2019


Sie hieß Sujata, und sie war ein einfaches Mädchen. Sie konnte nicht lesen und nicht schreiben, nicht weiter rechnen, als sie mit den Fingern zählen konnte, und sie war nie weiter als zehn Meilen von ihrem Geburtsort entfernt gewesen. Wozu auch, sie war ja nur ein einfaches, rechtschaffenes Mädchen. Sie tat, was ihre Eltern sie hießen: sie molk die Kühe, half bei der Käsezubereitung und, wenn einmal in der Woche der Händler aus der Stadt mit dem Ochsenkarren vorbei kam, um den Käse abzuholen, war das ihr Höhepunkt der Woche, denn der Händler erzählte, was draußen in der Welt vorging.

Nun ja, eigentlich erzählte er nur, was in der Stadt vorging, aber Sujata kannte nicht den Unterschied zwischen der Stadt und der Welt. Ihre eigene Welt war schließlich nur so groß, wie sie in einem halben Tag gehen konnte, denn sie musste ja noch zurück, bevor es dunkel war. Und dann gab es da noch den Fluss, der eine natürliche Grenze war. Noch nie war Sujata auf der anderen Seite des Flusses gewesen. Auch ihre Eltern waren niemals da drüben gewesen. Eigentlich war dort noch fast niemand gewesen, nur zwei alte Männer im Dorf, aber die sprachen nicht darüber.

Sujata war ein artiges Milchmädchen und tat, was ihre Eltern ihr sagten. In zwei Jahren würde sie den Mann heiraten, den ihr die Eltern ausgesucht hatten – natürlich. Jedes Mädchen heiratete den Mann, den die Eltern ihr ausgesucht hatten; niemand wäre auf die Idee gekommen, sich dem zu widersetzen. Schließlich waren es ihre Eltern, und Eltern ehrt man, den Eltern gehorcht man.

Auch an diesem Tag hatten ihre Eltern wieder einen Auftrag für sie: sie sollte den Baumgeistern, die in dem großes Ficusbaum nahe des Flusses wohnten, das Opfer bringen. Man opferte den Baumgeistern, manchmal auch den Göttern. Das war so. Die Eltern hatten das gesagt, also wurde es getan. Manchmal wurde sie geschickt, manchmal ihre große Schwester.

Sujata hatte aber Angst, weil sie sich einmal sehr erschreckt hatte vor einer großen Raubkatze, die in der Nähe des Flusses eine Ziege gerissen hatte. Als sie erschrocken stehen geblieben war, wurde sie von dem Tier mit dem vor Blut triefenden Maul angefaucht. Da hatte sie große Angst bekommen. Daher war es ihr lieber, wenn ihre Schwester ging. Heute aber bestanden ihre Eltern darauf, dass sie selbst ging, sie sei schließlich kein kleines Kind mehr. Und wenn die Eltern darauf bestanden, dann musste sie eben gehen.

Also nahm sie die Gaben für die Baumgeister, die in dem mächtigen Ficus in der Nähe des Flusses wohnten, in ihre Hände und ging los. Unterwegs sprach sie sich Mut zu und musste gleichzeitig aufpassen, dass sie ja nichts von dem Milchreis mit Rosinen verschüttete, den sie den Baumgeistern opfern sollte.

Sie ging den schmalen Pfad entlang und passte auf, wohin sie trat, denn es gab hier Hundertfüße, große giftig Insekten, die rasch auf dem Boden entlangliefen und die gefährlicher waren als die Skorpione. Als sie den großen Baum schon von weitem sehen konnte, hörte sie ein merkwürdiges Stöhnen in der Nähe der Baumwurzeln. Ihr wurde unheimlich zumute. Aber was sollte sie tun? Schließlich hatte ihre Eltern sie geheißen, die Schale mit Milchreis direkt am Fuße des Baumes abzustellen, damit sich die Baumgeister auch wirklich davon bedienen konnten.

Doch was war das? Direkt unter dem Baum lagen Lumpen. Ob die jemand da verloren hatte? Oder ob womöglich die Raubkatze einen Menschen…? Da bewegte sich etwas – und aus dem Lumpen trat eine Hand hervor – eine Hand! Und was für eine Hand! Eigentlich nur Haut und Knochen. Da musste ein in Lumpen gekleideter Mensch drin sein! Jetzt schaute auch ein Bein hervor. Noch niemals hatte Sujata so etwas gesehen, ein Bein, das nur aus Haut und Knochen bestand. Sujata schauderte. Es muss ein Anblick gewesen sein, wie er sich im 20. Jahrhundert den Befreiern der KZ-Insassen bot.

Sujata traten die Tränen in die Augen, aber sie öffnete die Lumpen und sah zwei Augen - in Augenhöhlen tief wie Wasserbrunnen. Dieser Mann lebte noch, aber wie lange noch? Er war zu schwach zum Aufstehen. Seine Lippen bewegten sich: „Wasser“ hauchte er. Sujata lief zum Fluss und brachte ihm in ihrem eigenen Trinkgefäß, einem Kuhhorn, Wasser.

Der Mann trank und lächelte sie dankbar an. Dann schaute Sujata auf den Baum, sah den Mann an, schaute wieder auf den Baum und sagte in Richtung des Baumes: „Tut mir leid, ihr mächtigen Baumgeister, aber das hier ist wichtiger.“

Dann nahm sie einen Happen von dem Milchreis in ihre Finger und führte ihn an den Mund des Schwachen. Der hatte vor Dankbarkeit eine Träne in den Augen. Eine einzige Träne nur, mehr Flüssigkeit wollte, konnte sein geschundener Körper nicht hergeben. Sie gab dem Mann noch drei Bissen, dann schüttelte dieser den Kopf. „Aber du kannst doch noch nicht satt sein.“

"Ich esse später noch davon“, antwortete der leise, „wenn ich darf.“

"Sicher“, sagte sie, „kommst du jetzt klar? Ich muss dann nämlich nach Hause, sonst suchen sie mich. Aber ich komme wieder, gleich morgen.“ Dankbar lächelte der Mann seine Wohltäterin an.

Sujata hatte ihren Eltern erzählt, dass sie schon viel weniger Angst hatte und dass sie den Baumgeistern versprochen habe, die ganze Woche wieder zu kommen, jeden Tag. Die Eltern freuten sich, dass ihre Tochter offensichtlich im Begriff war, die Angst vor den wilden Tieren zu überwinden. Und so durfte Sujata am nächsten Tag wieder zu den Baumgeistern in den Wald.

"Hoffentlich lebt er noch“, dachte sie, als sie losging, denn plötzlich war ihr klar geworden, dass das keineswegs selbstverständlich war, so schwach wie der zerlumpte Mann war. Umso größer war ihre Freude als sie sah, dass er sich aufgesetzt hatte.

"Ich kann sogar schon ein paar Schritte gehen“, erzählte ihr der Mann von seinen Erfolgen, „nur bis zum Fluss schaffe ich es noch nicht.“

"Ich hole dir gleich Wasser,“ rief sie und war schon unterwegs, das Kuhhorn zu füllen.

So ging es einige Tage lang, die beiden hatten inzwischen ein paar Worte gewechselt. Er hatte nach ihrem Namen gefragt, und auch sie wusste jetzt, dass er Siddharta hieß. Da Sujatas Eltern heute ins Nachbardorf zu den Großeltern gegangen waren, hatte sie etwas mehr Zeit als sonst. So setzte sie sich neben den inzwischen etwas zu Kräften gekommenen Siddharta und fragte ihn: „Warum warst du eigentlich so schwach? Warst du krank? Es gibt doch überall Früchte und essbare Wurzeln, und du hättest doch auch betteln können.“

"Weißt du, Sujata, ich wollte Weisheit erreichen, absolute Weisheit. Ich wollte wissen, warum es Leiden gibt und wie man es überwinden kann. Das Leben kann so furchtbar grausam sein. Man will eigentlich nichts Böses tun und doch schadet man Menschen. Schon bei meiner Geburt war das so. Meine Mutter war mit einer Kutsche unterwegs, als die Wehen einsetzten. Ein Arzt war dabei und stellte fest, dass eine normale Geburt nicht möglich war – hat er jedenfalls gesagt. Also kam ich durch Kaiserschnitt zur Welt. Einige Tage darauf starb meine Mutter. Es ist schrecklich: damit ich leben konnte, musste sie sterben.

Oder nimm dieses Beispiel: Eines Tages, als ich gerade sieben Jahre alt war, sah ich wie mein Vetter Devadatta einen Schwan schoss. Ich eilte hin, um das Tier zu retten, ich versteckte es, sein Flügel war gebrochen. Ich habe ihm dann den Flügel geschient. Aber Devadattas Eltern wollten, dass ich das Tier herausgab. Ich habe mich geweigert. Und da mein Vater Gerichtsherr war, verlangte Devadattas Vater von diesem das Recht für seinen Sohn Devadatta, er hätte den Schwan geschossen, also gehöre er ihm. Ich sagte, man solle sich in die Situation des Schwanes versetzen und überlegen, zu wem der wolle, zu dem, der ihn geschossen hat, oder zu dem, der ihn verarztet hat. Da lachte mein Vater und entschied, dass der Schwan mir gehöre. Zunächst war ich sehr erfreut, aber dann, als Davadatta heulend weggegangen war, machte mein Vater mir klar, dass das, was er gesprochen habe, Unrecht sei. Tiere hätten keine Rechte, ebenso wenig wie Sklaven. Verstehst Du Sujata: das was sie Recht nennen ist in Wirklichkeit Unrecht – es schadet den Wesen.“

Sujata blickte nachdenklich: „Das mit dem Recht und dem Unrecht und deinem Vater verstehe ich nicht. Aber wenn du meinst, Tiere sollten auch leben dürfen, dann iss doch einfach nur noch Pflanzen.“

"Eben, das dachte ich auch, Sujata. Aber dann sah ich, wie ein Feld gepflügt wurde, damit Kartoffeln angepflanzt werden konnten. Ich sah, wie ein Ochse den Pflug durch den schweren Boden zog, das war an einem ganz heißen Tag. Tausende von Fliegen umschwärmten das Tier und der arme Ochse hatte kaum noch Kraft. Aber der Bauer schlug ihn mit der Peitsche. Und als ich dann den Bauern ansah, merkte ich, dass der das auch nicht aus Bosheit machte, sondern dass der genauso matt war wie der Ochse und bei der Hitze nur rasch fertig sein wollte, und ich bemerkte auch, dass das Pflughalten den Bauern schmerzte, er schien Rheuma zu haben. Und dann – es war so deprimierend – zerschnitt dieser Pflug lauter Insekten, Schnecken und Engerlinge. Die wurden lebendigen Leibes geteilt! Darüber schienen sich die Vögel zu freuen, denn viele kleine Vögel folgten dem Pflug, um die Insekten zu fressen. Und dann kam ein Raubvogel und stürzte sich auf einen dieser kleinen Vögel, nahm ihn mit auf einen Baum und begann ihn zu rupfen. Die Menschen jagen, die Menschen fischen und selbst, wenn sie Ackerbau betreiben, erzeugen sie Leid.“

"Aber niemand kann daran etwas ändern, man muss die Dinge sehen, wie sie sind, und das annehmen, was man nicht ändern kann, Siddharta. Was könntest du dagegen tun?“

"Ich ging zu den berühmtesten Weisheits-Lehrern“, sagte Siddharta, „die sagten mir das Fleisch sei böse, man müsse den Geist befreien, indem man den Körper überwindet. In den letzten Jahren habe ich das versucht. Ich habe versucht, meinen Körper zu überwinden. Ich habe gehungert und nur von einem einzigen Reiskorn am Tage gelebt. Ich hatte sogar fünf Jünger die mir gefolgt sind, weil sie sagten: wenn einer den Körper überwindet, dann Siddharta. Jetzt weiß ich, dass das ein Irrweg ist.“

Das Mädchen wunderte sich: „Aber wieso hast du denn gedacht, dass man den Körper besiegen muss.“

Siddharta lächelte: „Weißt du, als Kind hatte ich alles, was man sich nur wünschen kann. Ich lebte in einem Palast. Mein Vater hatte sogar drei Paläste. Es gab nur die erlesenste Nahrung, für meine Unterhaltung war durch Musikantinnen und später durch Tänzerinnen gesorgt. Ich kämpfte in Turnieren. Es war ein Leben, in dem alle körperlichen Gelüste erfüllt wurden – aber es machte nicht wirklich glücklich. Letztlich lebte ich auf Kosten der Ausbeutung von Mensch und Tieren, ja, ich lebte sogar nur, weil meine Mutter starb. So war ich empfänglich für die Lehre, dass man den Körper besiegen muss, um den Geist zu befreien.“

Sujata sah diesen wundersamen Mann fragend an. „Und jetzt glaubst du das nicht mehr?“

"Nein, Sujata, zwei Dinge haben mich entscheidend verändert. Letzte Woche, an dem Tag, als du mich gefunden hast, war ich unten am Fluss, wollte Wasser schöpfen. Da kam ein Boot vorbei, in dem saß ein Vater mit seinem Sohn. Der Junge hatte eine Laute geschenkt bekommen und versuchte die Saiten zu spannen, um darauf zu spielen. Und ich hörte den Vater sagen: ´Nein, mein Sohn nicht so fest anziehen, du wirst die Saiten noch zerreißen!´ Und kurz darauf sagte er: ´Aber nein, Kleiner, das ist viel zu locker, so wirst du nie einen vernünftigen Ton herausbringen, du darfst nicht von einem Extrem ins andere fallen, es ist der mittlere Weg, der zum Erfolg führt!´ Da war mir mit einem Male klar geworden, wie idiotisch ich mich verhalten hatte: Nachdem das Leben in Völlerei mich nicht glücklich gemacht hatte, versuchte ich es mit dem anderen Extrem, mit äußerst harter Askese. Dabei ist es so einfach, dass es Kinder schon beim Lautespielen erlernen können: nur der mittlere Pfad zwischen zwei Extremen kann zum Ziele führen.“

"Aha“, sagte Sujata, „ist das jetzt Weisheit?“

Da lachte Siddharta auf: „Es ist auf jeden Fall ein erster Schritt in Richtung Weisheit. Aber ich habe inzwischen noch etwas gelernt. Das Streben nach Weisheit, das ich bislang versuchte, ist auch ein Extrem, ist auch einseitig. Es muss etwas Zweites hinzukommen, erst dann ist man auf einem ausgewogenen Pfad. Die ganze Weisheit nutzt nichts, wenn sie nicht durch Mitgefühl ausgewogen ist. Ich wäre tot, wenn du nicht gekommen wärest und mit Mitgefühl gehandelt hättest. Dank dir und deinem Mitgefühl werde ich die Chance haben, den Durchbruch zu schaffen. Übermorgen ist Vollmond. Ich werde mich hier unter diesem Baum niederlassen und meditieren, bis ich die vollkommene Weisheit erlangt habe – und das vollkommene Mitgefühl. Und wenn es sieben Jahre dauern sollte.“

"Und ich weiß auch, was ich machen werde“, freute sich Sujata, „ich werde mindestens jeden zweiten Tag hierher kommen und etwas zu essen bringen – für die Baumgeister, versteht sich!“ Sie zwinkerte Siddharta zu.

"Gute Idee,“ sagte der, „ich glaube sicher zu wissen, dass Milchreis die Lieblingsspeise dieses Baumgeistes hier ist.“

Sie nickte: „Und ich weiß, dass der Baumgeist den Milchreis am liebsten mit Rosinen mag.“

Und so kam es, dass Siddharta Erleuchtung erlangte, aber nicht durch Askese und auch nicht dank der beiden größten Meditationsmeister seiner Zeit, nicht durch Uddakka Ramaputra und Alara Kalama, bei denen er zuvor studiert und meditiert hatte, sondern dank eines Fischers, der seinem Sohn eine Laute geschenkt hatte, und dank seiner wichtigen Lehrerin Sujata, einem Milchmädchen, ohne die niemand auf der Welt jemals etwas von Siddharta gehört hätte, der in der Vollmondnacht zum Buddha wurde.

Oder glaubt ihr etwa, in 1000 Jahren wüsste noch jemand, wer Angela Merkel war, Bill Gates oder Barack Obama – außer vielleicht einer Handvoll Professoren mit den Spezialgebiet 21. Jahrhundert?

Aber Sujata, die ein Milchmädchen mit Mitgefühl war, die ist noch heute, 2600 Jahre später, Millionen von Menschen bekannt. Ihr hat der Buddha in seinen Erzählungen ein großartiges Denkmal gesetzt. Und die buddhistische Tradition hat dieses große Mitgefühl dann wieder aufgegriffen und in eine archetypische Figur verdichtet, die Mahakaruna verkörpert, das ganz große Mitgefühl. Man nennt diese Figur „Die Grüne Tara“.


Anmerkungen

Sujata, so ist überliefert, hat den Buddha nach seiner Askese Milchreis geliefert, sodass er wieder zu Kräften kam. Aus dem Pali-Kanon geht nicht hervor, ob das über einen längeren Zeitraum geschah, aber dass er nicht von einer einmaligen Speisung nach seiner langen Askese, bei der er nach eigenen Aussagen am Bauch seine Wirbelsäule ertasten konnte und seine Augen wie ein ausgetrockneter Brunnen tief in den Augenhöhlen lagen, kann als gesichert gelten.

Selbstverständlich ist die Kommunikation zwischen beiden nicht überliefert. Aber vermutlich wird Sujata Siddharta gefragt haben, warum er diese Askese auf sich genommen hat.

Verschiedene Autoren nehmen beim späteren Buddha einen Bezug auf den mit seiner Geburt verbundenen Tod seiner Mutter an, was psychologisch Sinn macht. Die in dieser Geschichte unterstellte Entbindung durch Kaiserschnitt ist eine nicht gesicherte Hypothese.

Dass es bereits im Altertum diesen operativen Eingriff gab, ist bekannt, auch dass er praktisch nur bei Herrscherfamilien vorkam, daher „Kaiser“schnitt. Für Siddhartas Geburt durch Kaiserschnitt spricht unter anderem die Tatsache, dass die buddhistische Tradition berichtet, der Prinz Siddharta sei nicht „auf natürlichem Wege“ geboren worden, sondern sei seiner Mutter „aus der Seite entstiegen“. Diese starb wenige Tage nach Siddhartas Geburt.

Auffällig ist auch, dass der Buddha, wann immer er vom Leiden sprach, damit begann, dass er sagte: „Geburt, Alter, Krankheit und Tod sind Leiden...“. Wir denken bei Geburt nicht in erster Linie an Leiden und würden diese bei der Aufzählung leidvoller Situationen sicher nicht an erster Stelle nennen. Ich spekuliere daher, dass der junge Siddharta, seit er vom Zusammenhang seiner Geburt mit dem Tod seiner Mutter wusste, sich fragte, inwieweit er die Ursache ihres Todes war.

Möglicherweise kamen ihm Schuldgefühle, evtl. kam auch daher eine Abneigung gegen seinen Vater und die Staatsraison, die für diesen über alles ging. Man kann sich auch fragen, warum Siddhartas Mutter Maja kurz vor der Geburt mit einer Kutsche ins Nachbarland zu ihren Eltern aufbrach. Die misserablen Straßen im alten Indien und eine ungefederte Kutsche sind mit Sicherheit nicht gut für eine Hochschwangere. Möglicherweise war sie auf der Flucht vor Suddhodana, dem die Geburt eines Sohnes wichtiger war als das Leben seiner Frau, und der daher den damals oft für die Mutter tödlich verlaufende Geburt durch Kaiserschnitt wollte. Sollte es so gewesen sein, dann hätten die Häscher Suddhodanas die fliehende Maja unterwegs eingeholt, die Frau floh aus der Kutsche und hielt sich krampfhaft an einem Baum fest, während der herbeigeeilte Leibarzt des Königs den für die Mutter letztendlich tödlichen Kaiserschnitt durchführte.

Wäre ich auf diese Art damals geboren, hätte ich auch über den Kreislauf des Leidens aus „Geburt, Alter Krankheit und Tod“ reflektiert, hätte nach einer Alternative gesucht und wäre früher oder später aus dem Hause Suddhodanas in die Hauslosigkeit geflohen, um nicht genau so zu werden, wie der Vater.


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