nacherzählt von Urgyen Sangharakshita
Abgesehen von den Anleitungen, die das Mahayana durch die Lehre von den sechs paramitas dem spirituell Übenden an die Hand gibt, werden Sie manchmal davon hören, dass das Hinayana etwas für Menschen ist, die bereit sind, sich durch eigene Bemühung selbst zu helfen, dagegen das Mahayana für Menschen ist, die alles von den Bodhisattvas für sich getan haben wollen. Nach dieser Denkweise ist das Hinayana der „kleine Weg“, der so genannt wird, da er sich an eine elitäre Gruppe wendet. Hingegen ist das Mahayana der „große Weg“, der sich an die Massen richtet. Auch diese Unterscheidung ist sowohl grob als auch irreführend. Als eine universelle Religion richtet sich der Buddhismus nicht an eine bestimmte Gruppe oder Gemeinschaft, sondern potentiell an jeden Menschen. Da sowohl das Hinayana als auch das Mahayana Stufen in der Entwicklung des Buddhismus sind, richten sie sich beide an alle Menschen, so dass wir sie in dieser Hinsicht nicht trennen können. Gleichzeitig gibt es einen Unterschied, der vielleicht mit Hilfe einer Parabel deutlich wird.Angenommen, es herrscht irgendwo eine schreckliche Hungersnot, wie es sie noch immer in Afrika gibt. Die Menschen sind ausgemergelt und dürr, und es gibt schreckliches Leiden. In einer bestimmten Stadt jenes Landes, das von der Hungersnot heimgesucht wurde, leben zwei Männer, der eine alt und der andere jung. Wobei jeder von ihnen eine riesige Menge Korn besitzt - ausreichend, um alle Menschen satt zu machen. Der alte Mann heftet außen an seine Tür eine Nachricht, auf der zu lesen ist: 'Jedem, der kommt, wird Essen gegeben.' Aber nach diesem Satz folgt eine lange Liste von Bedingungen und Regeln. Wer etwas haben möchte, muss zu einer bestimmten Zeit kommen, auf die Minute genau. Es müssen Gefäße bestimmter Form und Größe mitgebracht werden. Diese Gefäße müssen in bestimmter Weise gehalten werden, der alte Mann muss mit einer bestimmten Formulierung um Nahrung gebeten werden - und das auch noch in einer altertümlichen Sprache. Nicht viele Menschen sehen diese Notiz, denn der alte Mann lebt in einer abgelegenen Straße. Und von jenen, die die Notiz bemerken, kommen einige und erhalten etwas, doch andere werden von der langen Liste der Regeln abgestoßen. Wenn Essen nur unter diesen Bedingungen erhältlich ist, ist es müheloser zu hungern. Als der alte Mann gefragt wird, warum er so viele Regeln aufgestellt habe, so sagt er: 'So war es zur Zeit meines Großvaters, wenn eine Hungersnot herrschte. Was für ihn gut war, ist auch gut für mich. Warum sollte ich es ändern?' Er fügt noch hinzu, dass die Menschen, wenn sie wirklich Nahrung brauchten, auch die Regeln beachten würden. Wenn sie die Regeln nicht beachten wollten, könnten sie auch nicht wirklich hungrig sein.
Zur gleichen Zeit packt sich der junge Mann einen großen Sack Korn auf den Rücken und geht von Tür zu Tür, um es an die Hungrigen zu verteilen. Sobald ein Sack leer ist, eilt er nach Hause, um einen neuen zu holen. Auf diese Weise verteilt er einen großen Teil seines Korns in der ganzen Stadt. Er gibt allen, die fragen. Er ist so eifrig dabei, den Leuten zu helfen, dass es ihm nichts ausmacht, in die ärmsten, dunkelsten und schmutzigsten Hütten zu gehen. Es kümmert ihn nicht, an Orte zu gehen, wohin angesehene Menschen niemals gehen würden. Sein einziger Gedanke ist, dass niemand hungern solle. Manche Leute sagen, dass er sich zu sehr einmische, andere, dass er sich übernähme. Einige Leute gehen sogar so weit, zu sagen, dass er nur versuche, das Gesetz des Karma zu beeinflussen. Andere beschweren sich, dass eine Menge Korn verschwendet würde, denn die armen Leute nähmen mehr als sie brauchten. Aber der junge Mann kümmert sich nicht darum. Er sagt, dass es besser sei, etwas Korn zu vergeuden, als dass irgend jemand verhungern müsse.
Eines Tages geschieht es, dass der junge Mann am Haus des alten Manns vorbeikommt. Der alte Mann sitzt draußen und raucht friedlich seine Pfeife, denn im Moment ist nicht die Zeit der Kornausgabe. Er sagt zu dem jungen Mann, der vorbeieilt: „Du siehst müde aus. Warum nimmst du alles nicht etwas leichter?“
Der junge Mann antwortet ziemlich außer Atem: „Ich kann nicht anders. Es gibt immer noch viele Menschen, die noch nichts bekommen haben.“
Der alte Mann schüttelt verwundert seinen Kopf: „Lass sie doch zu dir kommen! Warum solltest du zu ihnen eilen?“
Aber der junge Mann, ungeduldig, da er weitergehen möchte, sagt: „Sie sind zu schwach, um zu mir zu kommen. Sie können nicht einmal mehr laufen. Wenn ich nicht zu ihnen gehe, werden sie sterben.“
„Pech gehabt,“ sagt der alte Mann. „Sie hätten früher kommen sollen, als sie noch kräftiger waren. Wenn sie nicht vorausdenken können, so ist das ihr Fehler. Warum sollte es dich kümmern, wenn sie sterben?“
Aber zu der Zeit ist der junge Mann bereits schon außer Hörweite auf dem Weg nach Hause, um einen neuen Sack zu holen. Der alte Mann steht auf und heftet eine neue Notiz neben die erste: „Regeln für das Lesen der Regeln.“
Zweifellos haben Sie bereits den Sinn der Parabel erkannt. Der alte Mann ist der Arhat, der das Hinayana repräsentiert, und der junge Mann ist der Bodhisattva, der das Mahayana repräsentiert. Die Hungersnot ist die menschliche Lage, die Menschen der Stadt sind alle lebenden Wesen und das Korn ist der Dharma, die Lehre. So wie im Prinzip beide Männer, der alte und der junge, gewillt sind, an jeden Korn zu geben, so sind sowohl das Hinayana als auch das Mahayana universell, das heißt für alle da. Aber in der Praxis sehen wir, dass das Hinayana bestimmte Regeln auferlegt. Um Buddhismus in der Hinayana-Tradition zu praktizieren, muss man, auch heute noch - wenn man es wirklich ernst meint - sein Haus verlassen und ein Mönch oder eine Nonne werden. Man muss genau so leben, wie die Mönche und Nonnen zu Zeiten des Buddha in Indien gelebt haben. Und man darf nichts ändern. Das Mahayana hat keine solchen Bedingungen. Es macht den Dharma allen Menschen zugänglich - wo und wie sie auch sein mögen - da es ihm ausschließlich um das Wesentliche geht.
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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.